Publikationen / Mitteilungen / Mitteilungen Nr. 170

Gegen den westlichen Nonsens - Regine Hildebrandt

Laudatio auf Regine Hildebrandt zum Fritz-Bauer-Preis. In: Mitteilungen Nr. 170 (Heft 2/2000), S. 27/28

Liebe Regine Hildebrandt,

„Muß ein guter Mensch auch ein guter Politiker sein?“ So fragte eine Berliner Zeitung vor drei Jahren. Es ging um Sie. Doch die Zeitung fand keine eindeutige Antwort. Auf der Einladung zur heutigen Preisverleihung werden Sie gekennzeichnet als politische Gesinnungsethikerin frei nach dem Grundsatz: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“

1. Entschieden aus Verant­wor­tung

Fürst Bismarck hat einmal gesagt: „Mit der Bergpredigt kann ich nicht regieren“. Die Peanuts-Banker von heute aus Frankfurt pflichten ihm bei, wenn sie sagen: „Mit der Bibel können wir keine Kreditwürdigkeit eines Kunden überprüfen“. Helmut Schmidt hatte vor Jahren den NATO-Doppelbeschluß so verteidigt: „Die Friedensbewegten sind emotional außerordentlich betroffen, doch das Parlament vertritt eine rationale Sicherheitspolitik. Der einzelne Christ orientiert sich an der Gewaltfreiheit der Bergpredigt, wer aber politische Verantwortung für andere trägt, muß auch den Einsatz von Verteidigungsmitteln in Erwägung ziehen. Theologen können sich auf die Aufrichtigkeit ihrer Gesinnung berufen, Politiker dagegen haben die Folgen für andere zu verantworten und nicht nur die Lauterkeit ihrer persönlichen Motive“.

Finden Sie sich in dieser Unterscheidung, die auf Max Weber zurückgeht, wieder? Lassen Sie sich in solche Kategorien pressen? Hoffentlich nicht. Denn Webers Unterscheidung hat eine politische Wirkungsgeschichte gehabt, die verheerend ist. Er spricht von zwei getrennten Sphären – vom Erfahrungswissen und von normativen Vorstellungen, von Tatsachenurteilen und Werturteilen, von dem, was ist, und von dem, was sein soll. Entsprechend unterscheidet er eine Gesinnungsethik von einer Verantwortungsethik, dem Wert einer Handlung nach der Absicht und nach den voraussehbaren Folgen. Die Ethik der Bergpredigt leite zur Gewaltlosigkeit an, der Politiker dagegen müsse die Ursachen der Gewalt und deren Folgen bedenken, folglich mit den Mitteln der Gewalt die Gewalt eindämmen.

Doch Weber selbst hat bereits diesen Dualismus getrennter Sphären zurückgenommen. Der verantwortungsethisch Handelnde ist nicht: gesinnungslos, der gesinnungsethisch Handelnde handelt aus ethischer Verantwortung. Der Erfolgswert kann nicht gegen den Gesinnungswert ausgespielt werden. Auch der verantwortungsethische Realpolitiker kann seine Ideale nicht preisgeben. Niemand erreicht das Mögliche wenn er nicht nach dem Unmöglichen ausgreifen würde.

2. Ostdeutsche Frau

„Die ostdeutsche Mutter Courage“ werden Sie von einer Berliner Zeitung genannt, deren Journalist vermutlich das Brecht-Stück nicht kennt. „Die populärste ostdeutsche Politikerin“ schreibt eine seriöse Berliner Zeitung. „Die populärste märkische Politikerin“, „die Identifikationsfigur der märkischen SPD“, sagt man in Brandenburg. Sie haben auch die Herzen nicht aller, aber vieler Westdeutschen gewonnen. Wie haben Sie es erreicht, für Ostdeutschland zu stehen, für den Typ eines Politikers, einer Politikerin aus dem Osten? Sie sind Berlinerin mit einer unverkennbaren Sprache – ohne Wenn und Aber, mit einem Ja, hinter dem sich kein Nein versteckt, und mit einem Nein, das, wenn man lange genug hinhört, nach einem möglichen Ja schmeckt. Wenn Ihre Sprache so erfrischend schnoddrig wird, sind Sie besonders verletzbar. Kann das sein?

Sie gelten als die ostdeutsche Frau. In Ihnen leuchtet etwas auf von dem, was eigentlich zusammengehörte, obwohl es mehr und mehr auseinanderfällt: Daß die Wertschöpfung in Ostdeutschland jährlich nur die Hälfte der Einkommen ausmacht, ist eine fortwährende Demütigung und Verletzung der Bevölkerung in den neuen Bundesländern. Und daß die neuen Bundesländer teilweise zum Versuchsfeld einer Marktwirtschaft ohne Adjektiv gemacht wurden, ist der entscheidende Bruch des Gesellschaftsvertrags der Nachkriegszeit. In ihrem sozialen Engagement und in der Sozialpolitik stellen Sie die unvollendet gebliebene Vereinigung dar: Sozialpolitik ist nicht das Lazarettzelt eines entfesselten Kapitalismus, sondern die Voraussetzung einer leistungsfähigen Wirtschaft. Sie haben in Ihrem Wirkungsbereich die Polikliniken gerettet, Ihren Lehrerinnen und Lehrern die Gleichstellung und Autonomie der Frauen zugetraut und Sie haben die Arbeit finanziert und nicht das Nichtarbeiten. In Ihnen steckt noch viel von dem Stolz der ersten frei gewählten Regierung der DDR, daß von den Menschen in den neuen Bundesländern nicht nur Schrott in die Vereinigung eingebracht worden ist, sondern die Sehnsucht nach persönlicher Freiheit und Wohlstand, nach sozialer Demokratie und leistungsfähigen Unternehmen.

3. Super­scha­rfer Blick

Für den politischen Nonsens aus dem Westen haben Sie einen superscharfen Blick. Eine Gesundheitsreform, die sich ausschließlich an dem Maßstab orientiert, die Lohnnebenkosten zu senken, geht Ihnen nicht in den Kopf. Eine Arbeitspolitik, die den schwarzen Peter der Leistungen und Lasten vom Bund auf die Länder, von den Ländern auf die Gemeinden und von diesen auf die Arbeitsverwaltung weiterwälzt, halten Sie für potenzierten Schwachsinn. Die jungen Herren aus Essen, die zu Abteilungsleitern bei Karstadt-Ost aufrücken und 50jährige qualifizierte Frauen von ihrem Posten verdrängen, die dann die Regale auffüllen, würden Sie am liebsten an die Ruhr zurückschicken. Sie wünschen sich taube Ohren, wenn Sie den sächsischen Ministerpräsidenten dozieren hören, daß die Arbeitslosenquote in Dresden unter die in Saarbrücken sinken würde, wenn die ostdeutschen Frauen nicht eine so hohe Erwerbsneigung hätten. Wie halten Sie das aus, wenn jetzt eine 25jährige Informatikstudentin nüchtern kalkuliert: Bevor ich mich in den IT-Männerclub hineinboxe oder arbeitslos werde, breche ich lieber gleich das Studium ab und heirate ich einen Devisenhändler.

Sie haben die kreative Phantasie und finden die Kraft, dem westdeutschen Nonsens einen Namen zu geben: Das Sparen des Bundesfinanzministers ist Umverteilung – von den öffentlichen Haushalten zu den privaten, von den abhängig Beschäftigten zu den Selbständigen, von den Investoren zu den Geldvermögenseigentümern, von den Kommunen und Wohlfahrtsverbänden zum Bund, von den Belegschaften in den Firmen zu den Anteilseignern an den Börsen.

Sie bieten gesellschaftliche Intelligenz gegen die Dummheit des Marktes und seiner angeblich unbestechlichen Signale. Sie rechnen nach, daß es keine Sozial- oder Arbeitslosenfalle gibt, als müssen man den Arbeitslosen Beine machen, indem man ihre Sozialhilfe kürzt. Sie weigern sich, jenen sozialdemokratischen Zynismus nachzuplappern, von unten her Druck zu machen oder am Ende der Röhre zu kurieren, weil durch derartige Zirkusvorstellungen die Massenarbeitslosigkeit nicht beseitigt wird. Durch einen Sog von vorn, bei niedrigen Zinsen, die Spekulanten entmutigen und Investoren anregen, durch die Belebung der Güternachfrage, durch ökologischen Umbau, durch den Bau kinderfreundlicher Wohnungen und Städte, durch personennahe Dienste im Krankenhaus, in der Schule und in den Kindertagesstätten, im Bereich der Kunst und Musik, im kulturellen Bereich, durch eine Kombination von öffentlichen Aufträgen und privater Ausführung sehen Sie den gleitenden Wechsel von der Industriegesellschaft in die kulturelle Dienstleistungsgesellschaft gelingen.

Befreiend wirken Ihre messerscharfen Urteile: Wenn die Mächtigen auf der Bühne vor dem Volk daherstolzieren, wenn die Kaiser in ihren neuen Kleidern glänzen, bringen Sie es fertig, den Schleier zu zerreißen, den öffentlichen Schein wegzunehmen und zu rufen: „Die haben ja gar nichts an“.

4. Kein Gedrängel in der Mitte

Nach dem Ausscheiden aus der Regierung, und nachdem Sie Ihr Landtagsmandat niedergelegt haben, wurden Sie von einem Journalisten gefragt, ob Sie daran dächten, zur PDS zu wechseln. Natürlich nicht. Wie man in meiner ursprünglichen Heimat, dem Ruhrgebiet, nicht aus der SPD und nicht aus der Kirche austritt. Aber der SPD ist eine allzu große Distanz Ihnen gegenüber nicht zu wünschen.

In der alten Bundesrepublik hat die SPD nur einmal eine Bundestagswahl gewonnen. Sonst war sie immer zweite Wahl. Sie kommt in der Regel dann zum Zug, wenn die CDU programmatisch nichts zu bieten hat und personell ausgeblutet ist. Das könnte nach der Vereinigung anders sein, denn rechnerisch gäbe es eine mehrheitsfähige Linke. Wer transplantiert der SPD die Schere in den Kopf, daß die Sammlung der Linken nicht sein darf, während die Flanke nach rechts offen ist bis jenseits des demokratischen Randes? Statt dessen balgt die SPD sich mit der CDU in der neuen Mitte, übersetzt: in der innovativen Mitte, um die beste CDU zu werden, die es je gab. Die SPD wird nach dem Absturz Helmut Kohls und seiner Partei stromlinienförmig auf den Kanzler Schröder zugeschnitten, Parteiprogramme fliegen in den Mülleimer, der Machterhalt hat höchste Priorität. Welchen Sinn macht das?

In einer Zeit, da der Anteil der Arbeitseinkommen am Volkseinkommen tendentiell sinkt, der Anteil der Kapitaleinkommen dagegen steigt, da die Einkommen in den einzelnen Haushaltsgruppen sich zunehmend spreizen, da die Ungleichheit der Einkommens- und vorallem der Vermögensverteilung wächst, sinniert die SPD über einen neuen Begriff von Gerechtigkeit nach: Man dürfe sich nicht an der Gleichheit festbeißen, müsse vielmehr aktuelle Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten hinnehmen, um in der Zukunft das Wohlstandsniveau aller zu erhöhen. Ist die neue Gerechtigkeit etwas anderes als die Kapitulation der Demokratie vor der Kaufkraft? Menschenrechte im Schatten des Marktes? Nein Danke, liebe SPD!

Ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit haben einen biblischen Grund und die Logik der Menschenrechtsbewegung: Richte die Kranken, die Schwachen, die Fremden auf! Israel, denk daran: Auch Du warst ein Fremder und Sklave im Arbeitshaus Ägypten, bevor Gott Dich daraus befreit und zu einem Volk gemacht hat. Die US-amerikanischen Bischöfe haben in einem Wirtschaftshirtenbrief so formuliert, daß die Gerechtigkeit einer Gesellschaft daran gemessen werden kann, wie diese ihre Mitglieder am Rand behandelt. Beteiligung ist der neue Name für Gerechtigkeit: Beteiligtsein an der gesellschaftlich organisierten Arbeit, um so einen fairen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum zu gewinnen. Beteiligt sein ist alles!

Liebe Frau Hildebrandt, Sie können Vogelstimmen nachahmen. Vor einiger Zeit wurden Sie nach dem Gesang des Rotkehlchens gefragt. Den könne man nicht nachahmen, sagten Sie, weil es so singt, als ob es den Ton gerade nicht trifft: ein schöner Flöter, der auch länger singt. Sind Sie diese unnachahmliche Sängerin? In der letzten Woche, als ich an einem Abend sehr spät einige Interviews von Ihnen gelesen und in Internet herumgestöbert hatte, träumte ich nachts, ich führe mit Ihnen auf einer Dampflok in voller Fahrt durch die brandenburgische Ebene. Sie standen hinten am Kohlentender, mit einem kohleverstaubten Gesicht und beobachteten die Strecke, ohne durch die Seitenfenster zu schauen, sondern mit einem Blick ganz geradeaus, als wäre der Dampfkessel aus Glas und der Dampf durchsichtig. Ich wunderte mich, daß Sie nicht an den Stangen und Rädern vorne herumhantierten, sondern von hinten wie mit einer Fernbedienung alles regelten. Daß Sie mit allen Fahrgästen heil und wohlgemut am Ziel ankommen, davon war ich überzeugt. So wünsche ich Ihnen, daß Sie Ihrem Lebensentwurf treu bleiben und mit Ihren Freundinnen und Freunden sehr, sehr viel davon verwirklichen.

Friedhelm Hengsbach

nach oben