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Europa braucht den Laizismus. Identi­täts­po­litik, Ethnische Differenz und Meinungs­frei­heit

01. September 2000

Fortsetzung

Mitteilung Nr. 171, S. 58-60

Auf welche Weise können die Grundwerte Freiheit und Gleichheit in einem immer größer werdenden europäischen Raum mehr Beachtung finden? Diese Frage steht mit dem laizistischen Ideal auf dem Spiel, das sich nicht einfach auf einen juristischen Rahmen reduzieren lässt und das zunehmend an Aktualität gewinnt in einer Welt, die von den Forderungen einer ethnischen Identitätspolitik auseinander gerissen und von klerikaler Restauration und kommunitaristischen Abwegen bedroht wird. In Frankreich werden angesichts der neuen religiösen Manifestationen – und im Namen der europäischen Harmonisierung – Forderungen nach einer „Öffnung“ und „Neudefinition“ des Begriffs Laizismus laut: In Wahrheit aber sollen die Beziehungen zwischen Politik, Religion und Kultur so verändert werden, dass die Neutralität des öffentlichen Raumes nicht länger gewährleistet ist.
Freilich sind diese das laizistische Ideal tangierenden Fragen nicht spezifisch französisch, sondern sie betreffen ganz Europa. So erhitzte etwa 1995 der so genannte Kruzifixstreit die deutschen Gemüter. Am 10. August 1995 erklärte das Bundesverfassungs-gericht in Karlsruhe eine Regelung des Landes Bayern, nach der die staatlichen Schulen in jedem Klassenzimmer ein Kreuz aufzuhängen haben, für verfassungswidrig. Der Vatikan zeigte sich empört. Laizistische Kreise hatten sich gegen das obligatorische christliche Symbol in Räumen ausgesprochen, die doch grundsätzlich für alle Kinder gedacht sind, und hatten betont, dass in Umgebungen, in denen die Allgemeinheit angesprochen werde, Neutralität von eminenter Wichtigkeit sei. Helmut Kohl hatte dagegen unterstrichen, dass das Christentum ein konstitutives Element der deutschen Kultur darstelle und deshalb die Kreuze nicht entfernt werden dürften. Eine solche gezielte Begriffsverwirrung zwischen Kultur und Religion tut all denen Gewalt an, die anderen spirituellen Optionen folgen und sich durch eine diskriminierende und jeder Universalität Hohn sprechende Symbolik als Bürger zweiter Klasse abqualifiziert fühlen müssen.

Weder Privileg noch Diskri­mi­nie­rung

Derartige Fragen, ja Polemiken tauchen mittlerweile in ganz Europa auf. Als der Vatikan forderte, den religiösen Autoritäten in Polen und Slowenien (beide Länder haben die Trennung von Kirche und Staat anerkannt) ein gewisses Kontrollrecht über die Lehrpläne einzuräumen, kam es zu heftigen Debatten. Dabei geht es um politische wie philosophische Aspekte. Um das Gemeinsame zu fördern und uneingeschränkte Gleichheit, namentlich auf spirituellem Gebiet, zu sichern, muss die strikte Trennung zwischen dem Staat und allen Kirchen eingehalten werden. Nur so können sich Gläubige und Freidenker ebenso wie die Anhänger verschiedener Religionen gegenüber der öffentlichen Gewalt als Gleiche anerkennen: Denn die im Bemühen um Universalität begründete Glaubensneutralität erlaubt es ihr, sich tatsächlich als Vertreterin der Allgemeinheit zu behaupten, ohne den einen zu bevorzugen und den anderen zu benachteiligen. Der Laizismus stellt sich also nicht etwa gegen die Religion in ihrer spirituellen Dimension, sondern gegen den Zugriff der Kirche auf die öffentliche Sphäre. Er eint, ohne zu binden. Die laizistische Eintracht hebt die Menschen über jeglichen Partikularismus hinaus, ohne die jeweiligen Besonderheiten zu negieren.
Laizismus bedeutet, dass sich die politische Gemeinschaft auf das ganze Volk – ohne Privileg und ohne Diskriminierung – bezieht. Und so erst verdient die Republik als res publica ihren Namen – als das allen gehörende, gemeinsame Gut. Der Klerus einer bestimmten Glaubensrichtung wird so lange nicht angefochten, wie er sich darauf beschränkt, die Glaubensangelegenheiten für diejenigen zu verwalten, die ihm in freier Entscheidung seine Rolle zuerkennen. Sobald er aber versucht, über alle Menschen Macht auszuüben und die öffentliche Gewalt zu seinem Vorteil zu gebrauchen, vergeht er sich an denen, die anderen spirituellen Optionen folgen. Was den Begriff der Kultur betrifft, so muss seine Ambivalenz zum einen explizit gemacht, gleichzeitig aber auch aufgegeben werden. Als „dynamischer“ Kulturbegriff deckt er die Gesamtheit des ästhetischen und geistigen Erbes der Menschheit ab, aus dem sich unsere Bildung speist. Als „statischer“ Kulturbegriff bezieht er sich auf die Bräuche, Vorstellungen und rituellen Handlungen einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft und spiegelt die Machtbeziehungen wider, die eine bestimmte Tradition ausgebildet hat. Freiheit erweist sich nun in der Möglichkeit, eine kritische Distanz zu dieser Tradition einzunehmen. Der Laizismus verlangt nicht nach abstrakten und wirklichkeitsfremden menschlichen Individuen: Er weigert sich nur, Machtbeziehungen als „kulturell“ und respektabel zu betrachten, bloß weil sie im Gewand von Brauch und Sitte auftreten und so im Lauf der Zeit wie Merkmale einer „kollektiven Identität“ aussehen.
Ein bekanntermaßen kontroverses Beispiel aus Frankreich mag diese Unterscheidung illustrieren: Viele junge Musliminnen freuen sich, dass „das Gesetz der Väter“ an den französischen Gymnasien nicht gilt, und gehen ohne Kopfbedeckung in die Schule. Soll ihnen die Freiheit verwehrt werden, die laut Gesetz an öffentlichen Schulen jede religiöse, politische und Geschlechterdiskriminierung untersagt? Was zählt das Recht des Individuums, was das der Gemeinschaft? Natürlich gibt es auch junge Frauen, die gern – und freiwillig – mit Schleier in die Schule gehen wollen. In diesem Zusammenhang sei an die eigentlichen Anforderungen an die Schule erinnert, die als öffentlicher Raum sowohl dem Druck bestimmter Gruppen entzogen sein muss, als auch jeden Angriff auf ihre Neutralität zurückzuweisen hat. Um eine Stigmatisierung zu vermeiden, müssen diese Forderungen bei allen religiösen Symbolen greifen: vom Kreuz der Christen über die Kippa der Juden bis zum Schleier der Musliminnen. Damit unterbleiben auch unilaterale Maßnahmen, die von der betroffenen Gruppierung zu Recht als Diskriminierung und Ausgrenzung wahrgenommen werden.
Gewissensfreiheit und rechtliche Gleichheit aller spirituellen Optionen – ob sie nun einen religiösen Glauben implizieren oder nicht – zielen jenseits von Unterschieden auf eine gemeinsame Welt ab, die eint, ohne zu binden, sowie auf die Emanzipation der Urteilskraft jedes Einzelnen, in der die moralische und geistige Autonomie der Menschen begründet ist. All diese Prinzipien zusammen schaffen in der laizistischen Republik die Bedingungen für eine authentische Eintracht, die Unterschiede zulässt und weder Meinungsverschiedenheiten noch Debatten ausschließt, sondern vielmehr zur Transzendierung der Unterschiede einlädt, und zwar im starken Bewusstsein vom Wert des gemeinsamen öffentlichen Raums, der die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit erst möglich macht.
Drei Wege für einen Pluralismus der spirituellen Optionen sind denkbar: erstens der offene Konflikt, der als Religionskrieg ausbricht, zweitens die scharf abgegrenzte Koexistenz, in der verschiedene Gemeinschaftsformen wie im Mosaik oder in einer „Demokratie der Identitäten“ nebeneinander bestehen, und drittens der gemeinsame öffentliche Raum der laizistischen Republik, der Vielfalt zulässt, ohne sich ihr zu entfremden, und der den individuellen oder kollektiven Ausdruck spiritueller und religiöser Partikularismen rechtlich als etwas Privates behandelt.
Der institutionelle Laizismus plädiert für ein allgemein gültiges Gesetz, das die Menschen ihre ethischen Überzeugungen und ihren spirituellen Weg frei wählen lässt, und für ein Bildungssystem, das eine universelle Kultur vermittelt und die Entwicklung der eigenen Urteilskraft gezielt fördert. Das republikanische Recht und ein ausdrücklich laizistisches Unterrichtssystem sind in dieser Hinsicht von entscheidender Bedeutung.
Die europäischen Länder sind, so unterschiedlich ihre jeweilige Geschichte auch verlaufen sein mag, auf dem Weg zu diesem Ideal schon relativ weit gekommen – allen voran Frankreich. Und doch lässt auch hier die Umsetzung des laizistischen Ideals bisweilen noch zu wünschen übrig. Man denke nur an die Subventionierung von konfessionellen Privatschulen durch den französischen Staat.
Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass in überwiegend katholischen Ländern weitgehend eine Laizisierung, als Trennung zwischen der öffentlichen Gewalt und allen Kirchen, erfolgt ist, während in protestantisch dominierten Ländern im Zuge einer Säkularisierung die reformierten Kirchen in die Organisation des sozialen Lebens und in die politischen Institutionen eingebunden worden sind. In überwiegend katholischen Ländern entwickelte sich der Kampf für die Freiheiten zur direkten Konfrontation mit den kirchlichen Autoritäten, die diese Freiheiten beschneiden wollten. Die laizistische Trennung förderte sowohl die Glaubens- und Gewissensfreiheit als auch die prinzipielle Gleichheit aller Menschen, der Gläubigen wie der Nichtgläubigen. Sie sorgte außerdem für eine Harmonisierung zwischen dem öffentlichen Charakter der politischen Macht und dem als Gesamtheit betrachteten Volk, indem sie institutionelle Privilegien – etwa durch eine konfessionelle Kennzeichnung der öffentlichen Sphäre – kategorisch ablehnte.
Im Wesentlichen wird die Glaubens- und Gewissensfreiheit auch in protestantisch dominierten Ländern respektiert. Doch unterscheidet sich die dortige Situation merklich von der in den laizistischen Ländern. So ist diese Freiheit etwa durch die Strafbarkeit blasphemischer Äußerungen oder auch durch die manchen Kirchen eingeräumte Kontrolle über Lehrpläne eingeschränkt. Mancherorts hat sich, wie die in Deutschland, Dänemark oder der Schweiz vom Staat erhobene Kirchensteuer belegt, ein öffentliches Privileg der Religionen fest etabliert. Auch solche positiven Diskriminierungen verletzen das Gleichheitsprinzip. Der Umgang mit der Frage des Schwangerschaftsabbruchs im westlichen Teil Deutschlands und einige von religiösen Autoritäten inspirierte Zensurmaßnahmen weisen ebenfalls in diese Richtung.
Für Österreich sieht Paragraf 108 des Strafgesetzbuchs Sanktionen gegen jegliche „Herabwürdigung religiöser Lehren“ vor. Unter Berufung auf diesen Paragrafen hatte die Diözese Innsbruck im Jahre 1986 gerichtliche Schritte gegen die Aufführung eines auf Oskar Panizzas „Liebeskonzil“ basierenden Films eingeleitet. Nachdem der Film auf Anordnung des Innsbrucker Gerichts beschlagnahmt worden war, wurde das Urteil vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg bestätigt. Die Richter hatten nämlich den Angriff auf eine religiöse Überzeugung mit einem Eingriff in die Rechte anderer gleichgesetzt, wobei sie die gegenüber der betreffenden Überzeugung vorgebrachte Ironie oder Kritik zweifelsohne als eine persönliche Beleidigung werteten. Wer Menschen das Recht garantiert, dass ihre religiösen Überzeugungen nie und nirgends in Frage gestellt werden dürfen, der öffnet einer moralisch begründeten Gesellschaftsordnung Tür und Tor. Seinerzeit hatte sich Pierre Bayle (1647 – 1706) dagegen stark gemacht, dass die Blasphemie zum Straftatbestand erklärt würde, und in diesem Zusammenhang ins Feld geführt, dass die Blasphemie nur denjenigen skandalisiere, der die verhöhnte Realität verehre.
Derselbe Europäische Gerichtshof hatte im Urteil „Handyside gegen das Vereinigte Königreich“ vom 7. Dezember 1976 entgegengesetzt entschieden und befunden, dass die Meinungsfreiheit auch für solche Ideen gelte, die Anstoß erregten. Die wechselhafte Haltung der europäischen Institutionen macht Unsicherheiten sichtbar, und vielleicht auch wechselnde Kräfteverhältnisse in der Jurisprudenz. Der Entwicklung der Rechtsprechung in Straßburg und Luxemburg kommt im Rahmen der europäischen Integrationspolitik eine entscheidende Bedeutung zu.
Im Vergleich dazu ist der Laizismus von schöner Eindeutigkeit: Er legt ausdrücklich fest, dass Freiheit nicht von einer mehr oder weniger willkürlichen Macht zuerkannt und bemessen wird, sondern als etwas Ursprüngliches zu gelten hat. Indem der Europäische Gerichtshof religiösen Pressuregroups Recht gibt, steht eine Revision dieser Ursprünglichkeit im Raum, da nun er es übernimmt, Freiheiten zu- oder abzuerkennen – was übrigens im Hin und Her seiner Entscheidungen zum Ausdruck kommt.

Der laizis­ti­sche Staat als Garant der Freiheit

Das zweite Kriterium beim Vergleich zwischen Säkularisierung und Laizisierung besteht in der Übereinstimmung zwischen dem allgemeinen Charakter der öffentlichen Gewalt und der unteilbaren Gesamtheit des Volkes. Nun führt aber der Fortbestand von konfessionell geprägten politischen Institutionen zu einer impliziten psychologischen und moralischen Diskriminierung jener Bürger, die einer anderen oder auch überhaupt keiner Konfession angehören. Sie können sich in Symbolen und Praktiken, die für sie keinerlei Bedeutung besitzen, nicht wiedererkennen. In der Geschichte hat das immer wieder dazu geführt, dass die Vertreter des katholischen Glaubens insbesondere dann für die Trennung von Kirche und Staat kämpften, wenn sich eine andere „Staatsreligion“ durchsetzte: der calvinistische Protestantismus in den Niederlanden des 19. Jahr-hunderts oder die lutherische Kirche als Staatskirche in Dänemark.
Im heutigen Deutschland beispielsweise kommen die beiden großen christlichen Kirchen in den Genuss von Kirchensteuer (8 Prozent der Einkommensteuer). Sie greifen auf vielerlei Weise ins öffentliche Leben ein und sind insbesondere in Fragen der Medienaufsicht aktiv. Nun sind aber längst nicht alle Deutschen gläubige Christen. Ohne den traditionellen katholischen Klerikalismus fortzuschreiben, weist die Säkularisierung der Kirchen dennoch Ähnlichkeiten mit ihm auf, insbesondere durch die Inanspruchnahme der öffentlichen Gewalt und die institutionelle Privilegierung von Glaubensüberzeugungen, die in Wahrheit nur für einen Teil der Bevölkerung Gültigkeit haben. Somit ist der Gleichheitsgrundsatz in Gefahr.
Die strikte Trennung von Staat und Kirche setzt sich allmählich immer weiter durch. Und so ist es nicht legitim, sich in diesem Zusammen-hang nur auf Europa zu berufen. In Deutschland, Großbritannien, Belgien, ja sogar in Spanien erheben sich Stimmen, die genau in dem Moment eine Entwicklung in Richtung einer Laizisierung á  la franá§aise fordern, da sich in Frankreich andere Stimmen für die umgekehrte Entwicklung aussprechen.
In Portugal fordert Republica Laicidade die Aufhebung des von Salazar ererbten Konkordats. Das belgische Centre d‘ Action Laá¯que verkündet – obwohl es selbst die „laizistische Gemeinschaft“ verwaltet – gebetsmühlenartig, dass es die institutionelle Trennung anstrebe. In Deutschland fordern mehrere Organisationen, darunter der Bund gegen Anpassung (und die Humanistische Union – Anm. d. Red.), die Aufhebung des 1933 mit Hitler geschlossenen Konkordats und die strikte Trennung von Staat und Kirche. Desgleichen in England die kürzlich vor dem Oberhaus angehörte National Seculary Society. In der Schweiz kämpft die Freidenker-Vereinigung dafür, dass die Kantone die laizistische Trennung vollziehen. In einer ganzen Reihe von Kantonen wurde dies auch schon durchgesetzt. Schweden schließlich hat sich erst kürzlich für die Trennung von Staat und lutherischer Kirche ausgesprochen.
Der Laizismus könnte also für ganz Europa Geltung haben. Freilich muss zugleich die soziale Gerechtigkeit vorangebracht werden, damit die Versuchungen rückwärts gewandter Kommunitaristen keine Chance haben und das laizistische Ideal jedermann deutlich vor Augen steht. Das laizistische Europa geht Hand in Hand mit dem Europa einer emanzipatorischen Kultur, deren Programm bereits zur Zeit der Aufklärung entworfen wurde. Genauso eng aber ist es mit einem sozialen Europa verbunden, das es erst noch zu errichten gilt.

Henri Pena-Ruiz* (dt. Markus Sedlaczek)

* Philosoph, Dozent am Institut d‘ ူtudes Politiques de Paris, Autor von „Dieu et Marianne. Philosophie de la laicité“, Paris (PUF) 1999.

Dieser leicht gekürzte Text wurde mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der deutschsprachigen Le Monde diplomatique, die monatlich auf 24 Seiten über internationale Entwicklungen in Politik und Kultur berichtet. Die Zeitung ist am Kiosk erhältlich und außerdem zu beziehen über: Le Monde diplomatique, Kochstr. 18, 10969 Berlin. Tel. (030) 25902-211, Abo-Fax: (030) 2519316, E-Mail: abomail@taz.de, Jahresabo: DM 84,– (Studentenabo: DM 58,80), Probeabo (3 Ausg.): DM 15,– website: www.monde-diplomatique.de

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