Themen / Demokratisierung

Headline: „Wir müssen versuchen, uns zu emanzi­pieren“

01. Juni 2001

Egon Bahr über den Kosovo-Krieg, die Arroganz der Amerikaner und warum Russland nicht übergangen werden darf

Mitteilung Nr. 174, S. 55-60

Vorspann: Im Ende Juni erscheinenden vorgänge-Heft 154 geht es um Deutschland und Europa „Im Sog des Westens“. Die Mitteilungen dokumentieren exklusiv und vorab das dort abgedruckte Interview mit dem sozialdemokratischen Außenpolitiker Egon Bahr.     vorgänge: Zu Beginn eine eher persönliche Frage an Sie. Wir möchten wissen: Was hat Ihr Amerika-Bild geprägt, welche Assoziation drängen sich Ihnen spontan auf?                              Bahr: Meine ersten Erfahrungen waren zunächst einmal Wahrnehmungen aus zweiter Hand. Wenn man in New York spazieren geht, so las ich einmal, könne man die Leute auf der Straße nicht nach ihrem outfit unterscheiden. Man könne nicht sehen, ob sie mehr oder weniger Geld verdienen, jedenfalls nicht anhand ihrer Kleidung. Das habe ich für Quatsch gehalten. Denn im Deutschland der 30er oder 40er Jahre konnte man allen Menschen ansehen, welchen Klassen sie angehörten. Aber diese Unterschiede sind ja auch bei uns eingeebnet worden. Millionäre tragen Jeans, Wohlhabende gehen in Freizeitkleidung auf die Straße.       vorgänge: Sie waren Anfang der 60er Jahre zum ersten Mal in den USA. Hatten Sie dann wirklich den Eindruck, dort eine klassenlose Gesellschaft vorzufinden?

Bahr: Es war zumindestens eine Einebnung in der Mitte festzustellen, eine Nivellierung, aus der ganz Arme und ganz Reiche rausfielen, vom Habitus her. Ein paar Jahre nach meinem ersten Aufenthalt in New York bin ich quer durch Amerika gefahren, das war Anfang der 70er Jahre. Nachdem ich die Ostküste schon kannte, wollte ich mir nun mal das Landesinnere ansehen. Und da fand ich diese ungeheure zivilisatorische Leistung vor: Im ganzen Land, egal ob Wüste oder Steppe, ob Gebirge oder Ebene, überall bekam man Motels, die einen bestimmten Standard besaßen, mit sauberer Wäsche, Telefon, Fernseher, Ice-Boxes und einem guten Frühstück. Das gab es hier in Deutschland damals nicht. Die einzigartige kulturelle Ausstrahlung Amerikas möchte ich aber an einem anderen Beispiel illustrieren. Ich bin als Entwicklungshilfeminister in den 70er Jahren im Sudan gewesen, wo ich ein deutsches Entwicklungsprojekt besuchte. Der Verantwortliche dort bat mich um Geld für eine kleine Verbesserung vor Ort: eine Fernsehempfangsanlage. Er sagte, die Leute könnten nicht lesen und nicht schreiben, aber sehen und hören könnten sie alle. Ein Fernseher im Dorf gäbe es, da gingen abends alle hin, um fernzusehen. Dann zeigte er mir das laufende Fernsehprogramm. Metaphorisch gesprochen sah ich da plötzlich die Brüder Cartwright über die sudanesische Steppe donnern. Bonanza in der Sahara und die Leute guckten begeistert zu. Ich dachte: ‚Donnerwetter‘. Offenbar geht von den Vereinigten Staaten eine ungeheure kulturbildende Kraft aus, die den Erdball fasziniert, die die Menschen unabhängig von ihrer Kultur begeistert. Die Konsequenz ist, dass alle so leben wollen wie die Amis.

vorgänge: Die Amerikaner befördern das ja auch mit einem missionarischen Sendungsbewusstsein …

Bahr: …wie auch immer: es ist ein Faktum. Interessant sind die unterschiedlichen nationalen Reaktionen auf die Amerikanisierung. Die stärkste nationale Identität, die ich mir vorstellen kann, ist die französische. Vor ein paar Jahren war ich in Paris und dachte: ‚Das kann doch nicht wahr sein – McDonalds auf den Champs Elysées! Welch eine Schande für die französische Küche, für das französische Selbstverständnis.‘ Die Deutschen passen sich viel stärker und leichter an als alle anderen. Die Italiener bleiben immer noch ein bisschen Italiener, wenn sie in Amerika sind. Die Iren sowieso. Die Deutschen dagegen wollen sich assimilieren, sie wollen aufgehen. Zum Teil setzen wir, die Deutschen, heute der Amerikanisierung den geringsten Widerstand entgegen. Das muss eine nationale Eigenschaft sein. Hinzu kommt die Dankbarkeit: Ohne die Amis hätten wir nicht überlebt. Ohne sie wären die Russen vielleicht weiter nach Westen vorgedrungen. Und vielleicht spielte auch der Wunsch eine Rolle, das nächste Mal auf der richtigen Seite sein zu wollen, auf der Seite des Stärkeren, wenn es schon nicht ohne Krieg geht.

vorgänge: Dieses Gefühl der Dankbarkeit entstand unter dem Einfluss der amerikanischen Politik. Nicht umsonst stand Deutschland im Mittelpunkt amerikanischer Reeducation-Bemühungen, angefangen von den Kulturoffizieren bis hin zum Congress for Cultural Freedom. Glauben Sie, dass die Westdeutschen stärker amerikanisiert sind als andere Nationen in Europa?                     Bahr: Ja. Das glaube ich.

vorgänge: Die von Ihnen wesentlich mitgestaltete Neue Ostpolitik war ja nur durch die vorangegangene Westbindung möglich. Die Bundesrepublik lehnte sich in den 60er Jahren kulturell wie politisch stark an die USA an, was die traditionellen Koordinaten in Europa entscheidend verändert hat. Wie wirkte sich diese Öffnung Deutschlands nach Westen aus? Inwieweit war und ist sie Voraussetzung für eine unabhängige deutsche Politik – gestern wie heute?

Bahr: Deutschland ist nicht mehr die überragende europäische Großmacht – das ist die ganz große Veränderung der letzten Jahrzehnte. Vor Deutschland hatten alle Angst. Und das gegenwärtige Ergebnis der Geschichte ist, dass man militärisch vor Deutschland keine Angst mehr haben muss. Der ehemalige US-Außenminister James Baker hat das in seinen Erinnerungen auf die Formel gebracht, Deutschland läge an der Leine. Und er hat ja recht: Wir können von uns aus keinen Krieg führen. Das Kriegsziel der Alliierten aus dem Zweiten Weltkrieg ist also erreicht. Das ist eine grundsätzliche Veränderung: Deutschland ist keine Gefahr mehr. Das einzige Mittel, was für uns noch im nationalen Interesse einsetzbar war – die D-Mark – verschwindet nun auch. Aus dieser grundsätzlichen Änderung der Situation heraus muss man fragen: Was ist denn nun die deutsche Rolle? Zumindestens Ansätze einer Antwort kann man am Beispiel Jugoslawien ablesen. In den Konflikt sind wir hineingezogen worden – keine Frage. Aber: Die Bundesregierung war die einzige Regierung im Bündnis, die es gewagt hat, entgegen der beschlossenen Strategie des Bündnisses, nämlich Kampfeinsatz bis zur bedingungslosen Kapitulation, einen eigenen 5-Punkte-Plan zur Lösung des Konflikts vorzulegen, die Russen wieder ins Boot zu holen, die Akzeptanz der Chinesen zu gewinnen und ein Mandat der Vereinten Nationen zu bekommen. Das heisst, wir haben, in dem wir einen guten Vorschlag gemacht haben, geführt, Verbündete gesammelt und sogar die Amerikaner dazu gebracht, sich der europäischen Methode, nämlich durch Verhandlungen einen Krieg zu beenden, anzuschließen. Wenn wir etwas positiv bewegen wollen, brauchen wir Unterstützung durch andere. Wir können aber negativ etwas verhindern, was uns nicht gefällt. Wieder das Beispiel Jugoslawien: Der Bundeskanzler hat dem amerikanischen Präsidenten gesagt, es würden keine Bodentruppen durch die Deutschen gestellt werden – da war das Thema Bodentruppen erledigt, denn ohne die Deutschen wollten oder konnten die anderen nicht. Es kann nichts wesentliches und wichtiges gegen unseren Willen passieren; wenn wir ‚Nein‘ sagen, ist das Ergebnis ‚Nein‘. Wir haben de-facto eine negative Vetomacht. Wenn wir etwas positiv erreichen wollen, brauchen wir Unterstützung und Verbündete. Das ist die andere Position. Sie bedeutet unterm Strich, das Deutschland führen kann, wenn seine Vorstellungen sich mit den Interessen Europas decken.

vorgänge: Bundeskanzler Schröder hat in seiner Regierungserklärung davon gesprochen, dass ein positives Verhältnis zu Amerika Teil der deutschen Staatsräson ist. Von Ihnen gibt es anderslautende Äußerungen.

Bahr: Ich weiss nicht, ob Schröder das wirklich so formuliert hat. Jedenfalls hat sich die Position des vereinten Deutschland mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Einheit verändert. Bis dahin war die gute Beziehung zu Amerika fast eine Staatsräson, weil wir ohne die Amerikaner die Bedrohung aus dem Osten nicht ausbalancieren konnten. Jetzt gibt es keine Bedrohung mehr. Wir haben zum ersten Mal in der Weltgeschichte eine einzige Supermacht, die konkurrenzlos dasteht, die in der Lage ist, an jedem beliebigen Punkt der Welt eine militärische Übermacht zu konzentrieren. Und diese Weltmacht hat es nun an sich zu sagen: ‚Unser Interesse ist: Wir wollen einzige Weltmacht bleiben. Wir wollen unsere mit jedem Monat wachsende militärische Überlegenheit ausbauen, uneinholbar machen. Das entspricht unserer globalen Verantwortung, auch unserem Interesse. Dazu müssen wir unseren Interessen auch dann folgen, wenn wir es alleine machen müssen. Auch dann, wenn wir eine Mehrheit im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gegen uns haben. Wo kommen wir denn dahin, wenn die Mehrzahl der Kleinen, die wenig können und wenig Verantwortung haben, uns vorschreiben wollen, was wir zu tun oder zu lassen haben? Das geht gar nicht.‘ Also macht Amerika eine Politik, die sagt: ‚Wenn wir Verbündete kriegen, ist es gut; wenn wir die Mehrheit im Sicherheitsrat kriegen, ist es auch gut; wenn nicht – na, dann geht es auch so.‘ Dieses Interesse der Amerikaner als Globalmacht haben wir bereits bei Herrn Clinton gehabt; wir sehen das jetzt nur ein bisschen deutlicher, der Neue macht das nur ein wenig mehr outspoken. Aber es ist prinzipiell nicht neu.

Zbigniew Brzezinski, der ehemalige Sicherheitsberater von Präsident Carter, hat in seinem Buch Die einzige Weltmacht vor ein paar Jahren geschrieben, Europa sei für Amerika ein Protektorat. Das war keine Beleidigung, sondern eine Beschreibung der Wirklichkeit. Und nun wollten diese Europäer selbständig sein, also sich eine eigene Verteidigungsarchitektur schaffen. Da waren die Amerikaner nicht sehr begeistert, sie sind es auch heute noch nicht. Sie haben einen Riegel davor geschoben und so ist die Situation folgendermaßen: Die geplante europäische Armee darf die NATO-Strukturen nur benutzen, wenn die Amerikaner akzeptieren und zustimmen. Die Amerikaner sorgen dafür, dass die Kinder keinen Unsinn machen.          vorgänge: Die große Frage ist doch, wie das wiedervereinigte Deutschland mit dieser amerikanischen Dominanz umgehen soll?Bahr: Ja, das führt direkt zu dem Problem, wie eigentlich Deutschlands Stellung heute zu definieren ist. Eines ist klar: Wir können uns nicht befreien von dem globalen atomaren Schirm, den die Amerikaner gegenüber den Russen aufspannen und aufrechterhalten. Alle Europäer, Deutschland eingeschlossen, haben da nichts zu bestimmen. Es ist amerikanisches Interesse, dass die Gegenküste, also Europa West, nicht unter feindseligen Einfluss kommt. Unter diesem Schutz stehen wir. Und nun können wir unterhalb dieses Schirms die europäische Identität entwickeln und können sagen, unser oberstes Ziel ist, dass Europa ein global player wird, ein selbständiger Mitspieler – nicht auf militärischem Gebiet, da sind die Amerikaner uneinholbar. Aber auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Politik. Wir können politisch zum Beispiel sagen: keine weitere Ausweitung der NATO nach Osten. Dann passiert sie nicht. Das heisst, wir haben die Möglichkeit, im Dienste Europas, dafür zu sorgen, dass die Chance zur sicherheitspolitischen Entwicklung Europas genutzt wird. Wir können sagen: Wir schaffen eine gesamteuropäische Sicherheitsstruktur. Ein typisches Beispiel hierfür ist das amerikanische NMD-Programm. Ich habe mir den russischen Gegenvorschlag dazu angesehen. Die Russen schlagen vor, dass wir Europäer uns zusammensetzen und analysieren, was wir können, was wir brauchen, was wir machen müssen. Also ein gesamteuropäischer Pool von Wissen, Technik, Organisation, Kommando und Truppen – unter Einschluss der Russen, unter Einschluss der Amerikaner. Also wäre dies eine gesamteuropäische Struktur. Wenn ich mir jetzt dagegen die amerikanischen NMD-Pläne ansehe, dann ist das eine rein amerikanische Angelegenheit, zum Schutze ihrer Verbündeten unter Ausklammerung derer, die nicht verbündet sind. Dies wäre eine Verlängerung ihrer Protektoratsideen und keine gesamteuropäische Angelegenheit.vorgänge: Sehen Sie denn eine realistische Möglichkeit, dass Russland, Europa und Amerika sich zu einem gemeinsamen NMD-Programm zusammenfinden könnten, trotz der nach wie vor großen Unterschiede zwischen Russland und dem Westen hinsichtlich der Wertegrundlagen?Bahr: Das hat doch mit Werten nichts zu tun. Das hat mit Interessen und Fähigkeiten zu tun.vorgänge: Meinen Sie, dass es eine gemeinsame Interessenkonstellation zwischen Russland und Amerika geben kann?Bahr: Die Amerikaner werden das vielleicht ablehnen. Aber wenn wir dann NMD ablehnen, was machen sie dann?vorgänge: Dann bleibt Europa außen vor.Bahr: Dann machen wir es mit den Russen. Und den Franzosen. Und den Engländern.

vorgänge: Es bleibt die Frage: Läge dies in unserem Interesse? Muss es nicht eher unser spezielles deutsches und europäisches Interesse sein, engstmögliche Beziehungen zu Amerika zu haben, unbedingt an der Seite Amerikas zu stehen – schon aus Gründen der weltpolitischen Stabilität?

Bahr: Darüber kann man dann reden. Meiner Auffassung nach ist es die Interessenlage der Europäer, eine Sicherheitsstruktur in Europa zu schaffen, in der es Kriege zwischen Staaten nicht mehr gibt. Dies geht nicht ohne die Beteiligung Russlands.vorgänge: Hat Europa dabei mit dem Widerstand Amerikas zu rechnen?Bahr: Das weiss ich nicht. Meiner Meinung nach akzeptieren die Amerikaner vieles, wenn sie mit Realitäten konfrontiert werden. Sie respektieren feste Meinungen und Haltungen. Das ist zumindestens meine Erfahrung.vorgänge: Gegenwärtig wird häufig ein Paradigmenwechsel in der amerikanischen Außenpolitik konstatiert – der SPIEGEL etwa titelte „Der kleine Sheriff George Bush jr. gegen den Rest der Welt“. Clinton hat das NMD-Programm so zurückhaltend wie irgendmöglich betrieben; Bush macht es zum Kernbestand seiner Außen- und Sicherheitspolitik.Bahr: Ja und? Clinton wollte in Sachen NMD nicht mehr entscheiden. Und brauchte auch nicht mehr zu entscheiden, weil die ersten Tests bekanntlich gescheitert sind.

vorgänge: Also Sie sehen mit der Bush-Administration keine neue Version der Pax Americana auftauchen?

Bahr: Überhaupt nicht. Die ganze Angelegenheit hat langfristige historische Ursachen, die man nicht vergessen darf. Eine erste ähnliche Entscheidung hieß in den 80er Jahren SDI, die hat Reagan damals getroffen. Letztlich war auch das eine Reaktion auf den Schock, den die Amerikaner in den 50er Jahren erlitten hatten, als die Russen plötzlich über Interkontinentalraketen verfügten und Amerika zum ersten Mal in seiner Geschichte verwundbar wurde. Die Amerikaner reagierten damals sofort: Sie ersetzten die Strategie der massiven Vergeltung durch die Strategie der flexiblen Antwort. Bis zu diesem Zeitpunkt sagten sie: ‚Wenn irgendwo etwas passiert, hauen wir euch die großen Koffer auf den Kopf.‘ Jetzt sagten sie: ‚Wir können doch nicht für Berlin oder Hamburg New York riskieren. Also behalten wir uns vor, flexibel zu antworten, je nach Interessen und Möglichkeiten.‘ Sie haben im Ergebnis mit dem „Reich des Bösen“ verhandeln müssen über die Begrenzung der strategischen Waffen, über die Reduktion strategischer Waffen, SALT und START. Das war das Ergebnis der russischen Aufrüstung. In dem Augenblick, in dem die technische Möglichkeit am Horizont erschien, um Amerika wieder unverwundbar zu machen, hat Reagan dann Anfang der 80er Jahre sofort gesagt: Wir machen das. Das erwies sich technisch zwar doch als unmöglich, aber über vier Administrationen hinweg sind die Pläne weitergetrieben und 60 Milliarden Dollar ausgegeben worden.

Ich habe nie einen Zweifel daran gehabt: In dem Augenblick, in dem NMD technisch machbar ist, werden es die Amerikaner technisch machen. Sie wollen sich den Traum erfüllen von Unverwundbarkeit erfüllen, obwohl sie wissen, dass sie nicht mehr unverwundbar sein können.vorgänge: Hypothetisch gesprochen: Angenommen, sie verwirklichten diesen Traum – welche Implikationen hätte das für Europa?

Bahr: Es wird ihnen nicht gelingen. Sie können technisch eines Tages die Probleme von NMD meistern. Damit werden sie aber nicht unverwundbar. Denn ich kann natürlich einen Frachter mit chemischen oder biologischen Kampfstoffen nach New York schicken; ich kann über das Internet elektronische Kriegführung betreiben. Das kann ich mit Raketen alles nicht verhindern. Trotzdem wollen die Amerikanern das Raketenabwehrsystem. Gut. Die Frage für Europa ist: Machen wir es mit? Bezahlen wir? Geben wir Grund und Boden zur Stationierung? Oder machen wir es nicht mit? Das ist die einzige Frage.

vorgänge: Was ist Ihre Position?

Bahr: Natürlich nicht mitmachen. Wir müssen gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen schaffen. Wir müssen versuchen, uns zu emanzipieren. Wir sind erwachsen. Der junge Mensch, der 21 wird, ist selbst verantwortlich und letztverantwortlich für sein eigenes Schicksal, für Tun und Lassen. Er emanzipiert sich von seinen Eltern. Das ist nicht immer bequem, die Eltern mögen das nicht. Ich bin ja nicht gegen Amerika, um Gottes willen. Die größte Weltmacht, die einzige Weltmacht gibt es ja weiterhin und kann durch nichts ersetzt werden. Fabelhaft. Sollen sie machen, was sie wollen. Aber soweit wir das mit den Europäern schaffen, erledigen wir unsere Angelegenheiten jetzt europäisch. Wenn wir das nicht machen, bleiben wir Protektorat. Nun könnte man sagen, das wäre doch gar nicht so schlecht. Aber dann würden wir die europäische Identität verlieren. Und die europäische Identität ist eine andere als die amerikanische. Zugespitzt formuliert: Amerika macht Markt pur; europäische Tradition dagegen ist es, den Menschen neben dem Markt zu sehen. Wir haben schon den Mut zum Euro gehabt. Er ist eine Konkurrenz zum Dollar, ob wir wollen oder nicht. Ja, macht nun unser Mut vor dem Bereich der Aussen- und Sicherheitspolitik halt?

Im übrigen ist Konkurrenz ja nicht schlecht. Das gegenwärtige Zentralproblem unserer Welt ist doch, dass die Maschinen immer weniger Menschen brauchen, um immer mehr zu produzieren. Darauf gibt es bisher keine Antwort. Amerika kennt sie nicht, Europa nicht, Deutschland nicht, die SPD kennt sie nicht, Asien kennt sie nicht. Alle versuchen, sich auf irgendeine Weise durchzuhangeln, bis sie zu einem neuen Gesellschaftsbild kommen, das auf diese Probleme eine Antwort gibt. Wenn Europa es schafft, mit Rückgriff auf seine Tradition ein eigenes Modell zu entwickeln, wäre das doch prima. Dann könnten andere Weltteile sich das anschauen und entscheiden, ob sie den american way of life oder den european way of life wollen.

vorgänge: Sie sehen also zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Weg auch in Zukunft noch Unterschiede? Vielfach wird ja gesagt, zwischen beiden fände ein Angleichungsprozess statt.

Bahr: Nein, die Mentalitäten gleichen sich nicht so schnell an. Die Äußerlichkeiten, vielleicht auch die Fernsehprogramme oder das Verbraucherverhalten …

vorgänge: Aber die Dominanz der amerikanischen Wirtschaft ist doch unübersehbar. Diverse Firmenübernahmen und die weltweite Führungsposition US-amerikanischer Konzerne, von Microsoft bis General Motors, zeigen doch, dass es bestimmte Vorstellungen von Ökonomie gibt, die auch in Europa immer stärker zum Tragen kommen.

Bahr: Selbstverständlich. Sehen Sie, die Herrschaft des Geldes, des Profites, des shareholder-value-Denkens breitet sich aus. Gleichzeitig sehe ich, dass die Bedenken, Überlegungen oder Widerstände dagegen weniger aus Europa, sondern vielmehr aus den USA selbst kommen. Die sagen: Es kann nicht ohne Regeln gehen. Selbst harte, erstklassige Großkapitalisten wie George Soros sagen: Es muss ein Regelwerk geben. Wir können nicht weiter hinein taumeln in eine Welt, in der letztlich der Produktionsnutzen und der Gewinn alles bestimmt. Ich habe als Demokrat gelernt: Macht bracht Gegenmacht. Wo ist die Gegenmacht gegen die Multis? Wo sind die europäischen Parteien? Wo ist die europäische Gewerkschaft? Von einer Weltgewerkschaft ganz zu schweigen. Ich kann davon nichts sehen.

vorgänge: A propos Regeln: Sie haben in ihrer außenpolitischen Laufbahn in Moskau und in Amerika verhandelt. Wer war denn eigentlich der schwierigere Verhandlungspartner?

Bahr: Mit den Amerikanern war das immer fabelhaft.

vorgänge: Haben die Amerikaner Sie in Gesprächen hinter der verschlossenen Tür nie die Abhängigkeit fühlen lassen?Bahr: Natürlich hat es immer eine Arroganz der Macht gegeben, die arrogance of power. Das führte auch dazu, dass die Amerikaner das gemacht haben, was sie für richtig hielten, ohne uns zu fragen.

vorgänge: Vor ein paar Jahren tauchten im Weißen Haus Berichte aus dem Umfeld Henry Kissingers auf, die Sie als unsicheren Kantonisten charakterisierten. Amerika, so der Tenor, könne sich im Zweifelsfall nicht auf Sie verlassen. Hat Sie das getroffen?

Egon Bahr: Nein. Wenn ich überzeugt bin, dass ich die Interessen meines Landes vertreten muss, und diese sind nicht übereinstimmend mit denen der Vereinigten Staaten, dann bin ich doch nicht traurig, bin auch nicht sauer, wenn die Amerikaner das aus ihrer Perspektive werten und, wie auch immer, benutzen. Kissinger hat damit doch die Interessen seines Landes vertreten, ganz selbstverständlich, und hat mir das gleiche bescheinigt, auch ganz selbstverständlich.vorgänge: Inwieweit ist denn eine Partnerschaft inter pares mit Amerika möglich? Die NATO war und ist amerikanisch dominiert. War es nicht ein Euphemismus, von Partnerschaft zu reden, wenn die einen zu Zeiten des Ost-West-Konflikts an der Nahtstelle einer möglichen Konfrontation gesessen haben und die anderen jenseits des Atlantiks?Bahr: Formal gesehen war die Gleichberechtigung in der NATO in Ordnung. Aber das spielte de facto keine Rolle. Wir waren in der Tat voll abhängig unter dem atomaren Schirm der Amerikaner. Alles andere war Propaganda.

Die Amerikaner neigen zu der Fehleinschätzung, der reinen militärischen Macht eine zu große Bedeutung zuzumessen. Die Europäer dagegen haben gar keine andere Möglichkeit, als zu versuchen Versuch, diplomatisch aus ihrer Schwäche eine Stärke zu machen. Und dieser Versuch heißt Gewaltverzicht. Im Kern geht es darum, das Recht des Stärkeren umzuwandeln in die Stärke des Rechts, durch Verträge, durch Abkommen, durch Kontrolle. Das ist ein Grundunterschied, den es auch weiterhin geben wird. Die Perspektive der Verrechtlichung ist auch in Zukunft die einzige Möglichkeit für Europa, seine Stärke zu entwickeln.

vorgänge: Würden Sie die Probleme zwischen Europa und Amerika, zum Beispiel beim Streit um das Kyoto-Abkommen und den Internationalen Strafgerichtshof, auf diese Grundunterschiedlichkeit zurückführen?Bahr: Ja. Es besteht die Gefahr, dass Amerika überschätzt, was es alles alleine kann. Wenn Amerika glaubt, sich auf Dauer isolieren zu können, dann wird es sich übernehmen.vorgänge: Daran anschließend stellt sich die Frage nach der Zukunft des Westens. Sie haben die Unterschiede zwischen Europa und Amerika, beide im Westen fest verankert, herausgearbeitet. Können Sie sich vorstellen, dass z.B. Russland letztlich auch irgendwann zur westlichen Wertegemeinschaft gehören kann? Wie soll dann eine gemeinsame Ordnung aussehen? Wie könnte man Amerika dazu bringen, diese Ordnung zu akzeptieren?                                                                                 Bahr: Ich kann Amerika dazu bringen, indem Europa eine feste Position einnimmt und sagt: Das ist unsere Position. Dann respektieren die das. Das ist für mich kein großes Problem. Ich beschuldige die Amerikaner nicht, weil sie so stark sind. Ich beschuldige die Europäer, weil sie so schwach sind. Wenn sie sich zusammenraufen könnten, dann wären sie nicht so schwach und das würde auch Amerika akzeptieren. Allerdings weiss niemand genau, wie sich Russland entwickeln wird. Ich kann nur sagen: Russland wird in mehreren Jahrzehnten jedenfalls nicht mehr so schwach sein, wie es im Moment ist. Russland ist im Augenblick geneigt, sich Europa zuzuwenden. Die russische Bereitschaft zur Kooperation – Stichwort NMD – nicht auszunützen, wäre töricht und ein historischer Fehler. Wir haben die Chance, auf dem Gebiet der Sicherheit etwas gemeinsam mit Russland und Amerika zu machen. Helmut Schmidt, der ja kein Antiamerikaner ist, sagt: Das könnte den Amerikanern so passen, wenn durch eine weitere Ausweitung der NATO die Spannungen zu Russland zunehmen und damit Europa schutzbedürftiger wird. Und er hat auch noch hinzugefügt: Die NATO gehört nicht Amerika.

vorgänge: Kann es aber nicht sein, dass durch die Ausweitung der NATO nach Osten ein Mehr an Stabilität in Ostmitteleuropa entsteht, weil wir in der glücklichen Situation sind, dass Russland im Moment zu schwach ist, um einen Konfrontationskurs zu fahren?

Bahr: Sie können die Geographie nicht überlisten. Es gibt bis heute keinerlei Definition, wie weit eigentlich die Ausweitung der NATO gehen soll. Bis zur chinesischen Grenze?

vorgänge: Möglicherweise in ferner Zukunft: Mit einem Russland, das in irgendeiner Form eine Wertegemeinschaft mit dem Westen eingegangen ist, wäre das möglich.Bahr: Ich habe gar nichts dagegen, dass Russland auf lange Sicht der NATO beitritt. Dann haben wir automatisch gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen. Die Amerikaner werden dies jedoch niemals zulassen, weil sie dann einen Großen dabei hätten, und dann könnten sie nicht mehr machen, was sie wollen; mit ihrer Dominanz ist es dann vorbei. Aber stellen Sie sich einen Augenblick vor, Georgien wollte Mitglied der NATO werden. Sollte die Bundesrepublik als NATO-Mitglied wirklich Garantiemacht für diese hochexplosive Zone im Kaukasus werden? Das wäre nicht mehr, sondern weniger Stabilität.vorgänge: Wenn aber irgendwann entsprechende Voraussetzungen in der Region dort gegeben wären, also die Krisenherde beseitigt wären und sich stabile demokratische Regierungen und Gesellschaften entwickelt hätten?Bahr: Warum dürfen wir dann heute die baltischen Staaten, auf die das alles zutrifft, nicht aufnehmen? Weil die USA es nicht wollen. Weil die Amerikaner nicht bereit sind, ihre Nukleargarantie an die russischen Grenzen auszuweiten. Diese Garantie funktioniert noch für Polen und selbst wenn Rumänien, Moldawien oder die Slowakei hinzu kämen, ginge es noch. Aber danach ist dann Schluss. Das Problem besteht darin, dass die USA keine Definition geben, wie weit die NATO reichen soll. Schließlich wollen sie den Druck auf Russland aufrechterhalten. Aber das kann kein europäisches Interesse sein. Hier bestehen fundamentale Unterschiede zwischen europäischen und amerikanischen Interessen fort.

Das Interview führten die vorgänge-Redakteure Thymian Bussemer und Alexander Cammann Ende April im Berliner Willy-Brandt-Haus.

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