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Verfas­sungs­schutz und Neonazis: Wer unter­wan­dert wen

20. Juni 2002

Mitteilungen Nr. 177, S.39-40

Unter diesem Titel fand Ende April bereits zum achtzehnten Mal die monatliche Republikanische Vesper im Berliner Haus der Demokratie und Menschenrechte statt. Verantwortlich für die Podiumsdiskussion zeichnen neben der HU Berlin die Internationale Liga für Menschenrechte, der Republikanische AnwältInnenverein (RAV), die Stiftung Haus der Demokratie und die Zeitschrift Ossietzky. Zur Einführung stellte Nina Helm (HU) die Republikanische Vesper vor, die sich an die Tradition der Republikanischen Bankette in Frankreich anlehnt. Zum Verfassungsschutz (VS) bemerkte sie, daß bis 1990 Listen über Mitglieder der HU geführt wurden, noch kürzlich erschienen die Jungdemokraten im VS-Bericht, weil sie sich an Protesten gegen die Vereidigung von Rekruten beteiligt hatten. Das aktuelle Verfahren zum NPD-Verbot zeigt eine selbst für die Behörden undurchschaubare Verquickung von Verfassungs-schützern, V-Männern und Neonazis. Beispielsweise sollen Spitzenmänner der NPD vom VS Steuergelder in Höhe von bis zu 100.000.- DM erhalten haben, die vermutlich für die Zwecke der Partei verwendet worden waren. Die Frage drängt sich auf: Nützt der Einsatz von V-Leuten dem anvisierten Kampf gegen „Rechtsradikale“ oder fördert umgekehrt der VS solche Bestrebungen und schädigt damit die Verfassung? Hannes Honecker (RAV) erläuterte in seinem Referat die rechtliche Einordnung der Begriffe. Bei V-Leuten handele es sich zumeist um Angehörige einer kriminellen Branche, wie Drogenhandel, Menschenhandel oder anderen Zweigen der organisierten Kriminalität, wie im Bereich der Neonaziszene. V-Leute sind im Gegensatz zu verdeckten Ermittlern keine Polizeibeamte; letztere treten unter einem zivilen Deckmantel mit einer szeneüblichen Legende auf. Der V-Mann – wörtlich „Verbindungsmann“ – hat eine von der Polizeiführung unabhängige Position, obwohl er ihr zuarbeitet. Anders als der verdeckte Ermittler lasse er sich nicht durch Weisungen steuern. Im Vorfeld eines Verdachtes übt er Tätigkeiten aus, die die Polizei selbst nicht ausüben darf, letztere braucht immer einen Anlaß, um tätig zu werden, z.B. die Vorbereitung einer Straftat. Der V-Mann übt demzufolge eine unzulässige Tätigkeit aus, aber mit Billigung der Behörden. Ohne eine gesetzliche Eingriffsbefugnis wird ihm gestattet, in den Nahbereich anderer Personen einzudringen; er schleicht sich in private Beziehungen ein, horcht sie aus, besucht die Inhaftierten usw.. Letztlich mißbraucht er das Vertrauen dieser Personen im Auftrag des Staates. Noch anstößiger als die Informationsweitergabe sei aber die Tat-Provokation. Dies veranschaulichte der Referent anhand eines Beispiels aus der Praxis des BGH: Ein nicht Vorbestrafter war von einem V-Mann angesprochen worden, ob er an Heroin interessiert sei. Der V-Mann hatte sich verpflichtet, gegen Drogenhändler zu ermitteln, weil er sich davon rechtliche Vorteile in einem gegen ihn selbst gerichteten Verfahren  erhoffte. Zunächst lehnte der Angeklagte das Ansinnen ab, versprach aber, sich umzuhören. Damit wurde ein bisher nicht bescholtener Bürger angestiftet, eine Straftat zu begehen. Die Anleitung hierzu wurde von Polizeibeamten angeschoben, beobachtet und mit abgewickelt und ein V-Mann hat zum Verbrechen mit angestiftet. Das ist kein Einzelfall, sondern es ergibt sich ein sozusagen autopolitisches System: Der Beauftragte des Staates erschafft selbst die Straftaten, zu deren Bekämpfung er eingesetzt ist! Für das NPD-Verbotsverfahren bedeute diese Praxis, so Honecker, daß wir gegenwärtig nicht wissen, welche Äußerungen von NPD-Angehörigen den verschiedenen VS Behörden zuzurechnen sind – und welche der NPD selbst. Solange das Bundesverfassungs-gericht dies nicht weiß, kann nicht entschieden werden, ob die NPD selbst eine verfassungswidrige Organisation ist, oder inwieweit der VS selbst involviert ist. Michael Opperskalski (Zeitschrift GEHEIM) legte in seinem Referat dar, daß die Verwicklungen der V-Männer in Aktivitäten, die sie angeblich bekämpfen sollen, und damit die Doppelrolle des Verfassungsschutzes, sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der BRD ziehe. Diejenigen, die alsV-Leute eingesetzt worden sind, gehörten in der Regel zu den radikalisiertesten Teilen der NPD und der Neonazis. Es seien oft solche Kräfte, die die NPD noch weiter ins extreme Lager (Rassismus,Antisemitismus) treiben wollten. Ein anderer Teil der V-Leute war an organisatorischen Schaltstellen positioniert und am Aufbau der NPD selbst beteiligt. Sie setzten dabei sogar die Gelder zum Aufbau der NPD ein, die sie vom VS als Entlohnung bekommen hatten. Dabei entstanden neue Strukturen des Rechtsradikalismus in Gebieten, in denen er vorher nicht vorhanden war. Beim derzeitigen Skandal geht in der medialen Berichterstattung unter, daß es hier nicht um ein einmaliges Versehen geht, sondern um eine strukturelle Problematik der VS-Ämter, was der Referierende auch auf Kontinuitäten in der Arbeit des Verfassungsschutzes seit der Gründungszeit der Bundesrepublik zurückführt. Demzufolge stelle der Verfassungsschutz ein relativ untaugliches Instrument dar, das möglicherweise auch den „Aufstand der Anständigen“ konterkariere. Gefordert wurde die Auflösung dieser Organisation – und vor allem die Veröffentlichung der Akten und die Löschung der Datensätze. Dieter Wiefelspütz MdB, Innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, der wegen einer Bundestagsabstimmung am Anfang der Veranstaltung verhindert war, bezog sich in seinem Kurzvortrag auf den aktuellen Stand des NPD Parteiverbotsverfahrens. Er bekannte sich im Ergebnis als entschiedener Verfechter von Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst, beides sei genauso notwendig, wie die Bundeswehr oder eine Regierung. Ganz fatal sei es, wenn man den Verfassungsschutz in eine Schmuddelecke manövriere. Sicherlich solle diese Behörde als Instrument der Demokratie so transparent wie möglich sein. Ein grundsätzliches Problem von Geheimdiensten sei deren Geheimhaltungsphilosophie bis hin zur völligen Abschottung. Geheimdienste bedürfen selbstverständlich der Kontrolle und Diskussion. Daher müsse von außen darum geworben werden, dass sie sich öffnen, überhaupt sollte mit diesen Einrichtungen offensiver umgegangen werden. Aber letztlich machen die Mitarbeiter eine Arbeit, die von der Volksvertretung in Parlament und Regierung für notwendig gehalten wird. Dabei seien auch
Verstrickungen oder Fehlleistungen – wenn es denn solche
gebe – in Kauf zu nehmen. Die Forderung, den Verfassungsschutz
abzuschaffen, bezeichnete Wiefelspütz jedenfalls als „blauäugig“: Die Demokratie kann gefährdet sein, schon deshalb seien Informanten in der Szene unerlässlich.
Im Anschluß an diese Beiträge entfaltete sich sowohl auf dem Podium als auch mit den Zuhörenden eine lebendige Diskussion, die aus Platzgründen leider nicht wiedergegeben werden kann.

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