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Der vierte Mann

19. September 2002

Mitteilungen Nr. 179, S.51-54

Es ist schon interessant, wenn man über ein und dasselbe Thema in zwei verschiedenen Ländern diskutiert und dabei Vergleiche anstellt. So gewinnt man bei uns in Deutschland im Gespräch mit dem Islam den Eindruck, dass es nur um einen Dialog der drei großen monotheistischen Religionen – der Christen, Juden und Muslime – gehe, während in Frankreich immer ein „vierter Mann“ dabei ist und seine Stimme zur Geltung bringt. Das ist oft ein Vertreter oder eine Vertreterin des laizistischen Staates, die eine breite Basis im Bildungswesen und Schulen haben. Hierzulande ein „interreligiöser“ Dialog unter Ausschluss der säkularen Welt, bei unseren Nachbarn ein „interkultureller“ Dialog, in dem die Religion nur ein Faktor unter anderen ist. Beide Diskussionen finden in ein und demselben Europa statt, das immerhin ja seit dem 1. Januar eine Währung, den Euro, hat. Die Erklärung für diesen erstaunlichen Sachverhalt ist einfach. Für die Menschen in Deutschland teilt sich seit der Reformation die Welt in zwei große Konfessionen auf und folglich wird hierzulande gern und vielfach konfessionalisiert: so unter anderem der Religionsunterricht in der Schule, die kirchlichen Senderechte in den Medien,die Militärseelsorge in der Bundeswehr. Man ist entweder evangelisch oder katholisch – und dann kommen eben andere Glaubensgemeinschaften wie die Juden und die Muslime hinzu. Jeder bekommt seinen Anteil. In Frankreich sieht die Welt anders aus. Hier ist nicht die Reformation von 1517, sondern die Revolution von 1789 das große nationale Ereignis. Entsprechend gruppieren sich die Lager so, dass den „Kirchlichen“ die „Unkirchlichen“, also die Laizisten, gegenüberstehen, die die Belange der säkularen Welt verteidigen. Dies hat zur Folge, dass es keinen Religionsunterricht in den Schulen gibt und somit auch die Muslime keinen Anspruch darauf haben. Weder Kruzifixe noch andere religiöse Symbole haben einen Platz im Klassenraum. Der kulturelle Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ist tief. Er reicht so weit, dass beide Nationen sich nicht gänzlich auf einen gemeinsamen Text der Charta der Grundwerte einigen konnten, die in der verfassungspolitischen Kommission unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog erarbeitet wurde. Hier gibt es in der französischen Fassung nur ein „patrimoine sprituel de l‘ Europe“, also ein allgemeines geistiges Erbe Europas, während in der deutschen Version von einem „geistig-religiösen Erbe“ die Rede ist. Wie wirkt sich dies auf die Integration von Nichtchristen aus? Den Dialog mit dem Islam wird es jedenfalls erleichtern, wenn wir Europa nicht allzu selbstverständlich mit dem Christentum identifizieren. Es ist zwar eine historische Tatsache, dass der christliche Glaube seit den Zeiten des Apostels Paulus eine gestaltende Kraft in der Geschichte Europas geworden ist. Aber es hat einerseits immer auch christliche Gemeinschaften und Kirchen außerhalb Europas gegeben und andererseits hat auch ein vorchristliches Europa existiert, das unsere Kultur und Geschichte wesentlich geprägt hat. Wir dürfen nicht vergessen, dass zunächst die Griechen und Römer Europa gestaltet haben und das Christentum erst später hinzugetreten ist. Paulus kam nach Athen und nicht umgekehrt. Insofern ist es irreführend, wenn man alle vom Christentum wegführenden Traditionen als nicht europäisch oder nicht mit Europa vereinbar wertet. Europa hat eben nicht nur christliche Grundlagen. Europa gibt es in einer Vielzahl von Kulturen. Als Kontinent der Begegnung verschiedener Traditionen und Lebensformen widerstrebt es zu weit getriebenen Einheitsbestrebungen und lässt Integration nicht in der Form der Gleichschaltung zu. Das gilt auch für den Umgang mit fremden Kulturen: Zugehörigkeitschancen müssen ohne Vergewaltigung ihrer Eigenarten offen stehen. Ein Europa, das kulturell anders geprägte Menschen ausgrenzt, verfehlt seine Zukunft und entfremdet sich gegenüber sich selbst. Der historische Befund ist eindeutig. Und deshalb stellt sich die Frage,warum wir Deutschen solche Hemmungen haben, die säkulare Welt als eigenen Wert zu betrachten.

Was für Deutschland die Reformation, ist für Frankreich die Revolution von 1789

Warum empfinden wir – im Unterschied zu den Franzosen – die Säkularisierung als etwas Defizitäres? Warum vernachlässigen wir die vor- und außerchristlichen Elemente unserer Kultur? Ist dies alles nur eine Folge der katholisch-evangelischen Glaubensspaltung und der folgenden Konfessionalisierung? Es sind zweifellos auch die jüngsten Erfahrungen in unserer Geschichte mit zu bedenken. So haben sowohl die Nationalsozialisten als auch – wenngleich auf andere Weise – die Kommunisten Säkularisierung als radikale Entchristlichung praktiziert, so dass der ältere Sinn des Begriffs als antiklerikale Verweltlichung verschüttet worden ist. Als der Reformator Martin Luther dazu riet, den Deutschen Orden im Preußenland um Königsberg zu säkularisieren, schwebte ihm keine Abkehr vom Christentum vor. Wohl aber lag ihm an einer Aufwertung der säkularen Welt gegenüber einer übertriebenen „Vergeistlichung“ der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Für ihn hatte die „Welt“ eine eigene Würde, die von der Kirche zu respektieren ist. Sie war für ihn Gottes Schöpfung, in der schon vor der Entstehung der Kirche Menschen lebten und Ordnungen schufen. Der biblische Satz: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist“,war seine ehrliche Grundüberzeugung. Mit diesem Verständnis eines ausbalancierten Verhältnisses zwischen geistlichen und weltlichen Ansprüchen sollte man auch die Diskussion mit dem Islam führen. In der heutigen Welt geht es doch nicht vorrangig um die Frage, ob die Bibel oder der Koran mehr Recht hat, sondern um die andere: Wie vertragen sich bestimmte Glaubenshaltungen mit der Wertordnung der Demokratie und der universalen Menschenrechte? Nicht unterschiedliche Gebetsformen und Rituale stehen zwischen Muslimen und Christen, sondern voneinander abweichende Einstellungen wie zum Beispiel jene zur Gleichstellung der Frau. Auch hier steht die Wertewelt der Aufklärung zur Debatte. Es hängt viel davon ab, dass wir mehr über die Kategorien des Denkens als über die des Glaubens streiten. Es verdient offensiv betont zu werden: Die moderne Welt steht nicht im Konflikt zwischen Glauben und Unglauben – eine im Mittelalter verbreitete Denkfigur –, sondern in der Spannung von Glauben und Wissen. Alle Wahrheitserkenntnis steht unter Argumentationszwang, auch die Glaubens-Gebote müssen vor der Kritik der Vernunft bestehen. Konfessionslose Zeitgenossen brauchen sich also nicht im Geringsten als diskussionsunwürdig zu verstehen. Im Gegenteil: Sie dürfen und sollen selbstbewusst ihre Fragen an die Religionsgemeinschaften stellen. Der Philosoph Jürgen Habermas hat in seiner großen Rede in der Paulskirche alle, die sich an den gegenwärtigen Diskussionen der Kulturen und Religionen beteiligen, an die Pflicht erinnert, ihre Glaubensinhalte und Moralvorstellungen in eine der heutigen Zeit angemessene Sprache zu übersetzen. Zugleich mahnte er die areligiösen, säkularisierten Teile unserer Gesellschaft, sich gegenüber so artikulierten Botschaften nicht zu verschließen. Wörtlich sagte er: „Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich im Modus der Übersetzung.“ Europa ist keine Wagenburg des Christentums, sondern ein geschichtlich geprägter Ort des christlichen Zeugnisses in einer gleichermaßen von Kräften des Glaubens und Kräften des Zweifels bestimmten Welt. Entsprechend sollten wir dazu beitragen, dass nicht alle Lebensbereiche konfessionalisiert werden und dass insbesondere in den Schulen Raum für Andersdenkende bleibt. Religionsunterricht als kulturgeschichtliche Religionskunde für alle und nicht als Glaubens lehre für verschieden konfessionell oder religiös Gebundene gehört in die Schulen Europas. Was haben die Kirchen und Religionen von einem solchen Weltverständnis? Zunächst einmal trägt es dazu bei, dass alle bei uns lebenden Menschen, auch religiös nicht geprägte, Kenntnisse über die Glaubensgemeinschaften erhalten. Ein weiterer Vorteil: Die nicht zuletzt im Islam bestehenden Lehrunterschiede und -streitigkeiten werden nicht in die Schule hineingetragen. Und schließlich verbindet sich der Religionsunterricht enger mit der Kulturgeschichte. Das erleichtert entscheidend das Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft in einer säkularisierten Gesellschaft. Ein interkultureller Dialog ist eben meist umfassender als ein interreligiöser.

                                                                              Rudolf von Thadden

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