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Willkür­sys­tem: Das Schweigen der Lehrer

Mitteilungen18001/2003Seite 2

Mitteilungen Nr. 180, S.2

„Lehrjahre sind keine Herrenjahre.“ Zynisch klingt der viel zitierte Spruch angesichts von Depressionen, Nervenzusammenbrüchen oder Suizidversuchen – geglückten wie mißglückten. Sie sind die Folge von Bürger- und Menschenrechtsverletzungen während der 2. Phase der Lehrerausbildung, dem Referendariat. Diese Rechtsverletzungen sind im System der Ausbildung angelegt. Bisher kursierten Klagen darüber lediglich in privaten Kreisen. In dem Internet-Forum www.referendar.de kommen sie erstmals ans Licht der Öffentlichkeit. Zwei Jahre dauert die Prozedur der Lehrerausbildung für sämtliche Schulformen deutschlandweit.

Was macht dieses Referendariat für die meisten so unerträglich? Neben der hohen Arbeitsbelastung von mitunter mehr als 50 Wochenstunden befinden sich die Lehramtsanwärter/innen in einer ständigen Kontroll- und Prüfungssituation.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Ausbilder an Schule und Seminar unumschränkte Macht genießen. Besonders tragisch empfinden Referendare das Fehlen von verläßlichen und einheitlichen Bewertungskriterien ihrer Unterrichtstätigkeit.

Obschon die Meinungen der Ausbilder über die Unterrichtsqualität individuell verschieden und äußerst fragwürdig sind, fließen sie unreflektiert in die Bewertung ein. Kontrollen der Prüfer durch übergeordnete und unabhängige Instanzen existieren nämlich nicht. Ebensowenig die Möglichkeit, den Ausbilder zu wechseln. Eine seriöse Anlaufstelle für Beschwerden, die der LA-Azubi ohne Furcht vor Sanktionen aufsuchen kann, ist auch nicht gegeben. Im Gegenteil, per Gesetz sind die Referendare zum Schweigen angehalten. Sie haben eine Loyalitätspflicht gegenüber ihrem Dienstherrn zu erfüllen. Restriktiv ausgelegt verbietet sie die Kritik an den Ausbildungsbedingungen und den „Funktionären“.

Bei Zuwiderhandeln droht ein Eintrag in die Personalakte oder noch Schlimmeres.

Rechtlose Schutz­be­foh­lene

Die Gesetzeslage ermöglicht den Ausbildern, die sich Fachleiter, Seminarleiter, Schulleiter oder Mentoren nennen, freie Bahn wie einst den Fürsten in feudalen Zeiten. Wer Glück hat, trifft auf moralisch gefestigte Charaktere, doch viele Ausbilder nutzen die Abhängigkeit ihrer rechtlosen „Schutzbefohlenen“ schamlos aus. Schikanen, Ungerechtigkeiten, Verleumdungen, Übergriffe, Infantilisierungen oder Erniedrigungen müssen die Lehramtsanwärter wehrlos über sich ergehen lassen. Die Gepeinigten schweigen, schleimen nicht selten um die Gunst ihrer Ausbilder, buckeln, ducken und verbiegen sich – aus purer Angst. Es geht schließlich um die berufliche Zukunft. Den Widerstand zu proben ist allein aus zeitlichen Gründen undenkbar. Außer der Gehorsamspflicht gegenüber dem Vorgesetzten verfügt das Studienseminar über ein weiteres Instrument, mit dem es angehende Lehrer wirkungsvoll in Schach hält. Es ist das Belastbarkeitskriterium. Dieses hängt wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der eingeschüchterten Refis. Wer müde oder erschöpft aussieht, wer Schwächen zeigt, muß mit einer schlechten Note im Gutachten rechnen. Also gilt es, stets gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Lehrer müssten im Berufsleben belastbar sein. Tabletten und Muntermacher helfen vielen, dem sozialdarwinistischen Ideal vom leistungsstarken, stets gutgelaunten Lehrer zu entsprechen. Nach dem Motto „Zucht und Ordnung“ hat sich der Lehramtszögling anzupassen und zu verleugnen. Das stolze Ergebnis dieser Dressur sind obrigkeitshörige und regelkonforme Beamte, die zwar allseits anerkannt, aber psychisch voll neben der Spur sind. Wie aber können künftige Lehrer ihre Schüler zu mündigen und verantwortungsvollen Bürgern erziehen, wenn sie selbst mundtot gemacht worden sind? Wie wollen Lehrer, denen man systematisch das Rückgrad bricht, anderen den aufrechten Gang lehren? Wozu Duckmäusertum und Willkürherrschaft führen können, sollten die Deutschen doch wissen. Ein demokratischer Staat braucht aber demokratische Ausbildungsstrukturen: Das Prinzip von der Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Jurisdiktion sollte nicht nur auf der Makroebene, sondern in allen Bereichen der Gesellschaft gelten, wo Herrschaft ausgeübt wird. Um eine qualitative Ausbildung zu erreichen, bedarf es einer Evaluation von Ausbildungsbedingungen und –inhalten anhand objektiver und allgemeingültiger Leistungsstandards.

Ausbilder als Fürsten

Die Leistungskriterien sollen schließlich Grundlage sein, sowohl für die Unterrichtsplanung und -duchführung als auch für deren Bewertung für alle an der Ausbildung Beteiligten. Außerdem soll die Lehrerausbildung erwachsenengerecht durchgeführt werden. Artikel 1 des GG, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, muss ernstgenommen werden. Regelmäßig stattfindende Untersuchungen der fachdidaktischen und pädagogischen Kompetenzen von LA-Ausbilder sollten unabhängige Sachverständige und Interessensvertreter von Referendaren durchführen. Diese Regelungen müssen über eine unabhängige Beschwerdestelle eingeklagt werden können. Eine Beschwerde muss auch Konsequenzen für den Ausbilder zeitigen. Die Referendare müssen ihre Rechte sanktionsfrei in Anspruch nehmen können. Unterricht sowie Nachbesprechungen können auf Wunsch der Referendare öffentlich abgehalten werden. Die Referendare sollten ferner das Recht haben, ihre Ausbilder abzuwählen oder ohne Angabe von Gründen wechseln können. Das Loyalitätsprinzip gegenüber dem Dienstherrn darf nicht willkürlich ausgelegt werden. Das Belastbarkeitskriterium, wonach die Person – nicht aber ihre fachdidaktischen und pädagogischen Leistungen – beurteilt wird, ist nach ethischen Gesichtspunkten höchst suspekt und gehört abgeschafft.

Alle – im Moment heiß diskutierten – Änderungen im Bildungssystem werden keinen Erfolg zeitigen, solange die Ausbildung der Lehrer nicht demokratisiert worden ist.

Sabine Ferber

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