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Der europäische Haftbefehl, Karlsruhe und die Europäische Union

31. August 2005

Mitteilungen Nr. 190, S.4-6

1. Verfahrensgegenstand

Mit dem europäischen Haftbefehl sollte die Auslieferung innerhalb der EU erleichtert und beschleunigt werden. Dazu haben im Juni 2002 die damals noch 15 EU-Mitgliedstaaten einstimmig einen EU-Rahmenbeschluss (Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl – RbEuHb) getroffen. In diesem Beschluss wurden Deliktsgruppen festgesetzt, bei denen das Erfordernis der wechselseitigen Strafbarkeit vor der Auslieferung nicht mehr zu prüfen ist. Der Bundestag setzte mit einer Änderung des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) den Rahmenbeschluss um, und eröffnete damit die Möglichkeit, dass deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger Strafandrohungen unterworfen werden, die von einer anderen Rechtsordnung ausgesprochen werden und für die es in der deutschen Rechtsordnung kein Äquivalent zu geben braucht. Ein Deutscher hätte damit für ein Verhalten strafrechtlich verantwortlich gemacht werden können, das in Deutschland nicht mit Strafe bedroht ist. Dies sollte auch für Fälle gelten, in denen der Beschuldigte nicht mit der Rechtsordnung des anderen Mitgliedstaates in tatsächlicher Hinsicht in Berührung gekommen ist. Voraussetzung war lediglich, dass der Straftatbestand der anderen Rechtsordnung es zuließ, dass der strafrechtliche Erfolg auch im Ausland eintreten kann. Beispiele dafür sind etwa Meinungsäußerungen, die im Internet verbreitet oder in einer Zeitung geäußert werden.

Der deutsche Gesetzgeber glaubte, bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses an die europäischen Vorgaben strikt gebunden zu sein. So sprach z.B. Hans-Christian Ströbele in der Karlsruher Verhandlung zum IRG von einer „normativen Unfreiheit“.

Dass der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) mit Urteil vom 18. Juli 2005 (Az.: 2 BvR 2236/04) das Europäische Haftbefehlsgesetz für nichtig erklären würde, war mehrheitlich so nicht erwartet worden. Im Vordergrund der Berichterstattung über die Verfassungsbeschwerde standen prinzipielle Äußerungen zu den Schranken eines europäischen Grundrechtsschutzes. Aber darüber hat Karlsruhe diesmal nicht entschieden. Vielmehr wurde durch die Nichtigkeitserklärung des Gesetzes der sorglose Umgang des Gesetzgebers mit seinem Ermessen bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses geahndet.

Die Verfassungswidrigkeit des deutschen Haftbefehlsgesetzes wurde dabei einerseits mit dem Nichtgebrauch der Umsetzungsspielräume des Rahmenbeschlusses begründet, andererseits damit, dass die Auslieferung nicht vereinfacht werden dürfe, ohne den Rechtsschutz gegen die (Auslieferungs-)Bewilligungsentscheidung zu stärken.

Dass der Gesetzgeber bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses durchaus mehr Spielraum hatte, weist die Senatsmehrheit auf überzeugende Weise nach. Gemäß Art. 4 Nr. 7 lit. a und b RbEuHb kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigert werden, wenn dieser sich auf Straftaten erstreckt, die nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaates ganz oder zum Teil in dessen Hoheitsgebiet begangen wurden. Der Rahmenbeschluss lässt damit eine Begrenzung der Auslieferung durch innerstaatliches Recht zu. In dem Bereich aber, wo der Gesetzgeber von europarechtlichen Vorgaben frei ist, besteht auch eine uneingeschränkte Bindung an das Grundgesetz (GG), die vom Bundesverfassungsgericht uneingeschränkt überprüft wird. Im Falle der Umsetzung des Europäischen Haftbefehls hat der Gesetzgeber gegen das Auslieferungsverbot aus Art. 16 Abs. 2 GG und die Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG verstoßen. Soweit kann man Karlsruhe gut folgen.

Anders ist es aber bei der auch von Richterin Lübbe-Wolff kritisierten Rhetorik der Entscheidungsgründe. So wird ausschließlich auf die Unterscheidung von deutschen Staatsangehörigen und Ausländern abgestellt. Unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes ist aber eine jede Auslieferung problematisch und nicht nur die Auslieferung deutscher Staatsbürger. Ein EU-Bürger der seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland hat, befindet sich in der gleichen Situation wie ein auszuliefernder Deutscher. Diesen Umstand verkennt das Gericht, wenn es in seiner Begründung auf die Staatsangehörigkeit als die in besonderer Weise hervorgehobene Verbindung des Bürgers zum Staat abstellt.

Zum anderen zeigt das Gericht in der Entscheidung ohne konkreten Fallbezug Grenzen für die Zusammenarbeit in der „Dritten Säule“ der EU auf. Eine „allgemeine Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen“ sei nicht geeignet, „die nationale Identität und Staatlichkeit in einem einheitlichen europäischen Rechtsraum“ zu wahren. Was aber soll gegen eine materielle Harmonisierung des Strafrechts auf europäischer Ebene sprechen? Möglicherweise hätte das Gesetz auch nicht für nichtig erklärt werden dürfen.

2. Auslieferungsschutz nur für Deutsche?

Mit dem Satz „Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden“ (Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG) gewährleistete das Grundgesetz bis zu seiner Änderung im November 2000 einen uneingeschränkten Schutz vor der Überstellung eines Deutschen an eine auswärtige Staatsgewalt. Seit der entsprechenden Änderung des Grundgesetzes kann eine Auslieferung an Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder einen internationalen Gerichtshof erfolgen, allerdings unter dem Vorbehalt, dass „rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind“.

Dass Statusrechte für die Ausübung aller anderen Rechte eine erhebliche Bedeutung haben, versteht sich. Warum Gewährleistungen für Staatsangehörige reserviert bleiben sollen und nicht diskriminierungsfrei auf Unionsbürger angewandt werden, versteht sich allerdings schon viel weniger.

Die Direktiven, die das Gericht dem Gesetzgeber bei der Neufassung des IRG mit auf den Weg gibt, sind geeignet, Missverständnisse zu provozieren. In seiner maßgeblich an der Gewährleistung des Art. 16 Abs. 2 GG ausgerichteten Begründung stellt das Gericht einen „aus dem Statusrecht als Deutscher folgenden Schutzanspruch“ und damit eine Differenzierung zwischen Deutschen und Unionsbürgern in den Mittelpunkt. Sollte der Gesetzgeber das BVerfG beim Wort nehmen und den Auslieferungsschutz auf deutsche Staatsangehörige beschränken, könnte er sich damit in Widerspruch zu europarechtlichen Vorgaben setzen.

Dabei geht es um das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit gemäß Art. 12 Abs. 1 EG-Vertrag und die Einhaltung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 6 EU-Vertrag und Art. 21 Charta der Grundrechte. Würde der deutsche Gesetzgeber gestatten, so wie es das Bundesverfassungsgericht fordert, einen Unionsbürger, anders als einen Bundesbürger, an die Behörden eines dritten Mitgliedstaates auszuliefern, auch dann, wenn seine Tat einen überwiegenden Inlandsbezug hat, würde dies beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) als Ungleichbehandlung gesehen werden. Eine Beschränkung des Auslieferungsschutzes für Inlandstaten auf deutsche Staatsbürger könnte vom EuGH durchaus als ein Verstoß gegen das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot gewertet werden.

Das Bundesverfassungsgericht sieht in den Ausnahmeregelungen des Art. 4 Nr. 7 lit. a und b RbEuHb eine Ermächtigung des deutschen Gesetzgebers, entsprechend den Verfassungsvorgaben positiv zu diskriminieren, also die Rechtsstellung der deutschen Staatsbürger gegenüber den anderen Unionsbürgern zu stärken. Ob mit dieser Begründung eine unionsrechtliche Rechtfertigung gelingen kann, ist zweifelhaft. Der Europäische Rahmenbeschluss ist staatsangehörigkeitsneutral. Mit keinem Wort wird auf die Interessen der Mitgliedstaaten eingegangen, ihre Staatsangehörigen (noch) effektiver zu schützen als andere Unionsbürger. So scheint möglich, dass Deutschland mit einer Regelung getreu den Vorgaben des Verfassungsgerichtes nun gegen den Rahmenbeschluss verstößt. (Sanktionsmöglichkeiten für einen solchen Verstoß bestehen derzeit nicht.)

Die verfahrensrechtliche Besserstellung deutscher Staatsbürger gegenüber anderen Unionsbürgern dürfte auch mit Europäischen Grundrechten nicht in Einklang stehen. Bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses unterliegt die Bundesrepublik dem allgemeinen Gleichheitssatz als von Art. 6 EU-Vertrag anerkanntem und mittlerweile in der Grundrechtscharta (Artikel 21) niedergelegtem Verbot der Diskriminierung.

Die vom BVerfG postulierte Privilegierung der deutschen Staatsangehörigen gegenüber anderen Unionsbürgern steht also auch im Widerspruch zum Europäischen Grundrecht der Gleichbehandlung.

3. Strafrechtsharmonisierung als
Integrationsgrenze?

Der bundesdeutsche Gesetzgeber hat bei der Übertragung von Hoheitsrechten die Schranken zu wahren, die ihm das Grundgesetz in Art. 23 Abs. 1 GG setzt. Dessen Satz 1 verlangt, dass die Bundesrepublik sich nur an der Entwicklung einer EU beteiligt, die den „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einem diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“.Die Signale, die die Karlsruher Richter in Richtung Luxemburg aussenden, sind zum ersten Mal mit dem Maastricht-Urteil hörbar geworden. Anders als in den „Solange“-Entscheidungen stand dabei weniger die Sorge um einen angemessenen Grundrechtsschutz im Vordergrund, sondern die um die Grenzen der Integration. Im Zentrum des Problems steht das Demokratieprinzip. Das Gericht fordert in der Maastricht-Entscheidung, dass im europäischen Integrationsprozess ein „hinreichend effektiver Gehalt an demokratischer Legitimation gewahrt wird“ (E 89, 155 (182) – Maastricht). Dieser unabdingbare demokratische Zusammenhang, wonach die Normunterworfenen jedenfalls prinzipiell an der Entstehung dieser Normen beteiligt sein müssen, kann allerdings auf verschiedene Weise gedeutet werden. Der Zweite Senat liefert aber mit seiner Feststellung, dass die Strafrechtsharmonisierung eine Integrationsgrenze sein soll, keine nachvollziehbare Deutung. Insofern weist Richterin Lübbe-Wolff zu Recht mit Bezug auf das Mehrheitsvotum darauf hin, dass wegen der Einstimmigkeit des Beschlusses die Mitgliedstaaten der EU in ihrer Entscheidung frei sind. Die demokratische Legitimation bleibt die große Frage der Europäischen Integration. Zu ihrer Beantwortung hat aber Karlsruhe in diesem Verfahren nichts geleistet.

4. Nichtigkeitserklärung als
antieuropäischer Kraftakt

Richterin Lübbe-Wolff weist darauf hin, dass es – um Verfassungsverstöße auszuschließen – genügt hätte festzustellen, dass Auslieferungen auf der Grundlage des Gesetzes in bestimmten näher bezeichneten Fällen bis zum In-Kraft-Treten einer verfassungskonformen Neuregelung nicht zulässig sind. Mit der Nichtigerklärung des Gesetzes werde dagegen die Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls auch in verfassungsrechtlich völlig unproblematischen Fällen ausgeschlossen – beispielsweise sogar die Auslieferung von Staatsangehörigen des ersuchenden Staates wegen in diesem Staat begangener Taten. Die Bundesrepublik Deutschland werde so zu Verstößen gegen das Unionsrecht gezwungen, die ohne Verfassungsverstoß hätten vermieden werden können. Auf der Grundlage eines engeren Rechtsfolgenausspruchs müsste auch die nun fällige erneute Entscheidung des Oberlandesgerichts nicht notwendigerweise zugunsten des Beschwerdeführers ausfallen. Denn ob der Fall des Beschwerdeführers zu einer der Fallgruppen gehöre, für die die Regelungen des Europäischen Haftbefehlsgesetzes unzureichend sind, ist bislang nicht geklärt worden.

Der Zweite Senat folgt streng den von Luxemburg vorgegebenen Zuständigkeitsregeln und rührt den Rahmenbeschluss nicht an. Gleichzeitig zeigt das Mehrheitsvotum deutlich „wir können auch anders“ und setzt schließlich den Paukenschlag: Das Gesetz ist nichtig. Mit diesem Rundumschlag aber schadet Karlsruhe der europäischen Integration.

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