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Mitteilungen19203/2006Seite 22-23

Interview mit dem neuen Redakteur der vorgänge, Dieter Rulff

Mitteilungen Nr. 192, S.22-23

Für seine West-Berliner Sendung „Radio Glasnost“ ließ Dieter Rulff unter abenteuerlichen Bedingungen Schriften von DDR-Bürgerrechtlern über die Grenze schmuggeln, um der im Westen weitgehend unbekannten Bürgerbewegung eine Stimme zu geben. Später kommentierte er bei der taz und der Hamburger Zeitung Die Woche das politische Geschehen in der Bundesrepublik. Nun übernimmt der 53-Jährige die Redaktionsleitung der Zeitschrift vorgänge. Sein erklärtes Ziel auch diesmal: Intervenieren. Mit dem Berliner Journalisten sprach Antje Wegwerth.

AW: Die zurückliegenden 15 Jahre Ihrer beruflichen Biografie im Schnelldurchlauf: Ab 1991 Redakteur und politischer Kommentator der taz, dann Wechsel zu Die Woche, wo Sie das Ressort Politik leiten. Im März 2002 wird Die Woche eingestellt, Sie arbeiten als freier Journalist für überregionale Zeitungen.

DR: Ja, von FAZ bis taz.

AW: Ende des vergangenen Jahres dann das Angebot, den Redakteursposten der vierteljährlich erscheinenden vorgänge zu übernehmen. Haben Sie gleich „Ja“ gesagt?

DR: Ja. Ich habe mich sehr gefreut, dass dieses Angebot an mich herangetragen wurde.

AW: Warum?

DR: Aus zwei Gründen. Der eine sind die vorgänge selbst, die ich für ein sehr gutes, themenzentriertes, aber auch breit politisch angelegtes Blatt halte. Der zweite Grund: Es passt zu meinem Arbeitsrhythmus. Ich kann mich sozusagen voll darauf einlassen.

AW: Sie wollen parallel weiter als freier Journalist arbeiten?
DR: Ich werde nebenher wahrscheinlich das eine oder andere frei schreiben. Zumal die Themenüberschneidungen da sind.

AW: In der Vergangenheit haben Sie vielfach über die Entwicklung der bundesdeutschen Parteien geschrieben.

DR: Die bundesdeutschen Parteien sind eine meiner Leidenschaften. Ich befasse mich in letzter Zeit allerdings mehr mit den gesellschaftlichen Hintergründen, auf denen Politik stattfindet. Das ist im Moment sogar noch spannender als das, was in den Parteien passiert.

AW: Wird das ein programmatischer Schwerpunkt der vorgänge werden?

DR: Das war es auch schon in der Vergangenheit und das wird es weiterhin geben. Ich denke zum Beispiel an die Tendenzen zur Exklusion innerhalb der Gesellschaft, die nicht mit den früheren Begriffen von Randständigkeit oder Unterschichten gleichzusetzen sind, sondern sehr viel weitgehender in die Gesellschaft, also auch in höhere, vermeintlich sozial sichere Gruppen eingreifen und dort für erhebliche Reibungen sorgen. Wie man dem begegnet, welche Abwehrstrategien es gibt, das ist eine Diskussion, die in Deutschland erst am Anfang ist. Dort meinungsbildend tätig zu werden, ist sicher auch eine Aufgabe der vorgänge.

AW: Haben Sie ein konkretes Themenheft vor Augen?

DR: Ich könnte mir vorstellen, zu der Frage der Ausgeschlossenen der Gesellschaft ein Schwerpunktheft zu machen. Weitere Themen, die ich gleichermaßen spannend finde, sind die Folter, oder was sehr nahe liegt, die Frage der Selbstbestimmung des Menschen am Ende oder auch am Anfang seines Lebens. Was begrenzt das Leben? Und vor allem: Wer begrenzt es? Das sind gerade in einer älter werdenden Gesellschaft Probleme, mit denen jeder konfrontiert ist.

AW: In der nächsten Ausgabe der vorgänge geht es um eine weitere, aktuelle gesellschaftspolitische Debatte: „Religion und moderne Gesellschaft“. Ein brennendes Thema, das jetzt durch den Karikaturenstreit an Brisanz gewonnen hat. Wird der Karikaturenstreit im Heft aufgegriffen?

DR: Soweit ich weiß nicht. Die Themenfindung war vor meiner Zeit. Hier gab es wohl eine nicht beabsichtigte Koinzidenz zwischen der Themensetzung und dem Karikaturenstreit.

AW: Ihr Vorgänger, Alexander Cammann, hat sich um Texte von bekannten Persönlichkeiten bemüht, die Experten auf ihrem Gebiet sind, aber nicht unbedingt Journalisten. Wie wollen Sie es machen?

DR: Ich achte darauf, dass die Autoren bekannt sind und ihr Ansatz lesenswert und originell ist. Natürlich sollte der Autor auch auf eine Art und Weise schreiben können, die für jemanden, der nicht vom Fach ist, verständlich ist. Das ist bei wissenschaftlichen Texten manchmal schwierig.

AW: Blickt man etwas weiter in Ihrer Biografie zurück, fällt auf, dass Sie erst spät zum Journalismus gefunden haben. Nach Ihrem Politikstudium arbeiteten Sie zunächst in einer Drogenberatungsstelle. Dann folgte etwas sehr Spannendes: Sie haben das West-Berliner Radio 100 mitbegründet und waren verantwortlicher Redakteur der Sendung Radio Glasnost, die Bürgerrechtlern der DDR schon zwei Jahre vor dem Mauerfall ein Forum geboten hat. Wie kam es zu dieser Idee?

DR: Die Idee war gleichzeitig naheliegend und fern. Naheliegend insofern, als das Radio natürlich das ideale Medium war, das Anliegen der Bürgerbewegungen einem breiten Publikum in der DDR zu vermitteln. Fern war die Idee, weil die Mauer noch stand und es zunächst ungewohnt war, ein Verhältnis zu dieser Bewegung zu haben. Ich bin dann im Laufe der Arbeit der Bürgerbewegung mit all ihren Problemen und Impulsen, die sie in sich trug, näher gekommen. Das Produzieren war natürlich schwierig, weil ich die Absender der Beiträge, die bei uns ankamen, teilweise nicht kannte.

AW: Die kamen per Post?

DR: Die kamen nicht per Post. Die kamen auf verschiedenen Wegen zu uns.

AW: Über Mittelsleute?

DR: Über Mittelsleute, über diverse Transporteure. Wir haben garantiert, dass wir die Beiträge, so, wie wir sie bekommen, auch abstrahlen, ohne eine irgendwie geartete inhaltliche Zensur. Was manchmal, das muss man dazu sagen, auf Kosten der Hörbarkeit ging. Aber das war die Grundlage der Zusammenarbeit. Uns gegenüber bestand natürlich auch das Misstrauen, wir würden die Sachen nicht so senden, wie es intendiert war.

AW: Kam dieses Misstrauen aus der Erfahrung mit der Zensur in der DDR?

DR: Nein, man kannte in der DDR so eine Art der Zusammenarbeit nicht. Es war eine Zusammenarbeit zwischen Unbekannten. Die kannten uns nicht persönlich und wir kannten sie nicht. Viele, deren Positionen wir gesendet haben, habe ich erst nach dem Fall der Mauer persönlich kennen gelernt, etwa Reinhard Schult oder Wolfgang Templin. Insofern war es ein blindes Vertrauen, was man zueinander hatte.

AW: Die Beiträge waren auch anonymisiert? Sie wussten nicht, von wem die Beiträge waren, die gesendet wurden?

DR: Wir wussten jeweils, dass die Quellen sicher waren. Wir mussten uns natürlich absichern, dass uns nicht irgendwelches Material der Stasi zugespielt wurde. Das war garantiert. Von daher kannten wir über Mittelsleute auch immer die Quellen.

AW: Stellten Sie in dieser Zeit für sich fest, dass Journalismus genau das ist, was Sie möchten?

DR: Das war ja nun eine ganz spezielle Form des Journalismus, die wir betrieben haben. Ich fand es eine der besten und spannendsten, die ich je gemacht habe, mit der klaren politischen Intention, die Bürgerbewegung in der DDR zu stärken. Was vor 1989 im Westen keine Selbstverständlichkeit war.

AW: Auch Ihre heutige Arbeit hat eine starke politische Intention. Sie sind jemand, der Ereignisse nicht nur wertneutral begleiten und beschreiben will, sondern kommentiert, meinungsbildend wirken möchte.

DR: Es ist eine der Attraktivitäten des Journalismus, dass man damit intervenieren kann. Natürlich in der passenden Form, nicht in Nachrichtentexten, sondern in Kommentaren und Essays.

AW: Das planen Sie in den vorgänge-Heften weiterzuführen?

DR: Ich begreife die vorgänge als Zeitschrift, die auf reflektierte Art und Weise Position zu gesellschaftspolitischen Themen beziehen will, die gute Texte zur Verfügung stellt, auf deren Basis sich jeder über einen Sachverhalt eine eigene Position erarbeiten kann.

AW: Vielen Dank für das Gespräch.

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