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"Vorrats­da­ten­spei­che­rung" verstößt gegen Grundrechte und untergräbt eine freie Gesell­schaft (Langfassung)

16. Juni 2006

Positions- und Forderungspapier der Humanistischen Union für das FORUM MENSCHENRECHTE

Das FORUM MENSCHENRECHTE – ein Netzwerk von über 45 deutschen Nichtregierungsorganisationen – ist besorgt über die zunehmende Infragestellung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und des Telekommunikationsgeheimnisses im Rahmen der Terrorismusbekämpfung und der Bekämpfung anderer schwerer Straftaten. Beispielhaft sei hier der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11. November 2005 genannt, in dem zum Ausdruck kommt, dass Datenschutzregelungen aus der Sicht der Koalitionäre „einer effektiven Bekämpfung des Terrorismus und der Kriminalität entgegenstehen“ könnten und dass überprüft werde, inwieweit dies zutreffe.

Mit der Begründung, die Vorratsdatenspeicherung sei ein wirksames Ermittlungswerkzeug gegen organisierte Kriminalität und Terrorismus haben der Rat der Europäischen Union – mit Zustimmung der Bundesjustizministerin Zypries – und das Europäische Parlament am 15. März 2006 die „Richtlinie über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG“ beschlossen.

Mit der Zustimmung zu dieser Richtlinie hat die Bundesregierung einen Paradigmenwechsel beim Schutz personenbezogener Daten vorgenommen: Bisher geltende Strukturprinzipen des Datenschutzes auf europäischer und nationaler Ebene, wie Zweckbindung, Datensparsamkeit und ?vermeidung, werden mit dieser Richtlinie faktisch aufgehoben, die bisher geltende Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation (2002/58/EG) wird ausgehöhlt und ist nunmehr an vielen Punkten wirkungslos.

Aus Sicht des FORUM MENSCHENRECHTE verstößt die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens und des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses aus Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Eine Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht verletzt das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, wie es das Bundesverfassungsgericht aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) formuliert hat, sowie das Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 GG. Darüber hinaus haben sich EU-Rat und EU-Parlament beim Beschluss der Richtlinie auf die falsche Rechtsgrundlage (Art. 95 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft – EGV) gestützt. Der Inhalt der Richtlinie verfolgt in erster Linie Strafverfolgungsinteressen. Die Regelung der Vorratsdatenspeicherung hätte daher ihre Rechtsgrundlage im Titel VI des Vertrages über die Europäische Union (EUV) finden müssen.

1. Zum Hintergrund

Durch die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung werden alle Telekommunikationsdiensteanbieter innerhalb der Europäischen Union, die öffentlich zugängliche Dienste anbieten, verpflichtet, bestimmte Verkehrs- und Standortdaten, die bei elektronischer Kommunikation entstehen, und die dazu gehörenden Namen und Adressen der NutzerInnen für mindestens sechs bis maximal 24 Monate zu speichern. Verpflichtet werden durch die Richtlinie Internetprovider, Festnetztelefonieanbieter, Mobilfunkbetreiber und Betreiber öffentlicher Kommunikationsnetze.

Gespeichert werden Rufnummern bzw. Benutzerkennungen und beim Internetzugang die zugewiesene IP-Adresse sowie die jeweils dazugehörigen Namen und Adressen von AnruferInnen und Angerufenen, E-Mail-VersenderInnen und ?EmpfängerInnen sowie Datum, Zeit, Dauer der Telefon- oder Internetverbindung, der Standort beim Beginn einer Mobilfunkfunkverbindung sowie die Mobilteilnehmerkennung (d.h. die SIM-Kartennummer, IMSI) und Mobilfunkgerätekennung (IMEI). Erfasst wird auch, welcher Telekommunikationsdienst in Anspruch genommen wurde. SenderIn und EmpfängerIn sollen jeweils innerhalb eines Kommunikationsvorgangs identifizierbar sein ebenso wie die eingesetzten Kommunikationsmittel (z.B. E-Mail, SMS, Festnetztelefonat etc.).

Zweck dieser Speicherung auf Vorrat soll sein, die anfallenden Verkehrs- oder Verbindungs- sowie Standortdaten nach Maßgabe des nationalen Rechts für die Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von schweren Straftaten zur Verfügung zu stellen.
Den Mitgliedstaaten der Europäischen Union bleibt eine Frist bis zum 15. September 2007, um im nationalen Recht entsprechende Vorschriften für die Speicherpflicht in Kraft zu setzen. Für den Bereich der Speicherung von Internet-Daten (Internetzugang, Internet-Telefonie, Internet-E-Mail) hat sich die Bundesrepublik eine Umsetzungsfrist bis zum 15. März 2009 vorbehalten (Ratsdok. 5777/06 ADD 2 REV 2 COR 1 v. 20.2.2006).

Offenbar beabsichtigt die Bundesregierung, in absehbarer Zeit einen Gesetzentwurf zur Umsetzung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung vorzulegen. Das FORUM MENSCHENRECHTE beobachtet dies mit großer Besorgnis und wendet sich daher mit einer Stellungnahme und Forderungen an die Bundesregierung und den Bundestag.

2. Grund­recht­li­che/­men­schen­recht­liche Bewertung der Richtlinie zur Vorrats­da­ten­spei­che­rung und einer Umsetzung in deutsches Recht

Die Nutzung von Telefon, Mobilfunk und Internet sind heute selbstverständlicher Teil des Privatlebens nahezu aller Bürgerinnen und Bürger, insbesondere in den westlichen Industriestaaten. Ebenso basiert die Privatwirtschaft auf der intensiven Nutzung dieser Kommunikationsmöglichkeiten. Die zugrundeliegende digitale Technologie ist derzeit so gestaltet, dass jeder einzelne Nutzungsschritt der genannten Medien zunächst digital aufgezeichnet und in aller Regel einer bestimmten Person zugeordnet werden kann. Auf diese Weise können Verhaltensweisen von Einzelpersonen auf bislang nie da gewesene Weise bis hin zu eingehenden Persönlichkeitsprofilen technisch gewährleistet werden. Allerdings beschränkt sich die gegenwärtige Praxis der Speicherung bei Telekommunikations- und Internetprovidern grundsätzlich auf diejenigen Verkehrsdaten, welche für die Erbringung des Dienstes und anschließend zu Abrechnungszwecken erforderlich sind. Der Zeitraum der Speicherung übersteigt grundsätzlich nicht sechs Monate. Diese Praxis entspricht zumindest überwiegend der Gesetzeslage.

Die Vorratsspeicherung, wie sie die Richtlinie vorsieht, ermöglicht die lückenlose Aufzeichnung des Kommunikationsverhaltens sämtlicher NutzerInnen von elektronischer Kommunikation. Über mindestens sechs Monate wird damit rekonstruierbar, wer wann wie lange mit wem von welchem Ort aus kommuniziert hat und welches Kommunikationsmedium dabei verwendet wurde. Mithilfe der automatisierten EDV ist es leicht möglich, Einzelangaben zusammenzutragen, um Nutzungs-, Bewegungs- und Persönlichkeitsprofile zu erstellen und somit ein umfassendes Bild des Menschen sowie seiner Lebensumstände zu erhalten. Entgegen den Äußerungen der Bundesjustizministerin ist es trotz des zwischen Europäischem Rat und Europäischem Parlament vermeintlich erzielten Kompromisses weiterhin möglich, Bewegungsprofile zu erstellen. Denn nach der Richtlinie werden nach wie vor eine Reihe von Standortdaten bei der Kommunikation gespeichert: Bei Mobilfunkverbindungen betrifft dies den Standort bei Beginn der Kommunikation. Bei Festnetzanschlüssen oder der Interneteinwahl erfolgt eine Standorterfassung bereits durch die Adressenspeicherung der Nutzerin / des Nutzers (in der Regel die Rechnungsadresse). Das bedeutet, dass mit nur wenigen Kommunikationsvorgängen am Tag, dazu gehören beispielsweise Empfang einer SMS, Abrufen der Mailbox, Einwahl ins Internet am privaten PC, ein bis zwei Telefonate, relativ genaue Bewegungsprofile einer Person erstellt werden können – und das europaweit.

Mit der Einführung einer obligatorischen und überdies verdachtslosen Speicherung würde der über jede Person anfallende Datenschatten sämtlicher ihrer über technische Medien vorgenommenen Verhaltensweisen für eine längere Dauer in einem dem potentiellen Zugriff aller befugten Stellen angelegten Informationsreservoir zur Verfügung gestellt. Nach deutschem Recht sind bereits die Strafverfolgungsbehörden und – seit dem Inkrafttreten des Terrorismusbekämpfungsgesetzes – das Bundesamt für Verfassungsschutz, der Bundesnachrichtendienst und der Militärische Abschirmdienst sowie je nach landesgesetzlicher Regelung die Landesämter für Verfassungsschutz befugt, die bisher vorhandenen Verbindungsdaten unter bestimmten Voraussetzungen abzufragen.

Für das FORUM MENSCHENRECHTE ist die verdachtslose und umfassende Speicherung der Telekommunikationsverbindungsdaten sämtlicher NutzerInnen nicht hinnehmbar. Die Freiheit und die Vertraulichkeit des Briefverkehrs und anderer Kommunikationsformen gehören zu den Pfeilern einer demokratischen Gesellschaft. Sie stehen daher sowohl unter besonderem Schutz durch die Verfassung als auch durch die Europäische Menschenrechtskonvention. Die Vorratsspeicherung droht nicht nur das Vertrauen der Bevölkerung in die Nutzung dieser Kommunikationsmittel insgesamt und nachhaltig zu beschädigen. Denn Grundlage dieser mit sensitivsten Daten der Bürgerinnen und Bürger arbeitenden Infrastrukturen ist das – stets auch von der Europäischen Union betonte – Vertrauen in deren datenschutzrechtlich abgesicherte Nutzbarkeit. Darüber hinaus trifft dies den vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung hervorgehobenen Punkt, wonach die Befürchtung einer staatlichen Überwachung schon im Vorfeld zu Befangenheit in der Kommunikation und damit zu Kommunikationsstörungen und Anpassungen führen könne. Die drohenden Einschränkungen der Grund- und Menschenrechte durch die Vorratsdatenspeicherung erschüttern die Kommunikation einer freien Gesellschaft daher insgesamt.

Die Vorratsspeicherung der Verkehrs- und Verbindungsdaten verletzt das Recht auf Achtung des Privatlebens und der Korrespondenz aus Art. 8 der EMRK. Gerechtfertigt sind Eingriffe in Art. 8 EMRK nur, soweit sie gesetzlich vorgesehen sind und eine Maßnahme darstellen, die in einer demokratischen Gesellschaft u.a. zum Schutz der nationalen oder öffentlichen Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Der Europäische Gerichtshof hat jedoch betont, dass bei heimlicher Überwachung die Gefahr besteht, dass die Demokratie mit der Begründung, sie verteidigen zu wollen, unterminiert und zerstört wird. Er hat darüber hinaus bekräftigt, dass die Vertragsstaaten zur Bekämpfung der Spionage und des Terrorismus nicht jede Maßnahme beschließen dürfen, die sie für angemessen halten.

Auch mit dem Grundgesetz wäre eine derartige Vorratsspeicherung nach Ansicht des FORUM MENSCHENRECHTE nicht vereinbar. Dies ergibt sich aus dem Volkszählungsurteil (BVerfGE 65, 1) und der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (s. z.B. das Urteil zur strategischen Überwachung durch den BND, 1 BvR 2226/94, zum niedersächsischen SOG, 1 BvR 668/04 oder zur Rasterfahndung, 1 BvR 518/02). Selbst berechtigte Zwecke der Strafverfolgung können einen derart massiven Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 1 Abs. 2 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG sowie in das Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 GG nicht rechtfertigen. Denn die vorgesehene Vorratsspeicherung ist vollkommen maßlos und damit unverhältnismäßig. Das grundlegend neue Element bei der Vorratsdatenspeicherung besteht in der verpflichtenden Speicherung sämtlicher Daten sämtlicher NutzerInnen – auch wenn sie nicht zu Abrechnungszwecken erforderlich sind. Damit wird – zumindest mit Blick auf den bei personenbezogenen Daten unstreitig als Grundrechtseingriff zu qualifizierenden Speicherungsvorgang – jegliche Unterscheidung zwischen mutmaßlichen Tatverdächtigen, bloßen Kontaktpersonen und bislang völlig unbescholtenen BürgerInnen aufgegeben. Im Gegenteil müssen sämtliche Bürgerinnen und Bürger einen massiven Eingriff hinnehmen, um die nach Aussagen von ExpertInnen sich bei dieser Vorgehensweise allenfalls im Promillebereich bewegende potentielle Erkennung einer Straftäterin / eines Straftäters zu ermöglichen.

3. Forderungen des FORUM MENSCHEN­RECHTE

Das FORUM MENSCHENRECHTE erinnert den Deutschen Bundestag an dessen ablehnende Haltung gegenüber einer Mindestspeicherpflicht für Verkehrsdaten bei der Novellierung des Telekommunikationsgesetzes im Sommer 2004. Begründet wurde die Ablehnung damals mit verfassungsrechtlichen Bedenken und finanziellen Belastungen für die Telekommunikationsanbieter. Erneuert wurde diese Position im Dezember 2004, als der Bundestag eine Entschließung des Rechtssausschusses annahm, mit der die Bundesregierung einstimmig aufgefordert wurde, den Plänen der EU-Gremien zur Vorratsdatenspeicherung nicht zuzustimmen. Dieses geschah unter dem Vorbehalt, dass entsprechende Rechtstatsachen vorgelegt werden, die die Notwendigkeit einer solchen Regelung auf europäischer Ebene darlegen und eine neue Behandlung dieser Thematik erfordern (BT-Drs. 15/4597, Nr. 8).

Nach Ansicht des FORUM MENSCHENRECHTE konnte die Bundesregierung bislang weder einen konkreten Bedarf für eine Vorratsdatenspeicherung darlegen noch deren Verhältnismäßigkeit nachweisen. Die in der Erwägung Nr. 9 der Richtlinie behauptete „erwiesene“ Notwendigkeit und Wirksamkeit dieses Ermittlungswerkzeugs, kann für sich genommen keine Rechtfertigung sein. Auch der im Februar dieses Jahres vorgelegte Rechtstatsachen-Bericht des Bundeskriminalamtes (BKA) zu „Mindestspeicherungsfristen für Telekommunikationsverbindungsdaten“ belegt die Notwendigkeit nicht.  Zwar hielten die Ermittlungsbehörden ganz überwiegend die Auskunft über Verkehrsdaten für die Aufklärung von Straftaten für wichtig bis sehr wichtig. Aufgrund schwerer methodischer Mängel des Berichts handelt es sich aber offenkundig nur um eine Einschätzung ohne Bezug zur Aufklärung einer bestimmten Straftat. Wünsche und Begehrlichkeiten der Strafverfolgungsbehörden können aber kein Maßstab für derart gravierende Eingriffe darstellen. Im Übrigen lag der Anteil der Fälle mit Terrorismusbezug, in denen Verkehrsdaten relevant waren, dem Bericht zufolge bei lediglich 0,5 Prozent.

Die von einigen Regierungen (z.B. der britischen Regierung nach den Terroranschlägen in London) unternommenen Rechtfertigungsversuche wie auch der BKA-Bericht lassen keinen eindeutigen Zweck einer solchen Maßnahme wie der Vorratsdatenspeicherung erkennen, sondern reichen von den Zwecken der Terrorismusbekämpfung und der Bekämpfung des organisierten Verbrechens bis hin zur allgemeinen Straftatenverfolgung. Ebenso hat Bundesjustizministerin Zypries auf europäischer Ebene bereits erkennen lassen, dass sie den Zugriff auf die entstehenden Datenbestände auch für leichte oder mittelschwere Straftaten wie etwa den geplanten Straftatbestand des „Stalking“ eröffnen wolle. Damit aber wird den Begehrlichkeiten der Behörden bis hin zur Forderung nach Nutzung zur Verfolgung von bloßen Ordnungswidrigkeiten Tür und Tor geöffnet. Eine derart lückenlose Speicherung kann jedoch nicht allein damit gerechtfertigt werden, dass sie zur Strafverfolgung hilfreich wäre. Ansonsten wäre einer vollständigen Erfassung und Überwachung der Kommunikation, der Bewegung sowie der Kontakte und letztendlich sämtlicher Lebensäußerungen aller Bürgerinnen und Bürger der Weg geebnet.

Alter­na­tiven überprüfen

Das FORUM MENSCHENRECHTE fordert den Bundestag auf, sich ernsthaft mit Alternativen zur Vorratsdatenspeicherung zu beschäftigen. Alternative Regelungsansätze wie das in den USA praktizierte anlassbezogene Vorhalten – Data Freeze oder Quick Freeze (das heißt „Einfrieren“ auf Anordnung der Strafverfolgungsbehörden und „Auftauen“ auf richterlichen Beschluss) – sind bisher nicht ernsthaft erwogen worden, sondern mit irreführenden Beispielen abgetan worden.  Selbst im genannten Bericht des BKA äußerte nur die Minderheit, dass das „Einfrieren“ keine geeignete Alternative zur Speicherpflicht darstelle.  Mit einem solchen Quick-Freeze-Verfahren könnte man dem Interesse einer effektiven Strafverfolgung wirksam und zielgerichtet nachkommen, so auch die Entschließung der 70. Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder am 27. und 28. Oktober 2005.

Nichtig­keits­klage beim EuGH erheben

Abgesehen von den schweren verfassungsrechtlichen und menschenrechtlichen Unvereinbarkeiten, die das FORUM MENSCHENRECHTE in der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung und einer Umsetzung in nationales Recht sieht, bestehen darüber hinaus massive Zweifel an der Rechtsgrundlage auf europäischer Ebene. Die Pläne zu einer europaweit einheitlichen Speicherung von Verkehrs- und Verbindungsdaten waren stets als Fragen der justiziellen Zusammenarbeit in der sogenannten dritten Säule beraten worden und daher zunächst in einem Entwurf für einen Rahmenbeschluss vorgelegt worden (Ratsdok. 8958/04 v. 28.4.2004). Erst nachdem deutlich wurde, dass es für den Vorschlag nicht die erforderliche Einstimmigkeit geben wird, ist auf einen Richtlinienentwurf ausgewichen worden, der sich auf Artikel 95 EG-Vertrag stützte und der mit qualifizierter Mehrheit im Mitentscheidungsverfahren beschlossen wurde. Regelungen, die sich auf Artikel 95 EG-Vertrag stützen, dienen jedoch zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben. Das ist bei Vorschriften zur Vorratsspeicherung von Kommunikationsdaten zu Zwecken der Strafverfolgung aber gerade nicht der Fall. Der Wechsel zwischen den europäischen Rechtsgrundlagen ist daher allein auf politische Erwägungen zurückzuführen.

Zweifel an der Rechtsgrundlage hatte auch mehrfach der Bundestag geäußert, zuletzt in einem am 16. Februar 2006 angenommenen Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD (BT-Drs. 16/545) und nun in einem weiteren fraktionsübergreifenden Antrag von Bündnis 90/DIE GRÜNEN, FDP und Linkspartei (BT-Drs. 16/1622). Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 30. Mai 2006 zur Weitergabe von Fluggastdaten an die USA (C-317/04, C-318/04) bekräftigt die Zweifel an der Rechtsgrundlage. Der EuGH hatte betont, dass die Tatsache der privat ausgeführten Datenverarbeitung diese nicht der Zuordnung zum Bereich öffentlicher Sicherheit entzieht. Für die Einordnung allein maßgeblich ist der Zweck, dem die Verarbeitung bei einem Privatunternehmen dient. Dieser Rechtsgedanke dürfte auch für die zukünftig zur Speicherung von Vorratsdaten verpflichteten Telekommunikationsunternehmen Anwendung finden. Auch Bundesjustizministerin Zypries hat mittlerweile eingeräumt, dass das EuGH-Urteil Auswirkungen auf die Beurteilung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung haben wird (Der Standard, 1.6.2006).
Das FORUM MENSCHENRECHTE fordert die Bundesregierung als einzig Klageberechtigte auf, vor dem Europäischen Gerichtshof nach Artikel 230 EGV eine Nichtigkeitsklage gegen die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung zu erheben. Bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs fordert das FORUM MENSCHENRECHTE die Bundesregierung auf, von einer Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht abzusehen.

Keine Zustimmung zu einem verfas­sungs­wid­rigen Umset­zungs­ge­setz

In Anbetracht der schwerwiegenden Verletzungen des Fernmeldegeheimnisses und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und der Gefährdung des demokratischen Gemeinwesens durch eine verdachtslose Speicherung sämtlicher Telekommunikationsverbindungsdaten fordert das FORUM MENSCHENRECHTE den Bundestag auf, einem Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht unter keinen Umständen zuzustimmen.

Berlin, den 16. Juni 2006

Das Positionspapier wurde von der Humanistischen Union in das Plenum des Forum Menschenrechte eingebracht und dort verabschiedet. Das FORUM MENSCHENRECHTE ist ein Netzwerk von über 45 deutschen Nichtregierungsorganisationen, die sich für einen verbesserten, umfassenden Menschenrechtschutz einsetzen – weltweit, in bestimmten Weltregionen, Ländern und in der Bundesrepublik Deutschland.

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