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Straf­voll­zug: Vom schlei­chenden Ende der Resozi­a­li­sie­rung

28. August 2006

Bundesverfassungsgericht betont Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung des Jugenstrafvollzugs

Mitteilungen Nr. 194, S. 8-10

1. Am 31. Mai sprach das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein Hoffnung machendes Urteil, dessen Kernaussage darin besteht, dass der Vollzug der Jugendstrafe bis Ende 2007 auf eine eigenständige gesetzliche Grundlage gestellt werden muss (BVerfG, Urteil vom 31.05.2006, 2 BvR 1673/04, ZJJ 2006 S.193). Die Humanistische Union hatte sich in der vergangenen Zeit dafür eingesetzt, dass der bislang bestehende gesetzlose Zustand des Jugendstrafvollzugs endlich beendet wird (vgl. Mitteilungen 188, S.13: „Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug muss beim Bund bleiben!“, Mitteilungen 191, S.11: „HU fordert Jugendstrafvollzugsgesetz und Erhalt der Bundeskompetenz“). Davon sind jedes Jahr rund 17.000 Jugendliche und Heranwachsende betroffen, die zu einer Jugendstrafe verurteilt werden. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist zunächst ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Allerdings traf nur kurze Zeit später der Bundestag eine für den Strafvollzug, ja das Strafrecht insgesamt, verhängnisvolle Entscheidung: Am 30. Juni verabschiedete er die Gesetze zur so genannten Föderalismus-Reform einschließlich der in der Fachwelt unisono kritisierten Übertragung der Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug vom Bund auf die Länder. Ab demnächst werden nunmehr die Länder für den Strafvollzug zuständig sein.

2. Das Positive an dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist nicht nur die Tatsache, dass es die Notwendigkeit eines Jugendstrafvollzuggesetzes feststellt; bemerkenswert ist vielmehr, dass das Gericht zugleich einige wesentliche Mindestvorgaben für zukünftige gesetzliche Regelungen des Jugendstrafvollzugs formuliert und dem Gesetzgeber eine straffe Frist zur Umsetzung seiner Vorgaben mitgibt.

Das Urteil geht auf Verfassungsbeschwerden zurück, mit denen der eine Jugendstrafe absitzende Beschwerdeführer sich gegen die Postkontrolle und verschiedene Disziplinarmaßnahmen zur Wehr setzte. Nachdem er mit seinem Klageziel vor dem Oberlandesgericht gescheitert war, erhob er Verfassungsbeschwerde und argumentierte, dass die von der Justizvollzugsanstalt angeordneten Maßnahmen in seine Grundrechte eingriffen und es der Anstalt an der für Grundrechtseingriffe erforderlichen gesetzlichen Grundlage fehle. Zwar wies das BVerfG die konkreten Anträge des Beschwerdeführers ab, da es die Maßnahmen ausnahmsweise für die Übergangszeit auch ohne gesetzliche Grundlage als gerechtfertigt ansah. In der Sache war die Verfassungsbeschwerde jedoch erfolgreich.

Das Urteil stellt zunächst fest, dass die über den bloßen Entzug der Freiheit hinausgehenden Grundrechtseingriffe und -beschränkungen – wie stets – nur zulässig sind, wenn sie durch ein Gesetz geregelt werden. Dass dieser Grundsatz auch für Strafgefangene gelte, stehe seit dem Urteil des BVerfG vom 14. März 1972 fest (BVerfGE 33, 1). Für den Vollzug der Jugendstrafe gebe es bislang kein entsprechendes Gesetz, da das Jugendgerichtsgesetz nur vereinzelte Bestimmungen über den Jugendstrafvollzug enthalte, die zudem keine Befugnisnormen für Grundrechtseingriffe darstellten. Auch das Strafvollzugsgesetz könne nicht herangezogen werden, weil es nur den Vollzug der Freiheitsstrafe des Allgemeinen Strafrechts regele. Eine analoge Anwendung komme nicht in Betracht, da es keine „planwidrige Lücke“ im gesetzlichen Regelungswerk gebe. Außerdem unterschieden sich die beiden Materien – „Vollzug der Jugendstrafe“ und „Vollzug der Freiheitsstrafe“ – wegen der besonderen erzieherischen Ausrichtung der Jugendstrafe und der jugendlichen Lebensphase der Gefangenen mit all ihren Besonderheiten wesentlich voneinander.

Für zukünftige Gesetze zum Jugendstrafvollzug betont das BVerfG zunächst, dass das Ziel des Vollzuges der Jugendstrafe in der sozialen (Re-)Integration des Gefangen bestehen müsse. Dies folge aus dem verfassungsrechtlichen Schutz der Menschenwürde, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie der staatlichen Schutzpflicht für die Sicherheit aller Bürger. Für den Jugendstrafvollzug habe das Ziel der Befähigung zu einem straffreien Leben in Freiheit ein „besonders hohes Gewicht“.

Erfreulich sind die weiteren Feststellungen zu den Besonderheiten, die bei einem Jugendstrafvollzugsgesetz zu beachten sind. Zunächst hält das Urteil die besondere Strafempfindlichkeit junger Menschen fest, die sich aus einem anderen Zeitempfinden und daraus ergebe, dass sie in besonderem Maße unter der Trennung von der Familie und anderen Bezugspersonen sowie dem erzwungenem Alleinsein leiden.

Einen speziellen Regelungsbedarf macht das Urteil weiterhin für die Kontakte zu anderen Gefangenen und zur Außenwelt, bei der körperlichen Bewegung und der Reaktion auf Pflichtverstöße aus. Dezidiert fordert das Gericht, dass familiäre Besuchskontakte „um ein Mehrfaches“ häufiger als im Erwachsenenvollzug gewährt werden müssen, und dass das Rechtsschutzsystem altersangemessen und effektiv ausgestaltet werden müsse: Den derzeitigen Rechtsweg, der bei Beschwerden gegen Vollzugsmaßnahmen zum Oberlandesgericht geht ( § § 23 ff EGGVG) und schriftlich geführt werden muss, hält das Gericht nicht für geeignet.

Für die Ausgestaltung des Vollzuges verlangt das Gericht, dass wissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirksamkeit hinsichtlich des Zieles sozialer Integration berücksichtigt werden. Es billigt dem Gesetzgeber zwar einen weiten Spielraum bei der Vollzugsgestaltung zu, verlangt jedoch ausdrücklich, dass der Gesetzgeber das aus der Vollzugspraxis entstandene Erfahrungswissen nutzt und sich am Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis orientiert. Dazu verpflichtet es ihn auch, entsprechende Daten zu erheben und Forschung zu betreiben.

Schließlich bestimmt das Gericht, dass der Vollzug personell und sachlich so auszustatten sei, „wie es zur Realisierung des Vollzugszieles erforderlich ist“. Dies betreffe auch die Bereitstellung ausreichender Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, die Formen der Unterbringung und Betreuung, das soziale Lernen in der Gemeinschaft, den Schutz der Inhaftierten vor gegenseitiger Gewalt, eine ausreichende therapeutische und pädagogische Betreuung sowie angemessene Hilfen für die Zeit nach der Entlassung.

Zur Umsetzung dieser Vorgaben durch ein Jugendstrafvollzugsgesetz setzt das Bundesverfassungsgericht eine vergleichsweise knappe Frist bis Ende 2007.

3. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts geht zweifellos in die richtige Richtung. Durch die Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz auf die Länder gewinnt es noch an Bedeutung, denn die in diesem und den bislang ergangenen Urteilen zum Strafvollzug insgesamt gemachten Vorgaben sind von den Ländern bei der Erarbeitung ihrer Strafvollzugsgesetze zu beachten.

Nur drei Wochen nach diesem Grundsatzurteil hat zunächst der Bundestag und eine Woche später der Bundesrat das verfassungsändernde Gesetz zur sogenannten Föderalismusreform mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit verabschiedet (BT-Drs. 16/813). Das Gesetz sieht vor, dass aus Artikel 74 Absatz 1 Nummer 1 Grundgesetz, der die Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Rahmen der so genannten konkurrierenden Gesetzgebung enthält, der Strafvollzug gestrichen wird. Dies umfasst den Vollzug der Freiheitsstrafe ebenso wie den Jugendstrafvollzug und den Vollzug der Untersuchungshaft.

In der Fachwelt, insbesondere auch in der Anhörung vor dem Rechtsausschuss, ist dieser Teil scharf und fast einhellig kritisiert worden. Sachlich ist in der Tat nicht nachvollziehbar, dass das Strafrecht in einen bundeseinheitlichen Teil, der das materielle und das Prozessrecht umfasst, und in den den Ländern unterstehenden Teil des Vollzugrechts zerlegt wird. Der Rechtseinheitlichkeit fügt dies Schaden zu, die tatsächlichen Zustände in den Gefängnissen, die Ausrichtung des Vollzuges und die Arbeitsweise der Anstalten werden sich noch weiter auseinander entwickeln, als dies derzeit schon der Fall ist. Zu befürchten ist ein „Wettbewerb der Schäbigkeit“, wie es von einigen Sachverständigen formuliert wurde. In der Tat muss man davon ausgehen, dass die Länder vor allem am Vollzug sparen wollen. Zu erwarten ist, dass sich die Betreuungsangebote und die Personalschlüssel weiter verschlechtern werden.

Der Kriminologe und ehemalige niedersächsische Justizminister Christian Pfeiffer warnte zudem vor einer selbstgestellten Populismusfalle: Jedes Mal, wenn die Landesjustizminister zukünftig unter Druck geraten, sei es wegen entflohener Häftlinge oder von diesen während einer Vollzugslokkerung begangener Straftaten, werden auch Forderungen nach Verschärfungen der jeweiligen Landes-Strafvollzugsgesetze kommen. Manchen wird dieser Druck möglicherweise sogar willkommen sein.

Erwartungsgemäß haben aber auch schon anlassunabhängig verschiedene Justizminister einen härteren Kurs in Aussicht gestellt. So steht bspw. in dem schnell aus der Schublade gezogenen baden-württembergischen Entwurf für ein Jugendstrafvollzugsgesetz des freidemokratischen (!) Ministers Goll nicht die Resozialisierung an erster Stelle, sondern der Schutz der Allgemeinheit. (Bisher gibt es Gesetzentwürfe aus Bayern und Baden-Württemberg sowie den Referentenwurf des Bundesjustizministeriums.) Auch der neue Hamburgische Justizsenator Lüdemann hat in Interviews angekündigt, dem Kurs seines geschassten Vorgängers Kusch fortsetzen zu wollen. Konkret heißt dies: Sicherheit vor Resozialisierung, geschlossener Vollzug als Regelvollzug, Abschaffung des Hafturlaubs etc. (Lüdemann in der Welt v. 31.07.2006).

4. In den kommenden zwei Jahren wird es darauf ankommen, sicherzustellen, dass die Orientierung an der Resozialisierung und die Rechte der Gefangenen bei der Ausgestaltung der (Jugend-)Strafvollzugsgesetze ausreichende Beachtung finden. Das absurde Ergebnis, dass nun 16 Bundesländer den Vollzug der Freiheits- und Jugendstrafe sowie der Untersuchungshaft regeln müssen, wird diese Aufgabe nicht leichter machen. Völkerrechtlichen Vorgaben wie der Anti-Folter-Konvention und der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen und den in den letzten Jahren entstandenen internationalen Standards für das (Jugend-) Strafrecht kommen hierbei eine besondere Bedeutung zu. Denn das BVerfG sieht in ihnen einen Gradmesser dafür, wie sehr sich die jeweiligen Gesetzgeber an ihre Pflichten halten, den Vollzug an wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Wirkungen für die Resozialisierung auszugestalten. Eine wachsame Begleitung der Gesetzgebungsarbeit ist wichtiger denn je.

Nur angemerkt sei, dass auch auf einem anderen Feld das Thema Freiheitsentzug wieder eine Rolle spielt: die Bundesregierung und mehrere Bundesländer arbeiten zur Zeit an Konzepten zur Verbesserung des Schutzes des Kindeswohls. Dabei geht es auch um die geschlossene Unterbringung. Bayern hat sein Interesse hieran bereits durch einen eigenen, in den Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf demonstriert (BR-Drs. 296/06 v. 03.05.2006).

Jochen Goerdeler
ist Geschäftsführer der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen sowie Mitglied im Bundesvorstand der Humanistischen Union

Stellungnahmen der Sachverständigen in der gemeinsamen Anhörung der Rechtsausschüsse von Bundestag und Bundesrat: www.bundestag.de/ausschuesse/a06/foederalismusreform/anhoerung/02_justiz/Stellungnahmen/index.html
Eine Übersicht zu Gesetzentwürfen im Bereich Jugenstrafvollzugsrecht:
www.dvjj.de -> Themenschwerpunkte -> Gesetzgebung

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