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Die Freiheit zu sterben

Mitteilungen19604/2007Seite 14-17

Großes Medieninteresse an Fachtagung zu Sterbehilfe und Patientenverfügung

Mitteilungen 196, S. 14-17

Die Freiheit zu sterben

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Am 27. Februar hat die Humanistische Union gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung ihre Fachtagung „Die Freiheit zu sterben: Selbstbestimmung durch Sterbehilfe und Patientenverfügung“ veranstaltet. Das große öffentliche Interesse an diesem Thema zeigte sich bereits im Vorfeld der Tagung. Vielen Interessierten musste leider abgesagt werden, weil der Veranstaltungssaal bereits mit den angemeldeten Besucherinnen überfüllt war. Korrespondenten nahezu aller überregionalen Zeitungen waren auf der Tagung anwesend, um sich in Vorbereitung auf die anstehenden Debatten über die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung Informationen aus erster Hand zu holen.
Zur Eröffnung der Tagung warnte Ralf Fücks vor zu hohen Erwartungen an den beginnenden parlamentarischen Gesetzgebungsprozess. Unter den Abgeordneten des Bundestages gäbe es andere Mehrheitsverhältnisse als in der Bevölkerung. Diese Kluft zwischen öffentlicher und Fachmeinung auf der einen Seite und dem Meinungsbild unter den Bundestagsabgeordneten zeigte sich den Tagungsteilnehmern bei der Abschlussdiskussion am Abend (siehe Bericht auf Seite 12/13): Während das Publikum der Tagung – in diesem Punkt durchaus repräsentativ – mehrheitlich für eine Liberalisierung und Stärkung der Patientenverfügung eintrat, betonten zahlreiche Abgeordnete ihre Bedenken gegen eine Liberalisierung. Die Ursachen dieser Zweifel sah Fücks in den Erfahrungen mit der so genannten Euthanasie im Dritten Reich und dem befürchteten Mißbrauch liberaler Sterbehilfe-Regeln. Die beim Thema Sterbehilfe nahezu reflexhaft angestellten Vergleiche mit der gezielten Tötung durch nationalsozialistische „Gesundheitsprogramme“ vernebeln jedoch den Blick. Stellt schon die Inanspruchnahme des Begriffs für jene „Säuberungsprogramme“ die historische und etymologische Bedeutung der euthanasá­a auf den Kopf, müssen sich heutige Lebensschützer erst recht die Frage gefallen lassen, warum gerade ein paternalistisch betriebener Schutz der Patienten die geeignete Antwort auf nationalsozialistische Tötungsverbrechen sein soll. Medizinische oder staatliche Übergriffe im Namen übergeordneter Gesundheitsziele lassen sich am besten durch eine weitgehende Selbstbestimmung der Betroffenen abwehren.
Rosemarie Will wies in ihren einleitenden Worten darauf hin, dass eine gesetzliche Klärung der Patientenverfügungen längst überfällig sei. 1978 habe die Humanistische Union ihre ersten Patientenverfügungen veröffentlicht, spätestens seit diesem Zeitpunkt gibt es eine Diskussion um die Verbindlichkeit solcher Willenserklärungen. Der Gesetzgeber sei bisher jedoch taub geblieben. Die Konsolidierung der Patientenverfügungen erfolgte vielmehr durch die Rechtsprechung, wobei verschiedene Interpretationen und zum Teil widersprüchliche Urteile eine zunehmende Verunsicherung hervorrufen. Insofern bestehe ein dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf, um den zivilrechtlichen und den strafrechtlichen Rahmen für Patientenverfügungen und Sterbehilfe abzugrenzen.
Das eine strafrechtliche Klärung der Sterbehilfe und der Patientenverfügung nicht nur den Wünschen von Juristen entspreche, sondern vor allem für die betroffenen Patienten wichtig sei, unterstrich Torsten Verrel im ersten Referat der Tagung. Der Berichterstatter zum Thema Sterbehilfe für den 66. Deutschen Juristentag im vergangenen Jahr machte die fehlende gesetzliche Regelungen dafür verantwortlich, dass ein selbstbestimmtes Sterben in Deutschland schwierig durchzusetzen sei. „Die Entscheidung über die Vornahme oder Begrenzung lebenserhaltender Maßnahmen wird ebenso wie die Effizienz der Schmerzbehandlung in ganz erheblicher Weise von der Furcht vor vermeintlichen strafrechtlichen Konsequenzen bestimmt.“
Das die Furcht vor einer strafrechtlichen Verfolgung nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, konnte Verrel anhand der rechtspolitischen Diskussion und der Rechtsprechung der vergangenen 20 Jahre zeigen. Hierbei traten zahlreiche Widersprüche in der straf- und zivilrechtlichen Bewertung  sterbebegleitender Maßnahmen hervor: Während der Bundesgerichtshof (BGH) mit seiner Kemptener Entscheidung 1994 die Beendigung der künstlichen Ernährung auch außerhalb der Sterbephase als zulässige Form der passiven Sterbehilfe einordnete, sprachen Zivilrichter von einem unmenschlichen Verhungernlassen, das einer aktiven Sterbehilfe gefährlich nahe komme und deshalb nicht statthaft sei. Während die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung strafrechtlich immer wieder bestätigt und auch außerhalb der unmittelbaren Sterbephase für bindend angesehen wurde, billigte das Oberlandesgericht München sowohl den Ärzten als auch den Pflegern eine eigene Gewissensentscheidung gegenüber dem erklärten Willen der Patienten und den Betreuern beim Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen zu, schließlich sei der Arzt kein „willenloser Spielball einer Patientenverfügung“. Die Entscheidungen des 12. Zivilsenats des BGH in den Jahren 2003 und 2005 haben die Rechtsunsicherheit zum Thema Sterbehilfe schließlich komplettiert, indem sie die Verbindlichkeit der Patientenverfügungen entgegen der bisherigen Spruchpraxis nur noch auf die Phase der infausten Prognose beschränkten und zugleich eine fehlende strafrechtliche Klärung der Sterbehilfe im weiteren Sinne konstatierten.
Mit der letzten Entscheidung lieferte der BGH ein pauschales Rückzugsargument für jede Verweigerung, dem Wunsch nach Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen vor der unmittelbaren Sterbephase zu folgen. „Wenn sich schon das höchste deutsche Zivilgericht nicht dazu in der Lage sieht, die strafrechtliche Zulässigkeit der Einstellung einer künstlichen Ernährung bei einem Wachkomapatienten zu beurteilen, wie können wir dann von Ärzten, Pflegern, Betreuern und Bevollmächtigten erwarten, dass sie sich in der Kasuistik der Strafrechtsprechung zurechtfinden…“, warnte Verrel.
Wie groß die Rechtsunsicherheit sowohl unter Ärzten als auch unter Juristen über zulässige und gebotene Formen des Behandlungsabbruchs bei einem entsprechenden Patientenwunsch ist, verdeutlichte Verrel anhand verschiedener Befragungen. Dabei ordneten zahlreiche Juristen, aber selbst palliativmedizinisch geschulte Ärzte den Abbruch einer Flüssigkeitszufuhr, die Beendigung einer künstlichen Beatmung oder einer künstlichen Ernährung falsch der aktiven Sterbehilfe zu. Die Unsicherheiten über die Grenzen von passiver und aktiver Sterbehilfe, von Behandlungswunsch und Behandlungszwang sind nach Einschätzung Verrels Ausdruck einer „Rechtfertigungsmedizin“, die dem Patientenwillen keinen Raum lässt und sich in der Behandlung am technisch Machbaren orientiere. Eine gesetzliche Regelung müsse deshalb unbedingt zu einer Klärung der strafrechtlichen Bedingungen von Sterbehilfe beitragen. Andernfalls sei sie nur „Stückwerk“, das die Angst von Medizinern wie Angehörigen vor einer strafrechtlichen Verfolgung im Falle einer Behandlungseinstellung nicht abbauen werde.
Sein Plädoyer für eine strafrechtliche Klärung der Grenzen von Sterbehilfe wollte Verrel jedoch nicht als Beitrag zu einer Legalisierung aktiver Sterbehilfe verstanden wissen. „Durch die Klarstellung der nach der Rechtsprechung bereits jetzt zugelassenen Fälle von Sterbehilfe soll deutlich gemacht werden, dass in Deutschland gerade kein Bedarf für eine Lockerung des Verbots der Tötung auf Verlangen besteht.“ Zugleich sprach sich Verrel für eine Versachlichung der Diskussion über (aktive) Sterbehilfe aus: „Es muss endlich Schluss damit sein, dass diejenigen, die sich für eine eng begrenzte Straffreistellung aktiver Sterbehilfe aussprechen, mit dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten in Verbindung gebracht werden.“
Einen Schritt weiter ging der frühere Bundesvoorsitzende der Humanistischen Union, Till Müller-Heidelberg. In seinem Kommentar appellierte er zunächst daran, angesichts der elaborierten, aber auch widersprüchlichen juristischen Differenzierungen des Themas Sterbehilfe nicht den gesunden Menschenverstand aus dem Blick zu verlieren. Für Nicht-Juristen sei kaum nachvollziehbar, warum die Beihilfe zur Selbsttötung straffrei, die anschließend unterlassene Hilfe jedoch strafbewehrt sei oder worin der Unterschied zwischen einer Beihilfe zur Selbsttötung und zur Tötung auf Verlangen liege. Jede Lösung dieser Fragen müsse sich letztlich am Grad der Selbstbestimmung messen lassen, den sie den Betroffenen zugesteht. Warum sollte die Selbstbestimmung über das eigene Leben und den Tod erst ab dem Zeitpunkt einer infausten Prognose oder während einer schweren Erkrankung gelten? Diese Forderung ist nicht neu: Bereits 1983 hat der damalige HU-Vorsitzende Ulrich Klug in seiner Stellungnahme vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages die Auffassung vertreten, dass die Regelung des § 216 Strafgesetzbuch („Tötung auf Verlangen“) gegen die Achtung der menschlichen Würde und der Selbstbestimmung verstoße und deshalb verfassungswidrig sei.
Für die Darstellung der zivilrechtlichen Fragen skizzierte Volker Lipp von der Universität Göttingen zunächst die rechtliche Struktur des Arzt-Patienten-Verhältnisses. Ob, wann und wie lange bestimmte Behandlungen angewandt werden dürfen, unterliege neben der ärztlichen Indikation dem aktuellen Wunsch bzw. früheren Willenserklärungen des Patienten. Lipp betonte, dass die Anwendung einer Patientenverfügung im konkreten Fall meist mehrerer Interpretationen bedürfe: einerseits müsse erschlossen werden, welche Konsequenzen sich aus der (u.U. narrativ verfassten) Vorausverfügung konkret für die vorliegende Situation ergeben. Außerdem sei zu prüfen, ob nach der Abfassung der Patientenverfügung Indizien für eine Änderung des festgehaltenen Wunsches auszumachen sind. Schließlich ist zu entscheiden, ob die in der Patientenverfügung beschriebenen Umstände für einen Behandlungsabbruch vorliegen. F´¼r eine umfassende Vorsorge empfiehlt es sich deshalb, eine Patientenverfügung mit einer Betreuungsverfügung bzw. einer Vorsorgevollmacht zu kombinieren, um Problemen bei der Umsetzung der verfügten Nicht-Behandlungswünsche vorzubeugen. Für den rechtlichen Umgang mit Patientenverfügungen beschrieb Lipp folgende Streitfragen:
• Reichweitenfrage: In welchen Situationen wird ein in der Patientenverfügung festgehaltener (Nicht-)Behandlungswunsch wirksam?
• Beratungspflicht: Soll eine Patientenverfügung nur wirksam werden, wenn ihr eine (ärztliche) Beratung vorausgegangen ist?
• Formerfordernis: Ist die Wirksamkeit der Patientenverfügung an bestimmte Dokumentationsformen (schriftlich, notarielle Beglaubigung…) gebunden?
• Position der Betreuer/Bevollmächtigten: Welche Bindung an den Patientenwillen legt die Patientenverfügung dem Betreuer bzw. Bevollmächtigten auf und wann ist eine Abweichung vom vorverfügten Patientenwillen möglich?
In seinem weiteren Vortrag widmete sich Lipp mit dem Problem des Patientenwohls vor allem auf dem letzten Punkt. Die Patientenautonomie sei nur dann gewährleistet, so Lipp, wenn die Wohlgrenze möglichst weit nach hinten verlagert werde: „Meiner Auffassung nach ist die Grenze des Wohls [des Patienten] hier wie folgt zu verstehen, dass dort die Wunschbefolgungspflicht endet, wo dieser Wunsch des Patienten krankheitsbedingt ist, das heißt, gerade auf die Krankheit oder den Zustand zurückzuführen ist, wegen dessen die Betreuung eingerichtet, der Betreuer bestellt worden ist.“
In ihrem Kommentar betonte die Vertreterin des Bundesjustizministeriums, Andrea Mittelstädt, welcher Umbruch im Arzt-Patienten-Verhältnis sich aus einer Reichweitenbegrenzung von Patientenverfügungen ergebe. Wäre die Ablehnung einer (lebenserhaltenden) medizinischen Maßnahme nur bei einer infausten Prognose verbindlich, würde dies die Patientenautonomie entscheidend einschränken. Dem Arzt würde dadurch ein eigenständiges Behandlungsrecht eingeräumt, das dem (Nicht-)Behandlungswillen des Patienten übergeordnet wäre. Für die ärztlich indizierten Maßnahmen bestünde damit eine Behandlungspflicht. „Bejaht man eine Behandlungspflicht … zwingt man den Patienten nicht nur, sich einem medizinischen Eingriff zu unterziehen, dem er sich nicht unterziehen will, sondern man zwingt ihn natürlich auch, die Risiken dieses Eingriffs zu tragen …“
Über diese grundsätzlichen Einwände hinaus zeigen sich zahlreiche Schwierigkeiten für die praktische Umsetzung einer Reichweitenbegrenzung. Dazu griff Mittelstädt den Reichweitenvorschlag der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Deutschen  Bundestages auf. Diese hatte folgende Begrenzung vorgeschlagen: „Eine medizinisch indizierte oder ärztlicherseits vorgeschlagene lebenserhaltende Maßnahme darf nur abgelehnt werden, wenn das Grundleiden irreversibel ist und trotz medizinischer Behandlung nach ärztlicher Erkenntnis zum Tode führen wird.“ Anhand eines Schlaganfall-Patienten zeigte Mittelstädt, dass auch bei so objektiven Kriterien für eine Reichweitenbegrenzung letztlich kein Weg darum herum führe, den (mutmaßlichen) Willen des Betroffenen zu ermitteln, auch wenn dies in manchen Fällen schwierig oder im Einzelfall gar unmöglich sei.
Im dritten Referat der Tagung erläuterte Ulf Kämpfer die verfassungsrechtlichen Spielräume und Grenzen der Sterbehilfe. An den Anfang seines Vortrages stellte er dabei eine zentrale Frage, die jeder Patient an das Grundgesetz stelle: „Habe ich das Recht, über den Zeitpunkt meines Todes zu bestimmen?“ In seinem Beitrag widmete sich Kämpfer zwei Themen: Worin der grundrechtliche Schutzbereich bei einer Selbstbestimmung über den eigenen Tod bestehe und wie der mit dem Verbot aktiver Sterbehilfe verbundene staatliche Eingriff in dieses Grundrecht zu rechtfertigen sei.
Zur Frage des Schutzbereiches führte Kämpfer zunächst aus, dass der Schutz der Menschenwürde (Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz) nicht den Kern des Eingriffs treffe: Die Verletzung der menschlichen Würde bei ungewollten lebensverlängernden Maßnahmen bestehe ja nicht in den medizinischen Maßnahmen selbst (weil diese per se menschenunwürdig seien), sondern darin, dass sie gegen den Willen des Patienten erfolgen, dem Patienten die Selbstbestimmung verweigert werde. „Entscheidend für die Menschenwürdigkeit medizinischer Behandlung ist also das Maß des Respekts, der den Wünschen und Bedürfnissen und damit der Selbstbestimmung des Patienten entgegengebracht wird.“ Der Schutz vor ungewollten medizinischen Behandlungen erschließe sich daher – so Kämpfer weiter – aus dem Recht auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Grundgesetz). Der Gehalt dieses Grundrechtes werde häufig auf den Schutz des eigenen Lebens, auf die Sicherstellung der körperlichen Unversehrtheit verkürzt. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit enthalte darüber hinaus aber auch einen Autonomieanspruch, der die Disposition über das eigene Leben einschließe. Daraus ergebe sich auch die Möglichkeit, dass der Anspruch auf körperliche Unversehrtheit und der Schutz des Lebens in ein Spannungsverhältnis geraten können.
Was Menschen unter einem menschenwürdigen Tod verstehen ist ebenso verschieden wie die Gründe, die dazu führen, ob, wann und wie jemand sterben will. Von Kritikern einer liberalen Sterbehilferegelung wird immer wieder hervorgebracht, dass sich Menschen aufgrund fehlender Zuwendung ihrer Nächsten oder aus der Furcht heraus, niemandem zur Last fallen zu wollen, für eine vorzeitige Beendigung ihres Lebens entscheiden könnten. Natürlich ist diesen Kritikern darin zuzustimmen, dass alles getan werden muss, um zu vermeiden, dass Menschen in solche Zwangslagen geraten. Worin aber besteht die Alternative? Sollen Ärzte, Angehörige oder Betreuer in einem solchen Fall entscheiden, dass derjenige aufgrund widriger Umstände nicht sterben darf? Kämpfer unterstrich den Anspruch, dass gemäß der freiheitlichen Konzeption des Grundgesetzes die Entscheidung über den eigenen Tod – bei allen Widrigkeiten der Umstände – beim Patienten verbleiben muss. Die allgemeine Verfügungsfreiheit über das eigene Leben beinhalte auch die Entscheidungen darüber, ob, wann und wie jemand sterben wolle. Es gehöre zu den Merkmalen einer solchen Freiheitsordnung, dass diese auch die Möglichkeit beinhalte, in den Augen anderer unvernünftige Entscheidungen zu treffen.
Im weiteren Verlauf widmete sich Kämpfer einer verfassungsrechtlichen Prüfung des gesetzlichen Verbots aktiver Sterbehilfe. Die zentrale Begründung für ein Verbot der Sterbehilfe bestehe darin, dass nur so ein staatlicher Schutz vor ungewollter Tötung aufrecht zu erhalten sei. Nach einer Freigabe der Sterbehilfe – so wird auch immer wieder von Kritikern einer Legalisierung gewarnt – steige die Gefahr, dass das allgemeine Tabu der Fremdtötung durchbrochen und die Zahl der Tötungsdelikte steigen könne, die dann möglicherweise unter dem Deckmantel der Sterbehilfe stattfinden („Dammbruch-Argument“). Um das generelle Tötungsverbot aufrecht zu erhalten und das Leben aller zu schützen, müsse deshalb am Verbot der Sterbehilfe (die nur für wenige in Frage komme) festgehalten werden. Zudem werde das Verbot der Sterbehilfe dadurch abgefedert, dass der assistierte Suizid straffrei sei.
Ob das Verbot der Sterbehilfe jedoch erforderlich ist, um den allgemeinen Schutz vor Tötungsdelikten sicher zu stellen, müsste im Rahmen einer verfassungsrechtlichen Prüfung empirisch ermittelt werden. Diese empirische Prüfung führte Ulf Kämpfer in seinem Vortrag nicht aus. Zumindest für den Bereich der medizinischen Behandlungen zeigt sich bisher aber ein anderes Bild, als es die Warnungen vor einem Dammbruch vermuten lassen. Die Ergebnisse einer britischen Untersuchung [1] zeigen, dass in allen Ländern, die am Verbot der Sterbehilfe festhalten, häufiger lebensbeendende medizinische Maßnahmen ohne Zustimmung der Patienten vorgenommen werden, als dies in den Ländern mit erlaubter aktiver Sterbehilfe (wie in den Niederlanden) der Fall ist. Mit der Legalisierung der Sterbehilfe kann also auch eine gegensätzliche Entwicklung angestoßen werden, indem die Selbstbestimmung von Patienten nicht nur in der Sterbephase, sondern auch bei sonstigen medizinischen Behandlungen stärker berücksichtigt wird. Sollten sich derartige Ergebnisse durch weitere Untersuchungen manifestieren lassen, gehörte das als notwendiger Preis des Schutzes vor Tötungsverbrechen deklarierte Verbot der Sterbehilfe unbedingt auf den Prüfstand.
Mit seinem Kommentar wandte sich Oliver Tolmein von der verfassungsrechtlichen Debatte ab und forderte eine breite, politische Diskussion über die Rahmenbedingungen des würdevollen, selbstbestimmten Sterbens in unserer Gesellschaft. Er warnte davor, die Patientenautonomie auf die Formel „Jetzt ist Schluss!“ zu begrenzen. Selbstbestimmung sei nicht nur ein Abwehrrecht sondern könne auch durch bessere Versorgungsmöglichkeiten erreicht werden. Als Beispiel nannte Tolmein den mit der jüngsten Gesundheitsreform erreichten Anspruch der Patienten auf eine angemessene palliativmedizinische Versorgung.
Oliver Tolmein ist sicher darin zuzustimmen, dass jede individuelle Entscheidung über das Sterben in einem sozialpolitischen Umfeld stattfindet. Dessen (nicht vorhandene) Angebote für Pflege, Zuwendung und Betreuung sterbenskranker oder -williger Patienten beeinflusst deren Entscheidungen. Während des Vortrags beschlich einen jedoch der Eindruck, Tolmein wolle die sozialpolitische Gestaltung des Sterbeumfeldes gegen die Bedingungen einer selbstbestimmten Entscheidung ausspielen. Warum beides nicht miteinander zu verbinden sein soll, diese Antwort blieb er genauso schuldig wie die Diskutanten der anschließenden Podiumsdiskussion.

[1] C. Seale (2006), National Survey of End-of-Life-Decisions… Palliative Medicine 20, pp.3-10
Die hier zitierten Vorträge und Kommentare der Tagung „Die Freiheit zu sterben“ können auf der Internetseite der Humanistischen Union gehört werden: https://www.humanistische-union.de/bioethik/

Dokumentation:

Die Referate und Kommentare der Tagung wurden aufgezeichnet und können hier angehört werden:

Eröffnung

Ralf Fücks
Prof. Dr. Rosemarie Will

Strafrecht

Prof. Dr. Torsten Verrel
Dr. Till Müller-Heidelberg

Zivilrecht

Prof. Dr. Volker Lipp
Andrea Mittelstädt

Verfassungsrecht

Dr. Ulf Kämpfer
Dr. Oliver Tolmein

Eine gedruckte Dokumentation zur Tagung ist erschienen und kann im Online-Shop der Humanistischen Union bestellt werden.

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