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Bürger­rechte, profes­si­o­nell betrachtet (Sammel­re­zen­sion)

Mitteilungen09/2007Seite 5

Mitteilungen Nr. 198,S. 5

Es gibt in Deutschland zwei Berufsgruppen, denen die Verteidigung der Bürgerrechte eigentlich schon „von Amts wegen“ obliegt. Dies sind zum Einen die Angehörigen der sog. Ämter für Verfassungsschutz, deren Tätigkeit nicht selten das Gegenteil bewirkt und die deshalb hier auch nicht weiter gewürdigt werden sollen. Zum Zweiten sind hier diejenigen Hochschullehrer zu nennen, deren Aufgabe in der Vermittlung des Lehrfachs Verfassungsrecht besteht. Schon in deren Selbstbezeichnung als „Staatsrechtslehrer“ klingt indessen an, dass sich die meisten von ihnen im Gefolge einer mächtigen etatistischen Tradition eher mit den Effektivitätsansprüchen der Staatsmacht sowie dem gesellschaftlichen Status quo identifizieren und Bedrohungen der Freiheitsrechte kaum wahrnehmen. Allerdings wollen manche dem neoliberalen Zeitgeist verhaftete Staatsrechtler durchaus den Staat in seine Schranken weisen und dessen Zuständigkeiten für soziale Aufgaben durch Privatisierung und „Deregulierung“ einschränken. Sie haben dabei aber vor allem die Freiheit des Bourgeois, des unternehmerisch tätigen Wirtschaftsbürgers im Auge, weniger die des sich oppositionell engagierenden Citoyen oder die des sozial Schwachen.

Aber es gibt auch Ausnahmen in Gestalt solcher Verfassungsrechtler, die auf die machtkritische Seite unserer im Grundgesetz verbürgten Freiheitsrechte hinweisen und vor aktuellen Bedrohungen warnen. Drei Lehrbücher aus der Feder solcher Autoren sollen im Folgenden vorgestellt und auf ihren Nutzen für ein weniger juristisch vorgebildetes, aber für die Bürgerrechte engagiertes Publikum abgeklopft werden.

Beginnen wir mit einem „arrivierten“ Lehrbuch, dass sich durch etliche Vorauflagen schon einen guten Ruf an deutschen Universitäten erworben hat, nämlich

Ekkehart Stein/Götz Frank,
Staatsrecht
20. Aufl., Mohr Siebeck
Tübingen 2007, 514 S., 24,- Euro.

Ekkehard Stein, inzwischen emeritiert, lehrte an der Universität Konstanz, während der zweite Autor Götz Frank als Öffentlichrechtler an der Universität Oldenburg tätig ist. Im Gegensatz zu vielen anderen juristischen Lehrbüchern nimmt der „Stein/Frank“ neben der Normenwelt des Grundgesetzes auch die „Verfassungswirklichkeit“ in den kritischen Blick. So werden z. B. die gravierenden Defizite im Hinblick auf die Umsetzung des Demokratieprinzips ( § 8) sowie des Sozialstaatsgebots ( § 21) namhaft gemacht. Ein eigenes Kapitel widmen die Autoren den in Politik und Rechtswissenschaft häufig vernachlässigten sozialen Grundrechten und arbeiten deren Bedeutung heraus. Nach ihrer Auffassung ist z. B. ein Recht auf Arbeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung unverzichtbar, weil das Leben der von Dauerarbeitslosigkeit Betroffenen seines Sinns entleert und Dauerarbeitslosigkeit deshalb menschenunwürdig sei (S. 461).
In Anbetracht des Ziels, das gesamte Staatsrecht zumindest in seinen Grundzügen darzustellen, ist die Erörterung der klassischen Abwehrrechte und ihrer Gefährdungen zumeist relativ kurz ausgefallen. So hätte man sich angesichts neuer Überwachungsmethoden der verschiedenen Sicherheitsbehörden mehr als nur einen Halbsatz zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (S. 254) gewünscht. Immerhin gelangen die Autoren nach der Darstellung der zahlreichen den Art. 10 GG einschränkenden Befugnisregelungen (sie sprechen im Gegensatz zur üblichen Terminologie von „Bindungsnormen“) zu der ernüchternden, aber wohl zutreffenden Feststellung, dass von einem Schutz des Telekommunikationsgeheimnisses unter diesen Umständen nicht gesprochen werden könne. „Ansätze zu einer Trendwende“ gegenüber der bisher affirmativen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sehen sie in dessen Entscheidung von 2004 zum Außenwirtschaftsgesetz (S. 304). Angesichts des im Frühjahr 2007 vorgelegten Regierungsentwurfs zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung ergeben sich allerdings Zweifel an der Bereitschaft der politisch Verantwortlichen, den neuen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts strikt Folge zu leisten. So wird denn wohl auch in der nächsten Auflage keine Renaissance des Telekommunikationsgeheimnisses zu vermelden sein.
Überzeugend wird der Stellenwert des Grundrechts der Versammlungsfreiheit für die demokratische Willensbildung herausgearbeitet. In Anbetracht der Erfassung von Demonstrationsteilnehmern in Polizeicomputern halten die Autoren das Vermummungsverbot in § 17 a des Versammlungsgesetzes für verfassungswidrig. Gewaltanwendung durch Einzelne berechtige nicht dazu, protestierenden Bürgerinnen und Bürgern von vorneherein eine verfassungsfeindliche Motivation zu unterstellen (S. 329).
Bei einer Gesamtbetrachtung ist positiv zu vermerken, dass im durchweg verständlich geschriebenen „Stein/Frank“ neben den wichtigsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den jeweiligen Grundrechten auch die einschlägigen Urteile der europäischen Gerichtshöfe kurz dargestellt werden. Leider wird im Gegensatz zu den Vorauflagen auf die Angabe von Vertiefungsliteratur verzichtet.

Während sich dieses Lehrbuch vor allem an „EinsteigerInnen“ wendet, setzt die Lektüre von

Uwe Volkmann,
Staatsrecht II. Grundrechte,
C. H. Beck München 2007,
352 S., 28,- €

schon einige verfassungsrechtliche Grundkenntnisse voraus. Das kürzlich in erster Auflage erschienene Werk des an der Universität Mainz lehrenden Verfassungsrechtlers Uwe Volkmann unterscheidet sich auch im Aufbau erheblich vom „Stein/Frank“: Die Materie der einzelnen Grundrechte wird jeweils im Rahmen der anspruchsvollen und materialreichen Lösung eines Rechtsfalles dargestellt. So umfasst die Erörterung des Klausurenfalles „Neue Befugnisse für die Polizei“ immerhin 37 Seiten, auf denen alle einschlägigen Grundrechte behandelt werden, von der Freiheit der Person über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis bis zur Rechtsweggarantie. In bürgerrechtlich überzeugender Weise werden dabei sowohl die neuesten Entscheidungen des  Bundesverfassungsgerichts herangezogen als auch die Gefahren der aktuellen Entwicklung im Polizeirecht anschaulich gemacht. So verweist Volkmann auf das „Ausgreifen von Kontrolle auf immer weitere Felder“, das in der Logik eines Vorsorge- und Präventionsdenkens liege. „Statt Krisen und Gefahren erst dann zu bekämpfen, wenn sie aufgetreten sind, ist der Staat zunehmend dazu übergegangen, schon die Situation zu verhindern, aus der heraus sie entstehen könnten“ (S. 97/98).
Freilich wäre hier zu fragen, in welchem Maße das auch von Denninger und anderen evozierte Paradigma von der immer weiter in das Vorfeld ausgreifenden Prävention der Wirklichkeit entspricht oder nicht eher ein fragwürdiges Legitimationsmuster für die ständige Befugnisausweitung bei den Sicherheitsbehörden abgibt. Einsparungen im Bereich der Lebensmittelüberwachung und daraus resultierende „Ekelfleisch“-Skandale, die Deregulierung der staatlichen Bauaufsicht oder die Zulassung des Anbaus genmanipulierter Nutzpflanzen wecken durchaus Zweifel an der These von der sich kontinuierlich ausdehnenden staatlichen Gefahrenprävention. Auch fällt es schwer zu glauben, dass sich der polizeistatistisch festgestellte Rückgang bei den meisten Deliktsgruppen den neuen Überwachungsbefugnissen im „Vorfeld“ verdankt.

Aus bürgerrechtlicher Sicht überaus informativ ist ferner die Klausurlösung zum Fall „Versammlung von Rechtsextremen“.  Im Mittelpunkt stehen hier die Grundrechte der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit. Mit guten Gründen plädiert der Autor ebenso wie Stein/Frank für den „engen“ Versammlungsbegriff des Bundesverfassungsgerichts, wonach der Hauptzweck der Zusammenkunft in einer kollektiven Meinungsäußerung oder zumindest Meinungsbildung  bestehen muss (S. 200 f.). Bei der Erörterung der wichtigen Schrankennorm des § 15 Versammlungsgesetz fehlt indessen der Hinweis, dass durch die Föderalismusreform der Bund die Zuständigkeit für das Versammlungsrecht an die Länder verloren hat. Ausführlich dargestellt wird die Kontroverse in Rechtsprechung und Wissenschaft zur Reichweite der beiden genannten Grundrechte hinsichtlich des Schutzes neonazistischer Betätigung, die keine Straftatbestände erfüllt und auch nicht von einem Parteienverbot betroffen ist. Abschließend formuliert Volkmann die vorsichtige Frage, „ob die Grenzen des politisch und rechtlich Tolerablen nicht enger zu ziehen sind“, als es das Bundesverfassungsgericht in seiner „liberalen“ Rechtsprechung zu Versammlungsverboten gegenüber rechtsextremen Aufmärschen getan hat (S. 217).

Besonders begrüßenswert ist das Anliegen des Werkes

Martin H. W. Möllers,
Polizei und Grundrechte,
Verlag für Polizeiwissenschaft
Frankfurt a. M. 2006,
324 S., 14,90 €

speziell den jungen Polizeibeamten und -beamtinnen die Bedeutung der Grundrechte nahe zu bringen. Als Hochschullehrer am Fachbereich Bundespolizei der Fachhochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Lübeck wird Möllers (ebenso wie der Rezensent) festgestellt haben, dass noch zu viele Angehörige der Polizeien Bürgerrechte eher als lästiges Hemmnis für eine effiziente Aufgabenerfüllung empfinden. Der Untertitel „Alternatives Grundrechte-Lehrbuch für die Polizei auf rechtswissenschaftlicher und rechtspolitischer Basis“ formuliert allerdings einen hohen Anspruch. Dieser wird in manchen Abschnitten der Darstellung durchaus eingelöst, so in der Stellungnahme zu der unsäglichen Folterdebatte, die durch den Fall Daschner losgetreten wurde. Während Stein/Frank gar nicht und Volkmann nur in einer Fußnote darauf eingehen, gibt Möllers ein überzeugendes Plädoyer für ein absolutes Folterverbot ab, das auch für die präventiv-polizeiliche Gefahrenabwehr gelten müsse (S. 80). Vorbildlich ist auch die Erörterung des Bundesverfassungsgerichtsurteils zum Lauschangriff und dem Stellenwert des Menschenwürdeschutzes bei solchen tief in die Privatsphäre eindringenden Überwachungsmaßnahmen. Im Gegensatz zur inzwischen erfolgten Neuregelung des Lauschangriffes in der Strafprozessordnung (die einer Kammer des Zweiten Bundesverfassungsgerichtssenats keinen Grund zur Beanstandung bot), folgert der Autor aus dem Menschenwürdegehalt des Wohnungsgrundrechts, dass bei der Überwachung von Privatwohnungen keine nur automatische Aufzeichnung der Gespräche durchgeführt werden dürfe (S. 89).
Bei der Darstellung der für die Polizeipraxis so wichtigen Grundrechte wie des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, der Freiheit der Person, des Fernmeldegeheimnisses sowie der Versammlungsfreiheit beschränkt sich das Buch allerdings auf die dogmatischen Grundzüge, ohne auf die aktuellen verfassungsrechtlichen Streitfragen näher einzugehen. Der Vorteil dieses Verzichts besteht in der Übersichtlichkeit der Erörterung, die durch grafische Gestaltungsmittel wie die Hervorhebung zentraler Begriffe mit Hilfe von Kästen noch gesteigert wird. Ebenso wie auch in den beiden anderen Lehrbüchern wird der Rechtsstoff jeweils durch praktische (Klausuren-) Fälle anschaulich gemacht.

Alle drei hier vorgestellten Bücher können Interessierten zur Lektüre empfohlen werden, wobei freilich die unterschiedlichen Anforderungen zu bedenken sind: Wer einen raschen Überblick der Grundrechtsmaterie sucht, ist wohl am besten mit dem (schließlich auch recht preisgünstigen) „Möllers“ bedient. Wer sich hingegen über die verschiedenen Aspekte aktueller verfassungsrechtlicher Auseinandersetzungen detailliert kundig machen will, sollte zum „Volkmann“ greifen. Letztgültige Antworten zu allen Streitfragen liefert selbstredend auch dieser nicht, aber er vermittelt fundierte Kenntnisse und Problembewusstsein als Grundlage für eine überzeugende Argumentation im Rahmen engagierter Bürgerrechtsarbeit.

Prof. Dr. Martin Kutscha
lehrt Staats- und Verwaltungsrecht an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege in Berlin und ist Mitglied des Beirats der Humanistischen Union

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