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Bürger­rechts­po­litik in schwa­rz/­gelben Zeiten

Mitteilungen20712/2009Seite 1-8

Aus: Mitteilungen Nr. 207 (Heft 4/2009), S.1-8

Bürgerrechtspolitik in schwarz/gelben Zeiten

Deutschland hat gewählt. Anlass für den Bundesvorstand der Humanistischen Union, sich mit den inhaltlichen und strategischen Konsequenzen für die Bürgerrechtsarbeit aus den neuen Regierungskonstellationen zu befassen. Bei der Lektüre des Koalitionsvertrages fiel uns auf, dass viele Ankündigungen und Reformen im Vagen bleiben, auf seinen 132 Seiten finden sich zahlreiche formelhafte Kompromisse, viele vertagte Entscheidungen (auch „Evaluationen“ genannt) und ebenso viele Lücken.
Einige Vorzeichen haben sich geändert: Hinter der neuen Regierung steht nicht mehr die allgegenwärtige Drohung, politische Vorhaben notfalls mit einer Änderung des Grundgesetzes durchzusetzen. Eine weitere Beschränkung hat sich eine Regierungspartei selbst auferlegt: Mit der FDP ist eine neue Partnerin in die Regierung eingetreten, die sich in der vergangenen Legislaturperiode zur Hüterin der Bürgerrechte aufgeschwungen hat. Nun gibt es kein einfaches Zurück für die FDP. Klar ist: In den nächsten fünf Jahren werden wir vor allem den kleinen Koalitionspartner daran messen, wie wichtig ihm die Bürgerrechte nach der Übernahme der Regierungsverantwortung noch sind.

Internet

Erstmals enthält ein Koalitionsvertrag ein eigenes Unterkapitel zum Internet. Nach den Kontroversen der vergangenen Jahre – vom Verbot der sog. Hackertools über die Vorratsdatenspeicherung bis zu den Netzsperren – enthält der Text ein überschwängliches Bekenntnis zum neuen Medium: „Das Internet ist das freiheitlichste und effizienteste Informations- und Kommunikationsforum der Welt…“ Auf den folgenden Seiten verkündet die Koalition einige erfreuliche Beschlüsse: Um gegen Rechtsverstöße im Netz vorzugehen (wir erinnern uns an den „rechtsfreien Raum“) wolle man die bestehenden Gesetze effektiver anwenden, die IT-Kompetenz der Strafverfolgungsbehörden mit Internetstreifen der Polizei und Schwerpunktstaatsanwaltschaften ausbauen. Neue Strafvorschriften seien erst einmal nicht nötig – ein Zugeständnis an verärgerte Internetnutzer, die sich zuletzt mehr und mehr kriminalisiert sahen? Die dürfen sich noch über ein weiteres Versprechen des Nicht-Handelns freuen: „Wir werden keine Initiativen für gesetzliche Internetsperren bei Urheberrechtsverletzungen ergreifen.“
Daneben verkündet die neue Regierung ein Moratorium bei den Internetsperren: Noch vor wenigen Monaten gegen allen Protest durchgekämpft, einigte man sich jetzt darauf, für ein Jahr das Prinzip „Löschen statt Sperren“ anzuwenden. Demnach soll das BKA vorerst keine Sperrlisten erstellen, sondern bei den Providern auf eine Löschung inkriminierter Inhalte drängen. Im Herbst 2010 werden Erfolg und Wirksamkeit dieses Verfahrens evaluiert. Da keine Evaluationskriterien benannt sind, kann das alles Mögliche heißen – für uns kann es nur bedeuten, dass wir weiterhin eine komplette Abkehr von der Zensurpolitik einfordern, schließlich geht es um die Verteidigung von Artikel 5 Absatz 1 Satz 3 Grundgesetz: „Eine Zensur findet nicht statt.“
Wenig erfreulich klingen dagegen die Versprechen, das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) zur „zentralen Cyber-Sicherheitsbehörde“ auszubauen und über ein neues Kommunikationssystem (DE-Mail) sowie einen digital signierten Personalausweis die Voraussetzungen für modernes „E-Government“ und die elektronische Abwicklung von Geschäften zu schaffen. So benutzerfreundlich und zukunftsweisend diese neuen Techniken sein mögen – eine derart kritische Infrastruktur sollte nicht allein auf dem Prinzip des Vertrauens aufbauen, sondern einer öffentlichen Kontrolle unterliegen. Und sie sollte nicht in den Händen jenes Staates liegen, dessen Sucht nach Informationen über seine Bürgerinnen und Bürger in den letzten Jahren keine Grenzen kannte.
Ein weiteres Vorhaben, das Beobachter im Vertrag erwartet hatten, fand am Ende keinen Eingang in die Regierungsvereinbarungen: Im Vorfeld hatte Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger über ein „Internetgesetzbuch“ nachgedacht, mit dem das Medium einer umfassenden (Neu)Ordnung unterworfen werden soll. Die Spekulationen darüber, was dies für digitale Urheberrechte, für den Persönlichkeitsschutz oder die technische Entwicklung des Mediums bedeuten könne, gingen kreuz und quer. Der Bundesvorstand hat sich vorgenommen, diese Pläne genau zu beobachten und in den nächsten Monaten auch eigene Vorschläge zu entwickeln, die wir in die Diskussion einbringen wollen. Wir sind zu der Einsicht gelangt, dass sich die HU in ihrer Bürgerrechtsarbeit grundsätzlich mit den Entwicklungen im Internet beschäftigen sollte. Die zunehmende Digitalisierung unseres Alltages können wir nicht allein unter den Aspekten Datenschutz und Informationsfreiheit abhandeln. Vielmehr muss es uns gelingen, die in dem neuen Medium auftretenden grundrechtlichen Probleme explizit zum Gegenstand unserer Arbeit zu machen. Ausgehend von unseren Erfahrungen mit dem AK Vorratsdatenspeicherung und der Piratenpartei hat der Vorstand bereits begonnen, sich mit den sozialen Folgen der Digitalisierung zu befassen. Welche Konsequenzen die Entwicklung der Digitalsphäre und die mit ihr verbundene Szene für die Bürgerrechtsbewegung hat, ist derzeit noch ungewiss. Wir möchten aber vermeiden, diese Entwicklungen zu unterschätzen.

Datenschutz

Die Koalitionäre bemühen sich um den Eindruck, der Datenschutz sei ihnen eine Herzensangelegenheit. Sie kündigen eine verbesserte personelle und sächliche Ausstattung des Bundesdatenschutzbeauftragten an. Außerdem wollen sie eine „Stiftung Datenschutz“ gründen, die Produkte und Dienstleistungen auf ihre „Datenschutzfreundlichkeit“ prüft und die Verbraucher über Risiken informiert. Immer wieder spricht die Regierung von Aufklärung, Problembewusstsein und Selbstschutz. So richtig all diese Bemühungen um die subjektive Seite des Datenschutzes auch sind, sie reichen nicht aus. Was der Gesetzgeber in den nächsten fünf Jahren dazu beitragen will, bleibt vage: Eine weitere Überarbeitung des Bundesdatenschutzgesetzes wird angekündigt, es solle die „europäische Rechtsentwicklung“ berücksichtigen, „lesbarer und verständlicher“ werden und „zukunftsfest und technikneutral“ ausgestaltet werden – was immer das am Ende bedeuten mag. Ebenso ungewiss ist, wie der versprochene Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gegen eine Bespitzelung aussieht, wenn den Unternehmen zugleich eine „praxisgerechte Regelung“ für ihre Bemühungen um eine Aufdeckung korrupten Verhaltens versprochen wird. Eine kritische Begleitung dieses Vorhabens ist jedenfalls sinnvoll.
Wie wenig schöne Bekenntnisse allein wert sind, hat sich bereits einen Monat nach der Unterzeichnung des Vertrags gezeigt: Hatten die Koalitionäre im Oktober noch versprochen, dass sie sich für einen stärkeren Datenschutz beim transatlantischen Austausch von Finanzdaten (SWIFT-Abkommen) einsetzen – etwa eine strikte Zweckbindung, Begrenzung des Datenumfangs, klare Lösch- und Weitergaberegelungen sowie ein effektiver Rechtsschutz –, brachte der Bundesinnenminister mit seiner Enthaltung auf dem Ratstreffen am 30. November den Vertrag noch schnell auf den Weg, bevor das europäische Parlament einen Tag später hätte Nachbesserungen verlangen können. Nach einem Monat war der Koalitionsvertrag bereits hinfällig (s. HU-Pressemitteilung v. 25.11.2009). Ob sich Deutschland am Ende wirklich für ein höheres Datenschutzniveau auf europäischer Ebene einsetzen wird, ist danach mehr als fraglich geworden.
Einer politischen Bankrotterklärung gleichen die dürren Anmerkungen von Schwarz-Gelb zur Vorratsdatenspeicherung. Die FDP, mit einer eigenen Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz in Karlsruhe am Start, konnte sich mit ihrer Forderung nach einer Beschränkung der pauschalen Überwachung der elektronischen Kommunikation nicht durchsetzen. In der Folge überlässt es die neue Regierung ganz dem Verfassungsgericht, was aus der Vorratsdatenspeicherung werden soll. Die Vereinbarung wiederholt allein, was das Gericht in seiner mehrfach verlängerten Anordnung bereits festgelegt hat: Zugriffe auf die gespeicherten Kommunikationsdaten sind bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung auf Fälle der „Abwehr einer konkreten Gefahr für Leib, Leben und Freiheit“ beschränkt.

Kein Rückzug in Sicht: Aufgaben und Ziele der Bundeswehr

Die neue Regierung lässt keine Zweifel daran, dass sie den in den letzten Jahren vollzogenen Wandel der Bundeswehr von einem Instrument der (Selbst-) Verteidigung hin zu einem Instrument der Wahrnehmung und Durchsetzung deutscher Interessen fortführt, wenn nicht gar forciert. Dies zeigt besonders Kapitel V, in dem die Außen- und Sicherheitspolitik beständig zwischen werte- und interessengeleiteter Politik changiert. Die zahlreichen Beteuerungen, man werde die Menschenrechte und die Multilateralität als Leitbilder deutscher Außenpolitik wahren, können nur schwer darüber hinweg täuschen, das vermehrt die wirtschaftlichen Beziehungen sowie der Zugang zu Energie und Rohstoffen zu Eckpfeilern deutscher Außen- und Entwicklungspolitik werden. Dies zeigt sich allein schon daran, für welche internationalen Gremien die Regierung klare Ziele benennt: es sind dies der ständige Sitz im UN-Sicherheitsrat und ein neues strategisches Konzept für die NATO, die Entwicklung einer geschlossenen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie einer europäischen Armee. Nach neuen Impulsen für die internationale menschenrechtliche Diskussion oder Hinweisen auf eine aktive Beteiligung am UN-Menschenrechtsrat oder anderen Präventionsmechanismen sucht man dagegen vergeblich.
Dazu passt auch ein eher militärisch geprägtes Bild der Sicherheit, das sich im Vertrag immer wieder findet: Welchen Beitrag zivile Konfliktbearbeitung zur Krisenprävention leisten kann und wie deren Instrumente weiter entwickelt werden könnten, dazu bietet die neue Koalition noch weniger konkrete Vorstellungen als die beiden Vorgänger-Regierungen. Überhaupt beschränken sich die Vorstellungen des Zivilen in der internationalen Politik im Vertrag auf die Justiz, einige Einheiten der Bundespolizei und einen von den Ländern bereitgestellten „Pool für internationale Verwendungen“.
Gegenüber einem derart verkürzten Politikverständnis ist es schon ein kleiner Erfolg der FDP, dass sie die von der CDU immer wieder geforderte und in der großen Koalition mehrfach angekündigte Verfassungsänderung zum Bundeswehreinsatz im Inland (vgl. Mitteilungen Nr. 194/195) vorerst stoppen konnte. Der Vorschlag taucht im Koalitionsvertrag nicht mehr auf und dürfte für die nächsten Jahre vom Tisch sein. Im Gegenzug konnte die CDU eine Vereinbarung zur Aufweichung des Parlamentsvorbehalts für Bundeswehreinsätze durchsetzen: Dagegen hatte sich die FDP wie auch andere Oppositionsparteien in der vergangenen Legislaturperiode immer wieder gewandt. (vgl. Grundrechte-Report 2009, S. 224 ff.) Zwar werde der Deutsche Bundestag weiterhin über die laufenden Einsätze der Armee informiert, um seine Kontrollfunktion wahrnehmen zu können. Für kurzfristige Entscheidungen jedoch, bei denen eine „ausreichende Information“ aller Abgeordneten nicht möglich sei, solle ein Vertrauensgremium geschaffen werden, dass offenbar im kleinen Kreis über dringliche Einsätze entscheiden darf. Das entspricht dem bisherigen Bemühen von Schäuble, nicht aber den Klagen der FDP vor dem Bundesverfassungsgericht für die Rechte des Parlamentes.

Zusam­me­n­a­r­beit in Europa

Auf die neue Bundesregierung kommen nicht zuletzt dank der Reformen des Lissabon-Vertrags eine Reihe europapolitischer Herausforderungen zu. Die Regierungsparteien irren, wenn sie meinen, die EU würde nach dem neuen Vertragswerk quasi von allein „demokratischer und handlungsfähiger“. Das institutionelle Potenzial der Reformen muss erst noch gefüllt werden. Wie von deutscher Seite die EU weiter demokratisiert werden  soll, lässt die Koalitionsvereinbarung leider offen.
Die neue Regierung will – durchaus begrüßenswert – das Subsidiaritätsprinzip in der europäischen Zusammenarbeit stärken. Dazu gehört natürlich auch, jene Entwicklung zu stoppen, bei der im Zuge der stetigen Verlagerung von Entscheidungen auf die europäische Ebene nationale Grundrechtsstandards für den freien Binnenmarkt geopfert werden. Wie das Bundesverfassungsgericht so betont auch die Regierung das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Die Subsidiarität muss jedoch in der täglichen politischen Praxis gesichert werden. Nationale Parlamente dürfen künftig die Wahrung der Subsidiariät bei Richtlinienentwürfen vor Verhandlungsbeginn prüfen. Ob dies innerhalb der vorgesehenen Sechs-Wochen-Frist praktisch möglich ist, muss sich erst noch beweisen.
Angesichts des stetigen Anwachsens europäischer Zuständigkeiten ist eine aktive Gestaltung internationalisierter Politikbereiche wie der Sozialpolitik, der Bildung oder gar des Strafrechts wichtig. Demokratische Verantwortlichkeiten und der Schutz der Grundrechte können nur in europäischer  Zusammenarbeit gewährleistet werden. Dies gilt im besonderen Maße für die Entwicklung eines europäischen Sozialsystems. Die Mobilität von Arbeitgebern und Kapital gefährdet schon jetzt nationale Wohlfahrtssysteme. Grenzüberschreitende „EU-Sozialsysteme“ kategorisch abzulehnen wäre vermessen, wenn doch bestimmte sozialpolitische Aufgaben nur noch in miteinander harmonierenden Systemen wahrgenommen werden können. Was die Politik nicht angeht, regelt der Markt – oder der Europäische Gerichtshof. Soziale Grundrechte sollten aber nicht davon abhängig sein, ob sich die europäische Rechtsprechung nun eher in der Richtung des Viking/Laval-Urteils entwickelt (und dabei bspw. das Streikrecht aushöhlt) oder ob es im Sinne der Mangold-Entscheidung Antidiskriminierungsrechte stärkt.
Länder wie Italien, Spanien und Frankreich werden die Aufrüstung Europas in der inneren Sicherheit forcieren. Im Stockholm-Programm, der neuen innenpolitische Agenda der EU, zeichnet sich bereits ab, dass die Mobilität im Schengen-Raum immer selektiver wird, polizeiliche Kontrollsysteme ausgebaut und Informationen zwischen europäischen Verwaltungen frei zirkulieren werden. Insbesondere für die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler in den Reihen der FDP wird also die Bewährungsprobe darin bestehen, nicht zu Mitläufern der Festung Europa und ihrer europäisierten Sicherheitsmanie zu werden.

Strafe als sozial­po­li­ti­sches Instrument?


Entgegen allen Hoffnungen auf eine liberale Ära sieht der Koalitionsvertrag für den Bereich des Strafrechts zum Teil erhebliche Verschärfungen bzw. Erweiterungen vor. Was dabei auffällt: Die neue Koalition begreift das Strafrecht nicht als letztes Mittel staatlicher Sanktionierung, sondern nutzt es für eine symbolische Politik in sozialen Problembereichen. Dafür ist das Strafrecht aber weder gedacht – wie ein Blick in unsere Verfassung zeigt – noch ist es für eine solche Politik besonders geeignet.
Im Jugendstrafrecht will die Koalition den sog. Warnschussarrest einführen. Er kann künftig neben einer Jugendstrafe auf Bewährung verhängt werden, zugleich will man die Höchstdauer der Jugendstrafe von 10 auf 15 Jahre anheben. Beide Vorhaben sind bereits im Jahre 2008 gescheitert, nach einem deutlichen Wählervotum in Hessen, und beide Vorschläge werden in Expertenkreisen kritisch gesehen. Jugendarrest eignet sich nicht, um positiv auf Jugendliche oder Heranwachsende einzuwirken. Das zeigt allein schon die hohe Zahl derjenigen jungen Menschen, die nach einem Arrest erneut straffällig werden (ca. 70%). Auch ein Warnschussarrest dürfte keine besseren Ergebnisse erzielen. Die kurzzeitige Inhaftierung kann negative Folgen für die Arbeitsstelle oder die schulische Ausbildung haben, sie kann ein weiteres Abrutschen in die Kriminalität begünstigen. Ebenso wenig hat die Verschärfung von Strafnormen nach gesicherten kriminologischen Erkenntnissen eine abschreckende Wirkung, da gerade bei schweren Delikten, die regelmäßig Konflikttaten sind, die rechtlichen Folgen der Tat vom Handelnden nicht bedacht werden. Eine längere Inhaftierung hat auch keine positive erzieherische Wirkung, die Resozialisierung wird vielmehr aufgeschoben.
Des Weiteren planen die Koalitionäre, die Sicherungsverwahrung erneut auszuweiten. Neben einer Harmonisierung der Anordnungsvoraussetzungen sollen vermeintlich bestehende Schutzlücken geschlossen werden, indem die Hürden für eine Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesenkt werden. Die Politik des Wegschließens und Einsperrens geht also weiter. Dabei wurde die Sicherungsverwahrung erst im vergangenen Jahr mit der Möglichkeit einer nachträglichen Sicherungsverwahrung für Jugendliche und Heranwachsende erweitert. Die Mehrheit der Gutachter im Rechtsausschuss kritisierte diesen Schritt als unverhältnismäßig und kontraproduktiv. Eine erneute Verschärfung würde diese Bedenken verstärken und ist unter rechtstaatlichen Gesichtspunkten nicht zu legitimieren.
Bedenklich sind die  Verschärfung bestehender und die Einführung neuer Straftatbestände: Die Strafbarkeit des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte soll für schwere Fälle erweitert werden, Zwangsheirat in einem eigenständigen Straftatbestand erfasst und die gewerbsmäßige Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung unter Strafe gestellt werden. Dabei ist bisher unklar, wie die Straftatbestände ausgestaltet werden sollen, Ebenso fraglich ist, ob der intendierte Schutz (etwa bei einer zwangsweisen Verheiratung) mit den Mitteln des Strafrechts überhaupt erreichbar ist und die relevanten Fälle nicht ohnehin vom Tatbestand der Nötigung ausreichend erfasst sind. Warum die gewerbsmäßige Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttötung strafbar sein soll, bleibt ein Geheimnis der Koalitionäre. Es besteht überhaupt kein legitimes Schutzziel, da die freiverantwortliche Beendigung des eigenen Lebens nicht unter Strafe gestellt werden kann. Konsequenterweise muss dies auch für die Beihilfe zu einer Selbsttötung gelten, auch wenn sie gewerbsmäßig geschieht.
Positiv ist zu vermerken, dass einige strafrechtliche Neuregelungen laut Ausführungen des Koalitionsvertrages überprüft werden sollen. Das gilt insbesondere für das kürzlich in Kraft getretene Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten („Terrorcamp-Gesetz“, s. Mitteilungen Nr. 204). Neben der reinen Wirksamkeit dieser Ermittlungen sollte aber auch geprüft werden, ob die viel zu weit geratenen Vorfeldbefugnisse nach diesem Gesetz mit dem verfassungsrechtlichen Verständnis einer freien Gesellschaft vereinbar sind. Unterstützenswert sind auch die angestrebten Korrekturen im Sexualstrafrecht: So werden seit der letzten Reform (2008) zum Teil jugendspezifische, nicht schädigende Verhaltensweisen von Personen unter 18 Jahren als Straftat erfasst. Der strafrechtliche Schutz sollte hier auf Missbrauchsfälle begrenzt werden.

Innen­po­litik der kleinen Korrekturen

Nach dem Schlagabtausch der vergangenen Jahre war das innenpolitische Verhandlungsergebnis durchaus mit Spannung erwartet worden. Noch während der Verhandlungen unterstrichen die Liberalen ihre grundsätzliche Kritik an sicherheitspolitischen Entscheidungen der Vorgängerregierung, immer wieder versprachen sie eine Renaissance der Freiheitsrechte. Beim Blick in den Vertragstext stellt sich Ernüchterung ein:
Die vor einem Jahr verabschiedete Reform des Bundeskriminalamtes (BKA) wird im Kern nicht angetastet. Die zahlreichen (geheim-)polizeilichen Befugnisse, über die die ursprünglich als Informationsstelle gegründete Behörde seit Anfang des Jahres verfügt, darf sie weiterhin nutzen. Der Koalitionsvertrag sieht lediglich einen verbesserten Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung (der Intimsphäre) vor. Außerdem wird das Verfahren bei der Anordnung bestimmter Überwachungsmaßnahmen geändert: Die Entscheidung über verdeckte Anti-Terror-Ermittlungen trifft künftig ein Richter am Bundesgerichtshof, der „durch Vermittlung des Generalbundesanwalts“ zuständig sein soll. Ein solches Verfahren verwischt aber die Grenzen zwischen präventiven und repressiven Aufgaben. Denn während das BKA bei der Terrorabwehr in präventiver Mission tätig ist, handelt es sich bei der Generalbundesanwaltschaft und dem Bundesgerichtshof um Organe der Strafverfolgung. Mit dem jetzt vorgeschlagenen Verfahren würde zwar die im Gesetzgebungsverfahren gerügte fehlende justizielle Kontrolle des BKAs geschaffen, jedoch mit einem Systembruch erkauft. Welche Auswirkungen diese Vermischung von Polizei- und Strafverfahrensrecht am Ende haben wird, ist derzeit noch nicht zu beurteilen. Sicher ist dagegen, dass mit der geplanten Verfahrensänderung der eigentliche Kern der BKA-Reform, die bundespolizeilich zentralisierte Terrorabwehr, nicht angetastet wird.
Erfreulicherweise soll der Schutz von Rechtsanwälten als Berufsgeheimnisträgern vor Überwachungsmaßnahmen künftig einheitlich gestaltet werden. Bisher sind lediglich Strafverteidiger durch ein absolutes Abhörverbot davor geschützt, dass ihr Vertrauensverhältnis zu ihren Mandaten nicht belauscht wird, während bei der Überwachung anderer Anwälte durchaus ein Ermessensspielraum besteht. Der Koalitionsvertrag kündigt an, evtl. weitere Berufsgeheimnisträger (Geistliche, Ärzte…) in diesen Schutz einzubeziehen.
Das war es dann aber fast schon mit den freiheitlichen Errungenschaften im neuen Regierungsprogramm. Viele Fragen, bei denen sich die neuen Partner offenbar nicht einigen konnten, wurden unter einen Evaluationsvorbehalt gestellt: Dazu gehören etwa die Reform der Telekommunikationsüberwachung, die Zusammenarbeit verschiedenster Sicherheitsbehörden in den diversen „Zentren“ (GIZ, GTAZ, CASIM & Servicezentrum TKÜ) sowie deren gemeinsame Dateien. All diese Prüfungen sind grundsätzlich zu begrüßen. Da der Koalitionsvertrag aber keine Festlegungen enthält, wer, mit welchen Kriterien und wie diese Prüfung vornehmen wird, darf man sich davon nicht zu viel versprechen. Wir werden insbesondere darauf achten, ob sich diese Evaluationen nur auf Fragen der Effektivität beschränken, oder ob auch grundsätzliche Fragen nach der Angemessenheit der einzelnen Instrumente, ihre Wirkungen auf die Betroffenen und die Allgemeinheit in das Prüfprogramm einbezogen werden und ob eine Unabhängigkeit der Evaluierenden gewährleistet ist.

Fordern und Fördern – jetzt auch für auslän­di­sche Mitbür­ger/innen

„Bittere Pillen“ wie die Überwachung und Kontrolle des Verhaltens, die Einschränkung existenzsichernder Leistungen oder die Verkürzung von Rechtswegen werden häufig an Nicht-Deutschen erprobt, bevor sie ihren Weg in andere Politikfelder finden. Diesmal ist es anders herum: Was in den letzten Jahren zum sozialpolitischen Slogan verkam, soll jetzt auch für Asylbewerber und Geduldete gelten: Fordern und Fördern. Flüchtlinge sind neuerdings Kunden der Ausländerbehörden; deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind angehalten, den dienstleistenden Charakter ihrer Arbeit hervorzukehren. Dass sie zweifelhafte Dienste anbieten, die kaum jemand freiwillig in Anspruch nehmen würde, tut dem Geschäftsmodell keinen Abbruch.
Außer derartigen sprachlichen Innovationen bietet der Koalitionsvertrag nur kleine Fortschritte für hier lebende Migrantinnen und Migranten: Die sog. „Altfallregelung“, jene immer wieder befristete Verlängerung des Aufenthaltsrechts für die seit vielen Jahren hier lebenden Flüchtlinge, werden einmal mehr verlängert, ohne dass den Menschen eine grundsätzliche Perspektive auf ein Leben in Deutschland eingeräumt wird. So bleibt für bundesweit 30.000 Menschen und ihre hier geborenen Kinder die Unsicherheit bestehen, nach dem Auslaufen der jeweiligen Frist Deutschland verlassen zu müssen, falls sie bis zum festgesetzten Stichtag ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können. Auch soll die Residenzpflicht gelockert werden – für jene, die sonst keiner Arbeit nachgehen können. Eine Abschaffung der in Europa einzigartigen Regelung, die den Bewegungsraum nicht nur für Asylantragstellende, sondern auch die zum Teil langjährig hier lebenden „Geduldeten“ auf Landkreise einschränkt (s. Bericht auf S. 32), wäre dringend geboten, steht jedoch leider nicht zur Diskussion. Darüber hinaus soll das Sachleistungsprinzip für Asylbewerber evaluiert werden. Dass die Zeit der Essensmarken, der „Fresspakete“ und Bekleidungsgutscheine oder die zwangsweise Unterbringung in Lagern endlich bald vorbei ist, wagen wir kaum zu hoffen.
Passend zur wohltäterhaften Rhetorik des Forderns und Förderns ist die Migrationspolitik vom Gedanken an den möglichen „Leistungsmissbrauch“ durchzogen: Um Scheinehen zu verhindern soll die Ehebestandszeit für die Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltstitels von zwei auf drei Jahre verlängert werden. Für die überwiegend betroffenen Ehefrauen kann dies bedeuten, dass sie sich nicht ohne das Risiko der Abschiebung aus einer Gewaltbeziehung lösen können und so noch mehr dem Ehepartner ausgeliefert sind. Eine Wiederauferstehung feiert im Koalitionsvertrag jene Visa-Warndatei, die Anfang des Jahres am Widerstand der sozialdemokratischen Justizministerin scheiterte. In der Datei sollen neben allen Einreisenden auch die Einlader/innen erfasst werden – um dem Visa-Missbrauch vorzubeugen, wie es heißt.

Viel heiße Luft: Bildung & Soziales

Der Koalitionsvertrag lässt kein Schlagwort aus, wenn es um Bildung und Soziales geht: Wohlstand für alle, mehr Netto vom Brutto, Bildungsrepublik, Bildung als Bürgerrecht, Bürgergeld… Das Wort Chancengleichheit taucht in dem gesamten Vertrag nicht auf: die Unionsparteien haben es schon seit langem durch Chancengerechtigkeit ersetzt. Das ist so unverbindlich wie die Änderung des Grundgesetzes unter der schwarz-gelben Regierung von Helmut Kohl, die im Jahr 1994 den Auftrag an die Bundespolitik, für einheitliche Lebensverhältnisse zu sorgen, in „gleichwertige Lebensverhältnisse“ abschwächte. Auch die damalige (und heutige) Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) stimmte dieser Änderung zu, die in der Konsequenz und in mehreren Zwischenschritten 2006 die so genannte Föderalismusreform I zur Folge hatte. Aus dem kooperativen Bundesstaat der letzten Jahrzehnte wurde der Wettbewerbsföderalismus, in dem der Bund keinerlei Gestaltungsmöglichkeiten in der Bildungspolitik mehr hat. An den Ministerpräsidenten der Länder vorbei geht in diesen gesellschaftspolitischen Feldern nichts mehr.
Vor diesem Hintergrund beschwört der Koalitionsvertrag in den Kapiteln II (Bildungsrepublik Deutschland) und III (Sozialer Fortschritt) die „nationale Anstrengung“, die „gesamtstaatliche Aufgabe“ und die „enge Partnerschaft aller Verantwortlichen entlang der gesamten Bildungskette“. Die neue Bundesregierung strebt eine „Bildungspartnerschaft von Bund, Ländern und Kommunen“ an. Sie will „Bildungsbündnisse aller relevanten Akteure“ fördern und winkt diesen Bündnissen mit Geld: „Bildungsschecks zur Weitergabe an benachteiligte Kinder und Jugendliche“. Fördern, unterstützen, unentwegt das Nationale bemühen – mehr kann der Bund zur Gestaltung der Bildungsrepublik nicht beitragen.
Die Verantwortung für all dieses Beste liegt bei den Ländern: Das Hochschulrahmengesetz wird endgültig aus dem Grundgesetz gelöscht. Die geforderten Sprachtests für die Vierjährigen unterliegen nicht der Bundeskompetenz, die Qualifizierung und Weiterbildung der Erzieherinnen oder Lehrer ebenso wenig. Stipendien, Bildungssparen und Betreuungsgeld für die unter Dreijährigen fördern die Privatisierung bei der Bildungsfinanzierung. Großspurig soll der Anteil der Stipendiaten von heute zwei auf zehn Prozent erhöht werden: 300 Euro soll es allerdings nur für begabte Studierende geben, aus einem „nationalen Stipendienprogramm“: Die Hälfte sollen die Hochschulen „bei Wirtschaft und Privaten“ einwerben, den Rest teilen sich Bund und Länder. Ein Anreizprogramm für die Banken verbirgt sich hinter dem „Zukunftskonto“, auf das der Bund „jedem neugeborenen Kind beispielsweise“ 150 Euro überweisen lassen will: Einzahlungen von Eltern, Großeltern oder Paten bis zur Volljährigkeit werden mit einer „Prämie“ unterstützt. Ein attraktives „Bildungssparen“ für alle Kinder und alle Bevölkerungsschichten sieht anders aus, aber dieses Thema ist in Deutschland vermint.
Das „Betreuungsgeld“ ab 2013 ist nun die merkwürdigste Schenkaktion des Bundes. Es ist keine „Herdprämie“ nach CSU-Wünschen, sondern die 150 Euro („gegebenenfalls als Gutschein“) sollen dazu dienen, „um Wahlfreiheit zu anderen öffentlichen Angeboten und Leistungen zu ermöglichen“. Baby-Turnen oder frühkindliches Englisch statt Tagesmutter oder Kindertagesstätte? Grotesk, wie die Koalition dem Konflikt mit den Christsozialen aus dem Weg zu gehen versucht. Überhaupt jeglichem Streit: über die gesellschaftliche Spaltung, die Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen durch das deutsche Bildungswesen sowie die soziale Selektion verliert dieser Koalitionsvertrag kein Wort.
Zur beruflichen Bildung, die für Jugendliche immer noch der wichtigste Zugang zum Arbeitsmarkt ist, fällt der Koalition nichts Neues ein. Das duale System von Betrieb und Berufsschule bleibt das unangetastete „Herzstück“ – allen Schwierigkeiten zum Trotz. Spannendes könnte sich hinter einem Satz verbergen: „Das deutsche Berufsbildungssystem muss sich dem internationalen Vergleich stellen“. Kommt das von Arbeitgebern und Gewerkschaften heftig bekämpfte Berufsbildungs-Pisa nun doch? Oder lockt der Bund nur mit riesigen Forschungsprogrammen zur Kompetenzmessung? Die hunderttausend Jugendlichen im unübersichtlichen Übergangssystem ohne verwertbare Berufsqualifikation sind der Koalition zwei Sätze wert. Das System soll neu strukturiert und effizienter werden. Von einem Kampf gegen Bildungsarmut ist weit und breit nichts zu sehen. Im Gegenteil: Auch bei der Kinder- und Jugendhilfe geht es den Koalitionären lediglich um Zielgenauigkeit und Effektivität, Evaluierung und Standards. Ein „Herz für die kleinen Leute“ (Westerwelle) und ihre Kinder lässt sich aus all dem nicht entdecken. Nur für die „Jungs“ hierzulande schlägt das Herz der Koalitionäre: „Wir wollen eine eigenständige Jungen- und Männerpolitik entwickeln.“ Wenn das nicht ein Fortschritt ist.

Arbeit & Soziales

Die Zeiten, zu denen die Bundesrepublik als sozialstaatliches Musterland mit einem hohen Anteil regulärer Arbeitsverhältnisse galt, sind lang vorbei. Das zeigt allein schon ein Blick auf die Rahmenbedingungen für prekäre Arbeitsverhältnisse: In 21 der 27 europäischen Staaten gibt es inzwischen gesetzliche Regelungen zu einem Mindestlohn – dennoch lehnt die Koalition Vergleichbares für Deutschland ab. Die angekündigte Überprüfung tariflicher Mindestlöhne sowie die vereinbarte Ausweitung der Mini- und Midijobs lassen vielmehr befürchten, dass sich Niedriglöhne und prekäre Beschäftigungsverhältnisse weiter verbreiten werden. Wie dann eine Altersvorsorge aussehen soll, die sich auch für Geringverdiener mit einer lebenslangen Vollzeitbeschäftigung „lohnt“, bleibt dahingestellt. Lückenlose Erwerbsbiografien dürften im Niedriglohnsektor ohnehin die Ausnahme sein.
Die prinzipielle Unschärfe des Koalitionsvertrags wird in der Sozialpolitik durch eine weitere Einschränkung verstärkt: Alle angekündigten Maßnahmen stehen unter dem generellen Finanzierungsvorbehalt. Falls man sich nicht einigen kann, bleibt immer noch der elegante Ausweg, dass kein Geld dafür vorhanden wäre. Und der Einigungsbedarf ist im Bereich der Sozialpolitik besonders groß: Die noch in den Wahlprogrammen sichtbaren Differenzen zur Gesundheitsversicherung oder der Arbeitsmarktpolitik kann der Vertrag nicht auflösen. Deshalb finden sich hier zahlreiche Lücken im Regierungsprogramm. So hat die Koalition gegen die noch im Wahlkampf viel zitierte Armut von Kindern und Jugendlichen – jedes siebte Kind hierzulande lebt im Hartz-IV-Bezug – keine konkreten Maßnahmen anzukündigen. Offenbar wartet man lieber auf die anstehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Kindersätzen. Ebenso wenig tastet die neue Regierung die bestehenden „Verschiebebahnhöfe“ im Sozialversicherungssystem an. Das Nebeneinander von Kranken- und Pflegekassen mit der Folge unklarer Zuordnungen bleibt uns voraussichtlich erhalten.
Auf dem Arbeitsmarkt will die Koalition zunächst die „Vielzahl bestehender Arbeitsmarktinstrumente“ reduzieren. Insbesondere sieht der Koalitionsvertrag eine Strukturreform der Hartz-IV-Organisation (v.a. der Jobcenter) vor. In den Optionskommunen kann die Betreuung grundsätzlich weiter wie bisher erfolgen. Ansonsten ist vorgesehen, dass die Bundesagentur für Arbeit den Kommunen Angebote zur Zusammenarbeit vorschlägt. Hierzu soll das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen „Mustervertrag“ ausarbeiten, der die künftige Zusammenarbeit in den Kommunen regelt. Für Bezieher/innen von Hartz-IV-Leistungen soll die Möglichkeit zum Hinzuverdienst erleichtert werden. Dieses Zugeständnis kommt nur sog. „Aufstockern“ in prekären Arbeitsverhältnissen zugute, deren Niedrigeinkommen dann durch Hartz-IV ergänzt würde. So wird der ohnehin wachsende Markt für prekäre Arbeitsverhältnisse staatlich gefördert.
Bei den Leistungen selbst ist dagegen Sparen angesagt: Die Koalition plant, die Wohnkosten von Hartz-IV-Empfängern pauschaliert abzugelten; hierzu gehört neben Energie- und Nebenkosten auch die Miete selbst. Auch keine Zugeständnisse gibt es bei den vielfach umstrittenen Sanktionen gegen Leistungsempfänger. Im Gegenteil kündigt die Koalition an, dass man „neue Lösungsansätze des ‚Forderns und Förderns‘ für Langzeitarbeitslose in größeren Kommunen“ erproben wolle. Offenbar will man die Leistungsbezieher mit Eintritt in die Arbeitslosigkeit zur „Bürgerarbeit“, d.h. zu gemeinwohlbezogenen Einsätzen verpflichten.
In der Gesundheitspolitik bleibt es zunächst beim vielfach kritisierten Fonds, ab 2011 ist dann offenbar ein Systemwechsel zu einer Gesundheitsprämie geplant. Der bisher paritätisch geregelte Arbeitgeberanteil soll dabei fixiert werden, die zu erwartenden Mehrausgaben allein die Versicherten tragen. Das ist ein weiterer Schritt zum Ausstieg aus dem paritätischen Solidarsystem („Sozialpartnerschaft“) und könnte die Entwicklung hin einer Zwei-Klassen-Medizin beschleunigen. Möglichst ab 2011 sollen alle Versicherten – unabhängig vom individuellen Einkommen – Pauschalbeiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung zahlen.
Damit ist ein Konflikt der Koalitionäre programmiert: Mit dem Wechsel zu einer Kopfpauschale (dieser Begriff wird vermieden) wird ein wenig populäres Vorhaben wieder ausgegraben, das seit 2005 als erledigt galt. Noch kurz vor der Wahl hatte die Kanzlerin eine solche Pauschale ausdrücklich abgelehnt, nun soll sie kommen: Alle gesetzlich Versicherten – ob Putzmann oder Geschäftsführerin – würden dann unabhängig von ihrem Einkommen gleichviel zahlen. Die Kopfpauschale enthält nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem, sondern ist  zugleich der Einstieg in eine neue Umverteilungsbürokratie durch das Finanzamt, das den Sozialausgleich für Geringverdienende vornehmen soll; vom neuerlichen Datenhunger zur Bedarfsprüfung ganz zu schweigen.
Daneben plant die Koalition den Aufbau einer zweiten Säule der Pflegeversicherung. Diese soll vergleichbar der Riester-Rente über einen Kapitalstock gebildet werden, die dafür nötigen Beiträge werden zusätzlich zur bisherigen Pflegeversicherung erhoben.

Staat und Religi­ons­ge­mein­schaften

Große Kirchennähe kann nicht nur den sich ausdrücklich als „christlich“ bezeichnenden Regierungsparteien attestiert werden, sondern inzwischen auch der FDP. Deren emanzipatorische Freiburger Thesen von 1974 („Freie Kirchen im freien Staat“) waren schon lange stillschweigend beerdigt, als der Bundesvorstand der FDP sie am 10. Dezember 2007 durch neue „Leitlinien zum Verhältnis von Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften“ ersetzte. Darin fand sich u.a. der Laizismus als „Staatsideologie“ verdammt, zugleich strebte man Staatsverträge (!) auch  mit nichtkirchlichen Religionsgemeinschaften an und sah den Religionsunterricht als „Teil der Werteerziehung“. Es gibt also in der Koalition kein prinzipielles Konfliktpotential im Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften.
Folgerichtig äußert sich der Koalitionsvertrag über das Verhältnis der Politik zu den Religionsgemeinschaften auch nur knapp, kurioser Weise im Teil III (Sozialer Fortschritt). Ein einziger Satz zu den christlichen Kirchen  („unverzichtbare Rolle bei der Vermittlung der unserem Gemeinwesen zugrunde liegenden Werte“), ein einziger Satz zu den anderen Religionen („vermitteln auch Werte, die einen positiven Einfluss auf unsere Gesellschaft haben“). Dazu noch der erhabene Satz „Wir achten alle Religionen“. Und eine Reverenz an die jüdischen Bürgerinnen und Bürger („Besondere Verantwortung tragen wir für die jüdischen Gemeinden als Teil unserer Kultur“). Der Islam wird im Zusammenhang mit der Islamkonferenz erwähnt (die fortgesetzt werden soll).
Die Amtskirchen wird allerdings ein anderer Teil des Regierungsprogramms mehr interessieren. Nach den fetten Jahren 2007 und 2008, in denen das Kirchensteueraufkommen beider Konfessionen gestiegen war, ist für 2009 und die kommenden Jahre mit deutlichen Einbrüchen als Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise und der steigenden Arbeitslosigkeit zu rechnen, ganz zu schweigen von den Steuerausfällen wegen der zunehmenden Kirchenaustritte. In dieser Situation muss die Kirchen die Ankündigung steuerlicher Entlastungen der Bürger zusätzlich beunruhigen. Da die Kirchensteuer direkt von der Einkommensteuer abhängt, müssten die angestrebten Entlastungen in diesem Bereich unmittelbare Auswirkungen auf das Kirchensteueraufkommen haben. Es wird spannend sein, in den nächsten Monaten zu beobachten, wie die kirchlichen Lobbyisten versuchen werden zu verhindern, dass dieser Mechanismus eintritt.

Bioethik: Patien­ten­rechte und Organ­spenden

Die Rechte von Patienten sollen demnächst in einem eigenen Patientenschutzgesetz gebündelt werden, heißt es im Vertrag. Wir sollten darauf achten, dass sich dieser Schutz am Recht auf Selbstbestimmung orientiert und keine paternalistische Bevormundung der Kranken betrieben wird. Insofern können wir das Gesetzgebungsverfahren nutzen, um unsere Vorschläge zur Sterbehilfe erneut in die Diskussion zu bringen.
Die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte ist eine Geschichte von Pleiten, Pech und Pannen: Nachdem die Konzepte für eine zentrale Speicherung von Gesundheitsdaten auf eine breite Ablehnung stießen und Ärzteverbände mit einem Boykott drohten, erwies sich selbst die abgespeckte Version in ersten Flächentests als wenig praxistauglich und weitgehend nutzlos. (vgl. Mitteilungen Nr. 203) Dennoch hält die Koalition an der Einführung fest, auch wenn sie das Konzept der Karte erneut prüfen will, insbesondere darauf hin, ob die sensible Beziehung zwischen Arzt/Ärztin und Patient/ Patientin ausreichend geschützt wird. Die Karte ist aber erst der Anfang einer Entwicklung, die wir sorgfältig beobachten müssen: gemeint ist der Aufbau einer so genannten Telematik-Infrastruktur. Sie schafft die technischen Voraussetzungen dafür, dass medizinische Daten im Bedarfsfall ausgetauscht werden können. 
Außerdem kündigt die Koalition eine kritische Bestandsaufnahme der Transplantationsmedizin in Deutschland an. Die freie Entscheidung für oder gegen Organspende und Organtransplantation sind traditionelle Themen der Humanistischen Union (s. Nachruf auf S. 25), wir werden deshalb prüfen, wie wir uns in die zu erwartenden Diskussionen einschalten können.

Für den Bundesvorstand der Humanistischen Union:
Tobias Baur, Johann-Albrecht Haupt, Werner Koep-Kerstin, Helga Lenz, Jens Puschke, Fredrik Roggan, Björn Schreinermacher, Rosemarie Will und Jutta Roitsch-Wittkowsky.

Informationen:

CDU, CSU und FDP: Wachstum. Bildung. Zusammenhalt. Koalitionsvertrag für die 17. Legislaturperiode. Berlin, 26. Oktober 2009, unter
http://www.cdu.de/doc/pdfc/091026-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf.

Zu den menschen- und bürgerrechtlichen Erwartungen an die neue Bundesregierung empfiehlt sich auch die Lektüre des Forderungskatalogs des Forum Menschenrechtes zur Bundestagswahl 2009, an dessen Erarbeitung sich die Humanistische Union beteiligt hat. Die Broschüre kann über die HU-Geschäftsstelle bezogen werden oder ist im Internet abrufbar unter http://forum-menschenrechte.de/cms/upload/PDF/ab_05-2008/Endfassung_Forderungskatalog.PDF

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