Themen / Rechtspolitik

Dankesrede anlässlich der Verleihung des Fritz-­Bau­e­r-­Preises

15. Dezember 1978

Mitteilungen Nr. 85 (Dezember 1978), S. 45-47

Eine Bestandsaufnahme will ich deshalb nicht vornehmen, weil ich dann viel schon Bekanntes wiederholen müßte. Den fortdauernden Abbau rechtsstaatlicher Sicherungen im Strafverfahren – der zusammen mit den Berufsverboten und der sich ausweitenden Überwachung der Bürger zu den bedrückendsten Erscheinungen in unserem Staat gehört – erwähne ich, ohne seine einzelnen Schritte darzustellen. Aus dem materiellen Strafrecht will ich allerdings zwei Bereiche ansprechen, weil sie – so glaube ich – nicht die Aufmerksamkeit gefunden haben, die sie verdienen.
Das eine ist die tiefgreifende Reform des Systems der Strafen und Maßregeln, die sich in diesem Jahrzehnt vollzogen hat. Es ist gut, sich die Fortschritte vor Augen zu führen, die hier erreicht wurden – man erliegt dann nicht so leicht der Gefahr zu resignieren und nicht der Versuchung, es sich mit der Resignation leicht zu machen. Erreicht wurden vor allem: die Abschaffung der Zuchthausstrafe, die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafen zugunsten der Geldstrafen und der Strafaussetzung, die Beseitigung des Arbeitshauses und Einschränkung der Sicherungsverwahrung. Die Strafrechtsreform ist Stückwerk geblieben. Derjenige, der zu Freiheitsstrafe verurteilt wird, kommt nach wie vor in einen Strafvollzug, dem zwar die Resozialisierung als Ziel vorgegeben ist, dessen Bedingungen aber diesem Ziel entgegenstehen.
Das Strafvollzugsgesetz hat die wesentlichen inhaltlichen Reformen nicht gebracht. Zwar verheißt das Gesetz vieles, wichtige Elemente eines Resozialisierungsvollzugs sind in Paragraphen gegossen – aber für die Paragraphen, auf die es ankommt, ist dann in den Schlußvorschriften bestimmt, daß sie vorerst nicht in Kraft treten. Auch die Einrichtung sozialtherapeutischer Anstalten, die dem sozial Geschädigten Hilfe bieten könnten, ist ein gesetzgeberisches Versprechen geblieben, dessen Einlösung immer weiter hinausgeschoben wird – jetzt bis 1985. Es besteht darum kein Grund, daß wir uns mit dem Zustand unseres Strafrechts zufriedengeben – aber immerhin: Wir haben ein Strafrecht, das weniger inhuman ist als das der Vergangenheit.
Der zweite Bereich, den ich anspreche, ist aus einem ganz anderen Grunde hervorzuheben – deshalb nämlich, weil sich in ihm eine besorgniserregende Entwicklung abzeichnet. Ich meine die zunehmende Einengung der Meinungsfreiheit mit Hilfe des Strafrechts. Es ist eine Banalität, daß zu einer freiheitlichen Demokratie die Freiheit der Kritik an Akten der Staatsgewalt und der Kritik an den politischen Verhältnissen im Staat gehört, daß solche Kritik für die Demokratie lebenswichtig ist. In letzter Zeit aber sind mehrere Gerichtsentscheidungen ergangen, die eben diese Kritik für strafbar erklären, wenn sie „maßlos” ist – das heißt, wenn die jeweiligen Richter sie als maßlos bewerten – oder wenn sie von jemandem vorgetragen wird, dessen Gesinnung die Richter als „dem Staat feind-selig” beurteilen.
Es sind Entscheidungen zu § 90a StGB, dem Tatbestand der Verunglimpfung des Staates. Die wichtigste ist der Beschluß des Kammergerichts Berlin, in dem die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen 14 der Professoren angeordnet wurde, die die Dokumentation zum „Buback-Nachruf” veröffentlicht haben. Das Argumentationsmuster dieses Beschlusses hat inzwischen bei anderen Gerichten Schule gemacht. Strafbar sollen die Professoren nicht wegen des Abdrucks des „Nachrufs” sein – diesen haben sie nur dokumentiert, ohne sich mit ihm zu identifizieren – , sondern wegen des von ihnen verfaßten Vorspanns. Darin ist die Rede von einem „Nachruf, den zu veröffentlichen unter Strafe gestellt ist”  –  nach Ansicht des Kammergerichts eine Beschimpfung der Bundesrepublik, weil „unter Strafe gestellt” besage, daß der Nachruf eigentlich nicht strafbar sei, und damit der Vorwurf der Willkür erhoben werde. Die zweite Beschimpfung sieht das Kammergericht darin, daß über unsere Gesellschaft ausgesagt wird, daß sich „faschistoide Tendenzen ungehindert breit machen können”.
Das, was man diesen Sätzen allenfalls entnehmen kann, ist Kritik an Handlungen einzelner Strafverfolgungsbehörden und Kritik am Untätigbleiben gegenüber Tendenzen, die als faschistoid bezeichnet werden. Im Beschluß des Kammergerichts wird dies zum Angriff auf den Staat Bundesrepublik.
In einer weiteren Entscheidung wird die Assoziationskette – Kritik am Verhalten von Staatsorganen – Angriff auf den Staat – noch um ein Glied erweitert, nämlich: = Angriff auf die Verfassungsordnung. So geschehen im Beschluß des Verwaltungsgerichts Hannover in der Disziplinarsache gegen Professor Brückner. Dort heißt es, einer Verletzung der Verfassungstreuepflicht mache sich nicht nur schuldig, wer die „freiheitlich-demokratische Grundordnung offen (angreift)”, sondern auch der, der „im Gewande der Kritik am Gesetzgeber, an Gerichten, Polizei- und Strafverfolgungsbehörden unter Außerachtlassung jeder Bemühung um Augenmaß die verfassungsmäßigen Organe der Bundesrepublik ständig , durch pauschal erhobene Vorwürfe verächtlich macht”.
Nun soll freilich nicht jeder mit Sanktionen belegt werden, der das Verhalten von Staatsorganen kritisiert – derjenige, der das „maßvoll” tut, ist hiergegen gefeit, es sei denn, er hat eine „dem Staat feindselige Gesinnung”. Aber die  Sache wird nicht besser dadurch, daß das Recht zur Meinungsäußerung davon abhängig gemacht wird, ob man zu den staatsfeindlich oder staatsfreundlich Gesonnenen gerechnet wird.
Ich komme zu dem, was ich über den Zusammenhang der Entwicklungen im Recht mit denen der Politik vorzutragen habe. Anzeichen dafür, daß sich das Verständnis des Verhältnisses zwischen dem Einzelnen und dem Staat verändert, sind vor allem im Strafverfahrensrecht unübersehbar. Die Gesetzesänderungen der letzten Jahre haben die Vorkehrungen für den Schutz des Beschuldigten verringert, die Machtbefugnisse der Strafverfolgungsbehörden erweitert. Nun wird allerdings argumentiert, darin liege gar keine Veränderung der Wertung, man begegne nur neuartigen und größeren Gefahren, und es gehe gar nicht um den Staat, sondern um die Abwendung von Bedrohungen der Bürger; man dürfe eben nicht nur an den Beschuldigten denken, sondern auch an die Opfer, die durch ein effektiveres Strafverfahrensrecht vielleicht gerettet werden.
Ich meine, daß dies zur Erklärung der sogenannten Antiterrorgesetze nicht ausreicht. Nicht nur deshalb, weil zu bezweifeln ist, ob durch die Verschärfungen der Strafprozeßordnung tatsächlich irgendeine Gewalttat verhindert wird – hierüber mag man streiten -, sondern vor allem aus folgendem Grunde: Faßt man ausschließlich die Gefahren für Leib, Leben und Freiheit ins Auge, so muß man feststellen, daß die terroristischen Gewalttaten nur einen kleinen Bruchteil der Gesamtzahl der Gewalttaten ausmachen. Das, was sie aus der großen Zahl gleich schwerer Täten heraushebt und den Gesetzgeber zu immer neuen Maßnahmen veranlaßt, ist offenbar dies: daß die Täter durch diese Taten zugleich den Staat angreifen und seine Autorität in Frage stellen.
Zudem sind einige der neuen Gesetze und Gesetzesvorschläge so zugeschnitten, daß sich aus ihnen ablesen läßt, daß sie nicht so sehr die Interessen möglicher Opfer schützen wie vielmehr die Staatsordnung. Das deutlichste Beispiel ist das von der Bundesregierung entworfene Kronzeugenprinzip, das allerdings nicht Gesetz geworden ist. Die Regelung stellte zwar dem Terroristen Straffreiheit oder Strafmilderung in Aussicht, der den Strafverfolgungsbehörden bei der Ergreifung oder Überführung anderer Mitglieder der Vereinigung behilflich ist – nicht hingegen dem, der geplante Verbrechen der Vereinigung verhindert, auch wenn er damit Menschenleben rettet.
Eine weitere Veränderung im Verhältnis von Staat und Bürger: Immer häufiger nehmen Staatsorgane das Recht für sich in Anspruch, die gesetzlichen Grenzen zu überschreiten, die den Eingriffen der Staatsgewalt in Rechte des Bürgers gezogen sind, unter Berufung auf den Notstandsparagraphen des Strafgesetzbuches oder auf einen übergesetzlichen Notstand. Damals im Fall Traube wurde die Einmaligkeit der Situation beschworen, der Entschluß des Innenministers erschien in der Bundestagsdebatte in einem Licht, das ihm nachgerade die Dimension antiker Tragödien verlieh – bis dann ein „Lauschangriff” nach dem anderen an den Tag gebracht wurde.
In der Argumentation mit dem Notstand gab es noch Steigerungen; einmal das Belauschen von Verteidigergesprächen in Stammheim, wo es nicht um einen Konfliktfall ging, von dem man behaupten konnte, der Gesetzgeber habe ihn nicht bedacht, sondern um eine eindeutige Auflehnung gegen die gesetzgeberische Entscheidung. Eine zweite Steigerung gab es bei der Kontaktsperre. Nachdem ohne gesetzliche Grundlage auch die Unterbindung des Verteidigerverkehrs angeordnet worden war, gab es einzelne Gerichtsentscheidungen, die solche Anordnungen aufhoben. Die Reaktion der Exekutive war die Anweisung, diese richterlichen Entscheidungen nicht zu befolgen.
Inzwischen wird die Argumentation mit dem Notstand als Rechtfertigung für staatliche Eingriffe zur Routine – und damit wird eigentlich immer offensichtlicher, daß sie nicht stimmen kann. Gleichzeitig wird das Aufsehen, das solche Meldungen auslösen – wie die, daß Polizei, Staatsanwaltschaften und Verfassungsschutz Daten von Sozialversicherungsträgern aus „übergesetzlicher Rechtsgüterabwägung” abrufen – immer geringer. Das mag sich zu einem Teil daraus erklären, daß Gegenstand des öffentlichen Interesses eben nur Neuigkeiten sind. Daß Staatsorgane sich um vermeintlich höherer Ziele willen über Gesetze hinwegsetzen, war im Fall Traube noch eine Neuigkeit, heute ist es das nicht mehr.
Ein etwas anderer Vorwurf spielt in der Auseinandersetzung zwischen den Parteien und auch innerhalb der Parteien eine Rolle: die Beschuldigung, die Gefahren des Terrorismus nicht ernst genug zu nehmen, nicht entschieden genug gegen ihn vorzugehen und damit Gewalttaten Vorschub zu leisten. Nicht wenige Abgeordnete haben sich durch die Befürchtung, sich selbst und ihre Partei dieser Beschuldigung auszusetzen, dazu bestimmen lassen, Gesetzen zuzustimmen, die sie selbst für verfehlt halten: Ich habe in Diskussionen und Gesprächen mit Parlamentariern meine Meinung vertreten, daß die Gesetze für die Bekämpfung des Terrorismus wertlos und daß sie schädlich sind – und dann häufig erfahren, daß ich offene Türen eingerannt hatte. Die Gesprächspartner stimmten zu und hatten nur eine Erwiderung: In dem Klima, das inzwischen geschaffen worden ist, können wir unseren Wählern eine schlichte Ablehnung neuer Gesetze nicht verständlich machen, wir können sie nur abmildern, um etwas zu tun und möglichst wenig Schaden damit anzurichten.
Diese Taktik hat bewirkt, daß eine freiheitlich-rechtsstaatliche Position nach der anderen aufgegeben worden ist. Denn wer der Forderung nach Verschärfung der Gesetze nachkommt – und sei es auch nur zur Hälfte – muß ja so argumentieren, als hielte er selbst Verschärfungen für ein geeignetes und vertretbares Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus. Damit legt er selbst die Argumente aus der Hand, mit denen er der nächsten Forderung, doch noch einen Schritt weiterzugehen, begegnen könnte. Darüber hinaus begibt er sich der Möglichkeit, die ideologische Position des Gegners offenzulegen und offen anzugreifen.
Wir haben die absurde Situation, daß Leute Forderungen erheben wie die, die Todesstrafe einzuführen, Häftlinge als Geiseln zu erschießen und Beschuldigten; die des Terrorismus verdächtigt werden, den Beistand eines Wahlverteidigers zu versagen – ohne daß sie befürchten müssen, sich damit aus der „Gemeinsamkeit aller Demokraten” auszuschließen, während jemand, der gegen die Überwachung von Bürgern und gegen Rechtsverletzungen durch Staatsorgane protestiert, bei der Wahl seiner Worte vorsichtig sein muß, damit er nicht als Verfassungsfeind eingestuft wird – als Gegner der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung. Wer etwas verändern will, muß zunächst Klarheit gewinnen über die gegenwärtige Situation und die in ihr wirkenden Faktoren. Ich hoffe, etwas dazu beigetragen zu haben.

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