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Der grund­rechts­freund­liche Kommentar zum Versamm­lungs­recht

Mitteilungen21307/2011Seite 8

Mitteilungen Nr. 213 (2/2011)

Der grundrechtsfreundliche Kommentar zum Versammlungsrecht

Sieghart Ott / Hartmut Wächtler / Hubert Heinhold:
Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz), Kommentar, 7. Aufl. Richard Boorberg Verlag Stuttgart u. a. 2010, 432 S. 48,- €.

Wie wichtig und zugleich wie gefährdet das Grundrecht der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit ist, zeigt nicht nur der Blick auf die arabischen Staaten, sondern auch auf deutsche Verhältnisse: Heiligendamm, Stuttgart, Gorleben – die Beispiele sind Legion. Immerhin ist das genannte Grundrecht in Artikel 8 unseres Grundgesetzes (GG) verankert, und das Bundesverfassungsgericht hat seinen hohen Rang in der berühmten Brokdorf-Entscheidung von 1985 bekräftigt.
Das Gesetz, das diese Gewährleistung bürgerschaftlicher Selbstorganisation im Einzelnen konkretisieren soll, ist allerdings alles andere als grundrechtsfreundlich: Vorbild für das im Jahre 1953 vom Bundestag verabschiedete Versammlungsgesetz war das Reichsvereinsgesetz von 1908, dementsprechend ist es eher von einem obrigkeitsstaatlichen als von einem demokratischen Geist durchdrungen. Statt nun aber den Anforderungen des Grundrechts durch eine entsprechende Reform des Versammlungsgesetzes Rechung zu tragen, stahl sich der Bundesgesetzgeber aus der Verantwortung, indem er durch die Föderalismusreform 2006 die Zuständigkeit für das Versammlungsrecht den Bundesländern zuwies. In den meisten Bundesländern gilt mangels eigener gesetzgeberischer Aktivität zwar noch das alte Versammlungsgesetz des Bundes weiter. Ansonsten ist ein bunter Flickenteppich von landesgesetzlichen Regelungen entstanden, wobei insbesondere Bayern – trotz einer einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts – durch einen dicken schwarzen Fleck auffällt. Nicht zuletzt diese „ganz auf Erfassung und Kontrolle ausgerichtete Version des Freistaats Bayern“ (so im Vorwort S. 8) veranlasste zwei Anwälte aus München (der einigen aus der Zeitschrift vorgänge bekannte Autor Sieghart Ott ist bereits 2005 verstorben) zu einer Neuauflage des bewährten Gesetzeskommentars.

Um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Der „Ott/ Wächtler/Heinhold“ ist zur Zeit derjenige Kommentar zum (Bundes-)Versammlungsgesetz, der eine grundrechtsorientierte Auslegung der einzelnen Regelungen dieses Gesetzes am konsequentesten durchhält (anders als z. B. der von Polizeipraktikern verfasste „Dietel/Gintzel/Kniesel“). Damit ist er insbesondere aus bürgerrechtlicher Sicht zu empfehlen.

Die durchweg grundrechtsfreundliche Sicht des Kommentars sei hier nur anhand zweier Beispiele verdeutlicht: Im Streit steht aktuell z. B. die Befugnis der Polizei zu „Bild- und Tonaufnahmen“, also insbesondere zur Videoüberwachung von Versammlungen. Das Versammlungsgesetz erlaubt diese bei der Annahme „erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung“, (§§ 12a, 19a). Die häufig angeblich zur „Einsatzlenkung“ praktizierte verdachtsunabhängige Versammlungsüberwachung ist mithin nicht zulässig. Ferner weisen Ott/Wächtler/Reinhold mit Recht darauf hin, dass die Ermächtigung zur Überwachung von Versammlungen in geschlossenen Räumen (§ 12a) verfassungswidrig ist, weil Artikel 8 Absatz 2 GG nur Versammlungen unter freiem Himmel einem Gesetzesvorbehalt unterstellt (S. 165).

Mit den Grundrechten nicht zu vereinbaren ist nach dem Kommentar auch das 1985 in das Versammlungsgesetz eingeführte Verbot der „passiven Bewaffnung“ sowie der Vermummung (§ 17a). Die gesetzliche Verpflichtung, „sich Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs durch die Polizei schutzlos preiszugeben“, so die Autoren, verstoße gegen das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (S. 247). Auch das Vermummungsverbot in § 17a Abs. 2 sei verfassungswidrig, allein schon, weil es viel zu unbestimmt sei. Nicht nur für ausländische Versammlungsteilnehmer aus Ländern mit totalitären Regimen, sondern auch für Deutsche könne im Übrigen die Verhinderung der Identitätsfeststellung aus anerkennungswürdigen Gründen wichtig sein (S. 252). Mit Recht verweisen die Autoren in diesem Zusammenhang auf die Einschüchterungswirkung der Möglichkeit einer Identifizierung etwa im Hinblick auf eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst. Als weiteres Beispiel ließe sich hier die Unkenntlichmachung von Teilnehmern oder Teilnehmerinnen einer „Antifa-Demo“ anführen, die sich vor dem Fotografieren durch Neonazis und anschließende Drangsalierung schützen wollen. Es kann also keine Rede davon sein, dass die „Vermummung“ immer ein Indiz für die Planung von Straftaten ist. Eine gesetzliche Verpflichtung für die Bürger und Bürgerinnen, nur ungeschützt und barhäuptig vor die Obrigkeit zu treten, ist mit der grundrechtlichen Gewährleistung freier Versammlungen und Demonstrationen jedenfalls kaum vereinbar.

Martin Kutscha lehrt Staatsrecht in Berlin und ist Mitglied im Beirat der HU.

Zur Auseinandersetzung um das bayerische Versammlungsgesetz:

Klaus Hahnzog & Hartmut Wächtler: Verfassungsbeschwerde gegen Bayerisches Versammlungsgesetz wird fortgeführt, in: Mitteilungen Nr. 208/209 (1+2/2010), S. 8.

Wolfgang Killinger: Verfassungsbeschwerde gegen das bayerische Versammlungsgesetz, in: Mitteilungen Nr. 202, S. 28.

Klaus Hahnzog: Für unsere Versammlungsfreiheit, Breiter Protest gegen neues bayerisches Versammlungsgesetz, in: Mitteilungen 201, S. 12-14.

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