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Ressort­pla­nung: Soziale Grundrechte

Mitteilungen Nr. 215/216 (Heft 1/2012), S. 30ff.

Ressortplanung: Soziale Grundrechte

Ein kurzer Aufriss

Gesellschaftspolitisch ist das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in Deutschland von Gegensätzen geprägt. Die Milieus zerfallen in kleinere Teilgruppen mit sehr unterschiedlichen Interessen und politischen Vorstellungen. Das klassische liberale Bildungsbürgertum, das zu den wichtigsten Trägern zivilgesellschaftlicher und bürgerrechtlicher Organisationen gehört, schrumpft. Der bürgerrechtliche Aufbruch vor und nach der deutschen Vereinigung hat kaum Spuren hinterlassen.

Eine Humanistische Union, die keine Weltanschauungsvereinigung sein, sondern ihren Charakter als Bürgerrechtsorganisation unterstreichen will, wird angesichts der gesellschaftspolitischen Entwicklung in Deutschland und Europa ihr Selbstverständnis klären und im breiten Spektrum der NGOs ihren Platz suchen müssen. Entscheidend sind dabei ihr Bild von den Menschen und den Grundprinzipien unserer Gesellschaft: Es geht um den freiheitlichen, selbstbestimmten, eigenverantwortlichen, aber auch sozialen und gemeinwohlorientierten Menschen und seine Chancen, im Rahmen des Grundgesetzes und der Europäischen Sozialcharta seine Identität und Anerkennung als Bürger/Bürgerin zu finden. Wenn es denn richtig ist, dass nationale und europäische Grundrechte den Kern dieser Identitätsstiftung ausmachen, dann ist es Aufgabe einer Bürgerrechtsorganisation, über diese Grundrechte oder Verstöße gegen sie zu wachen: seien es Persönlichkeitsrechte oder soziale / gesellschaftliche Teilhaberechte.

Bei der Teilhabe stehen nicht eingelöste Grundrechte und die Chancengleichheit im Vordergrund. Die bis 1994 im Grundgesetz genannten „einheitlichen Lebensverhältnisse“ – dann ersetzt durch „gleichwertige Lebensverhältnisse“ – gelten faktisch nicht beim Zugang zu Bildung, Ausbildung und Arbeit, nicht bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder der Berufswahlfreiheit (vor allem im nichtakademischen Arbeitsmarkt). Der Wohnort, das Angebot an Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, die soziale wie kulturelle Infrastruktur und schließlich die soziale und ethnische Herkunft bestimmen nach wie vor den Bildungserfolg, die Entfaltungsmöglichkeiten und die individuellen Lebensentwürfe. Vor allem in Einwanderungsgesellschaften ist die Einlösung der Chancengleichheit und der Berufswahlfreiheit von zentraler Bedeutung: identitätsstiftend eben. Die umfangreiche Ungleichheits- und Bildungsforschung in Deutschland hat aber im Gegenteil immer wieder belegt, dass „class, race and gender“ nach wie vor über die Lebens- und Berufschancen von Kindern und Jugendlichen entscheiden.

In der Sozialpolitik fehlen die nachvollziehbaren, überzeugenden Maßstäbe für eine staatliche Daseinsvorsorge im allgemeinen und das menschenwürdige Existenzminimum im besonderen. Auf diesen Feldern hätte eine Bürgerrechtsorganisation eine besondere Verantwortung, weil sie im Gegensatz zu den Wohlfahrtsverbänden nicht völlig abhängig ist von staatlichen Töpfen und wohlwollender Subsidiarität.

Die Schwierigkeiten für eine Bürgerrechtsorganisation sind erheblich: Beim Datenschutz hat sie bisher einen wichtigen Verbündeten, das Bundesverfassungsgericht. Bei Chancengleichheit, sozialer Teilhabe und einer aktiven Integrationspolitik (zum Beispiel durch positive Diskriminierung) ist die Unterstützung wesentlich schwächer ausgeprägt, bisher nur eindeutig beim Bildungszugang (vgl. Numerus clausus-Entscheidung des BVerfG vom 18.7.1972 – BVerfGE 33, 303) und seit Februar 2010 beim menschenwürdigen Existenzminimum für schulpflichtige Kinder, deren Eltern in der Grundsicherung sind (1 BvL 1/09 u.a. vom 9.2.2010). Die föderalen, kulturellen, kirchenpolitischen oder bildungspolitischen Grundstrukturen stehen allerdings unter dem Vorbehalt der Karlsruher Richter (d.h. unter den sogenannten Ewigkeitsklauseln). Im Wirtschafts- und Arbeitsrecht haben sich die Karlsruher Richter bisher auf eine „europafreundliche“ Haltung festgelegt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit einigen Entscheidungen jedoch Korrekturen am deutschen Familienbild angemahnt (z.B. Rechte für den biologischen Vater). Was die europarechtlichen Vorgaben für die nicht eingelösten Grundrechte bedeuten, ist bisher nicht ausgelotet.

Schärfung des Profils an zwei Themen

Die HU fordert die Emanzipation und Selbstbestimmung der Frauen seit Jahrzehnten ein. Kurz vor dem Ende der aktuellen Legislaturperiode ist es an der Zeit, eine kritische Bilanz zu ziehen. Es geht um die soziale, kulturelle und wirtschaftliche Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, den Zugang der Frauen zu akademischen wie nichtakademischen Berufen und Positionen, den demografischen Wandel und die „gleichwertigen Lebensverhältnisse“.

Das Material für diese Bilanz liegt in einer kaum noch überschaubaren Fülle vor. In kürzester Zeit sind 2011 und 2012 Berichte, Gutachten, Reporte veröffentlicht worden, die ein ungeschminktes Bild von der Lebenswirklichkeit der Frauen und Mütter in unserer Gesellschaft zeichnen: der Erste Gleichstellungsbericht („Neue Wege – gleiche Chancen“) und der 8. Familienbericht der Bundesregierung; der Familienreport 2011; der Datenreport 2011 vom Statistischen Bundesamt und dem Wissenschaftszentrum Berlin; die „Charta für familienbewusste Arbeitszeiten“ von der Bundesregierung, den Gewerkschaften und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft; die Berichte der Bundestags-Enquete „Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität“. Diese Forschungs- und Berichtsergebnisse gilt es zu sichten und zu bewerten. Und es stellt sich dringend die politische Frage, ob die 195 Milliarden Euro, die im Jahr 2009 für 152 familienbezogene und acht ehebezogene Maßnahmen ausgegeben wurden (Familienreport 2011, S. 39), der Emanzipation, der Gleichstellung und gesellschaftlichen Teilhabe der Frauen und  Mütter genützt haben. Oder haben sie tradierte Rollenbilder in der Familie, auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft verfestigt, wenn nicht gar befördert?

Die HU sollte die vorliegenden Daten zum Anlass nehmen, um die bisherige Politik und die Rechtssprechung kritisch zu prüfen: Welche Trends zeigen sich in der Lebenswirklichkeit der deutschen Gesellschaft hinsichtlich Gleichberechtigung und gleichwertigen Verhältnissen? Wie sind die bestehenden Ungerechtigkeiten verfassungsrechtlich zu bewerten? Wie könnten alternative Politikansätze aussehen? Geplant ist, diesen Fragen im Rahmen einer eintägigen Fachtagung nachzugehen. Mit diesem Vorhaben könnte die HU ihre bürgerrechtliche Kompetenz stärken und ein eigenständiges Profil in Sachen sozialer Grundrechte gewinnen.

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