Themen / Sozialpolitik

Urteil zum Erzie­hungs­geld in Bayern

04. Juni 2012

Mitteilungen Nr. 215/216 (Heft 1/2012), S. 20

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat am 7. Februar 2012 das bayerische Gesetz für ein Landeserziehungsgeld für nichtig erklärt, weil es gegen den Gleichheitsgrundsatz (Artikel 3) und den Schutz der Familie (Artikel 6) im Grundgesetz verstößt (BVerfG, 1 BvL 14/07). Das Sozialgericht München hatte 2007 den Fall dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt: Zu entscheiden war, ob der bayerische Gesetzgeber die Gewährung eines Landeserziehungsgeldes von einer bestimmten Staatsbürgerschaft abhängig machen darf. Das Gesetz von 1995 begrenzte den Empfängerkreis auf Deutsche und andere Personen, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der EU oder eines anderen Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum besitzen. Die Klägerin ist polnische Staatsbürgerin, lebt und arbeitet seit 1984 in Bayern. Sie beantragte das Landeserziehungsgeld für ihr im Jahr 2000 geborenes Kind. Da Polen der EU erst am 1. Mai 2004 beitrat, wurde der Antrag abgelehnt bis hinauf zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof, der die Ausschlusskriterien in dem Gesetz nicht beanstandete.

Im Gegensatz dazu hält der Erste Senat des Bundesverfassungsgericht die Norm für verfassungswidrig. Der Gleichheitsgrundsatz „verlange eine umso strengere Kontrolle, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken können„, heißt es in dem Urteil. „Der hier zu berücksichtigende Schutz von Ehe und Familie sei nicht nur gegenüber Deutschen gewährleistet„. Es gebe keine Gründe, die eine Ungleichbehandlung nach der Staatsbürgerschaft „nach Art und Gewicht rechtfertigen könnten„. Die Richter unterstreichen, dass die gewählte Unterscheidung lediglich „fiskalischen Interessen“ diene. Diese Interessen „könne der Freistaat Bayern auch im Wege von Leistungskürzungen Rechnung tragen, ohne ausländische Staatsanghörige vom Leistungsbezug auszuschließen.“

Interessant ist das Karlsruher Urteil vor allem auch im Zusammenhang mit dem umstrittenen Betreuungsgeld, das die Bundesregierung noch in dieser Legislaturperiode einführen will. Die wirtschaftliche Unterstützung der Pflege- und Erziehungstätigkeit der Eltern, die Ermöglichung der eigenen Betreuung des Kindes durch Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit oder durch deren Einschränkung halten die Richter für einen legitimen Gesetzeszweck. Nur käme die Förderung der frühkindlichen Entwicklung „bei Ausländern und ihren Kindern auf gleiche Weise zum Tragen wie bei Deutschen„.

In dem Urteil setzen die Richter dem bayerischen Gesetzgeber eine Frist bis zum 31. August 2012. Gleichzeitig geben sie mehr als deutliche Hinweise, welche Ausschlussgründe sie als verfassungsgemäß betrachten würden: Wer in Deutschland nicht erwerbstätig sein darf/kann, könne vom Leistungsbezug ausgeschlossen werden, meinen die Richter. „Die Gewährung einer Sozialleistung, die Eltern einen Anreiz zum Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit geben will, verfehlt ihr Ziel, wenn eine solche Erwerbstätigkeit demjenigen Elternteil, der zur Betreuung des Kindes bereit ist, rechtlich nicht erlaubt ist.“

Für die HU ist das Urteil eine vortreffliche Grundlage für eine Auseinandersetzung über Elterngeld, Betreuungsgeld, frühkindliche Förderung, Förderung der Erwerbstätigkeit der Frauen und den angeblich drohenden Fachkräftemangel.

Jutta Roitsch-Wittkowsky
ist Mitglied des Bundesvorstands der HU und dort für den Bereich
Sozialpolitik / Soziale Grundrechte zuständig

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