Themen / Datenschutz

Netzpolitik in der Humanis­ti­schen Union. Versuch einer Sondierung

18. Dezember 2012

Mitteilungen Nr. 218/219 (Dezember 2012), Seite 16-18

Netzpolitik und der damit verwandte Datenschutz sind schon lange eine Herausforderung für die Bürgerrechte – und ein Kernthema für die Humanistische Union (HU). 1976 veröffentlichte sie Erklärungen zu Personenkennzeichen und Datenschutz, 1983 war sie an den Protesten gegen die Volkszählung beteiligt und heute ist sie unter anderem Teil des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung und der European At-Large Organization (EURALO), der Nutzervertetung bei der Internet-Governance-Organisation ICANN. Sie hat wiederholt das nationale Internet-Governance-Forum (IGF) in Deutschland ausgerichtet. Der folgende Text sondiert, welchen Beitrag die HU – und ein Arbeitskreis Netzpolitik – auch künftig zur netzpolitischen Debatte leisten kann. Er versteht sich als Diskussionsbeitrag.

Netzpolitik ist zum Schlagwort geworden. Nachdem das Politikfeld zunächst lange vernachlässigt wurde, haben Kontroversen um Vorratsdatenspeicherung, Netzsperren und Urheberrechte, und der Aufstieg der Piratenpartei die etablierten politischen Parteien aufgeschreckt. An dem tiefgreifenden Kulturwandel, den das Internet verursacht hat, kommen wir nicht mehr vorbei – selbst wenn wir es wollten.

Was verstehen wir unter Netzpo­li­tik?

Unter Netzpolitik verstehen wir ein breites Gebiet, das sowohl die Gestaltung als auch die Nutzung des Netzes umfasst:

  • Politik im Netz: Spätestens der US-Präsidentschaftswahlkampf von Barack Obama 2008 hat das Bewusstsein für die Möglichkeiten von Politik im Netz geschärft. Politische Organisationen mobilisieren und kommunizieren im Internet, nutzen es als Mittel der Politik. Das Netz ermöglicht neue demokratische Verfahren mit erweiterter Teilhabe, wie sie unter anderem bei der Piratenpartei erprobt werden. Das Prinzip der Open Data ermöglicht transparentes Verwaltungshandeln und Bürgerbeteiligung.
  • Politik für das Netz: Voraussetzung für politische Partizipation über reines Polit-Marketing hinaus sind ausreichende Netzressourcen für die demokratische Beteiligung, und die Möglichkeit, das Netz unzensiert und anonym zu nutzen. Damit wird das Netz zum Gegenstand der Politik.

Die Enttäuschung Vieler mit der Präsidentschaft Obamas zeigt aber auch, dass eine geschickte Nutzung des Internet letztlich nicht ausreicht: Entscheidend sind die politischen Inhalte.

Netzpolitik – ein Thema für die Humanis­ti­sche Union

Das Netz wirkt häufig als Verstärker von Entwicklungen – positiv wie negativ –, die es auch in der „Offline-Welt“ gibt. Themen der Netzpolitik sind zunächst einmal alle Fragen, die sich aus der Durchdringung unserer Kultur durch das Internet ergeben. Viele Prozesse des täglichen Lebens verlagern sich ins Internet: Bildung, Medien, Politik, Verwaltung, Konsum bis hin zu militärischen Konflikten. Damit wird mangelnde Netzkompetenz zum Nachteil für die persönliche Entwicklung. Diesen Digital Divide zu verringern, muss ein zentrales Ziel der Netzpolitik sein.

Wie so häufig geht es für die Bürgerrechte auch hier zunächst um Abwehrkämpfe gegen staatliche Repression: der Kampf gegen die Überwachung der Internet-Kommunikation (beispielsweise durch die Vorratsdatenspeicherung), oder gegen die Zensur der Netzkommunikation (beispielsweise durch die Sperrung von Teilen des Netzes) sind die prominentesten Beispiele dafür. Wer im Netz unterwegs ist, hinterlässt Spuren und kann dadurch umfassend überwacht werden. Auch wenn die Zensur im Internet schwieriger geworden sein mag – es gibt immer wieder Versuche, die Kommunikation zu filtern, selbst in Staaten mit demokratischer Verfassung. Derzeit werden im EU-Projekt CleanIT weitreichende Überlegungen zur Filterung angestellt – natürlich immer im Kampf gegen den Terrorismus(TM).

Andere Themen haben nur mittelbar mit dem Netz zu tun, werden aber häufig zur Netzpolitik gezählt. Dazu zählt etwa die Debatte um Urheberrechte. Sie wird bereits seit Jahrzehnten geführt. Spätestens seit der Einführung der Compact-Cassette – die Älteren unter uns erinnern sich – werden regelmäßig die Gefahren für die Kreativwirtschaft durch die Vervielfältigung von Werken beklagt. Durch den einfachen Zugang zu Werken über das Internet hat das Thema eine neue Dimension erreicht und wird im Zusammenhang mit der Netzpolitik diskutiert – nicht zuletzt, weil die Abwehrmechanismen dieselben sind wie oben genannt: Überwachung und Zensur der Internet-Kommunikation.

Doch es darf nicht nur um Abwehrkämpfe gehen. Netzpolitik muss sich mit der Frage beschäftigen, wie wir unser Zukunft mit dem Netz gestalten wollen. Chancen reichen von demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten durch Diskussions- und Abstimmungsplattformen, Transparenz der öffentlichen Verwaltung durch Open Data und Völkerverständigung durch weltweite Kommunikation. Auch dabei stellen sich Fragen für die Bürgerrechte.

Man kann aber den Begriff noch weiter fassen und auf alle Themen ausdehnen, die sich aus digitalen Technologien ergeben. Welche Auswirkungen auf die Bürgerrechte hat die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung? Welche Auswirkungen haben automatisierte Entscheidungssysteme – beispielsweise im militärischen Bereich oder in der Finanzwirtschaft?

Netzpolitik und Bürger­rechte: Erschlos­senes Land?

Viele der genannten Themen werden bereits bearbeitet – auch von der Humanistischen Union. Braucht es dann überhaupt einen eigenen Arbeitskreis Netzpolitik? Werden die Themen nicht bereits von anderen Organisationen bearbeitet – vielleicht sogar besser, als wir es könnten? Oder, positiv gewendet: Was wäre der spezifische Beitrag der Humanistischen Union zur Netzpolitik?

Themen für eine eigen­stän­dige Netzpolitik der Humanis­ti­schen Union

Die Humanistische Union ist eine Bürgerrechtsvereinigung. Sie kann auf eine breite Expertise und viel Erfahrung verweisen. Manches Thema, das heute der Netzpolitik zugerechnet wird, wurde früher bereits für die analoge Welt diskutiert – man denke nur an den Datenschutz oder das Urheberrecht. Expertise und Erfahrung sind die Grundlagen des speziellen Beitrags der Humanistischen Union zur Netzpolitik – zumal in vielen Bereichen ein unmittelbarer Zusammenhang mit Bürgerrechten besteht.

Potenzielle Themen für die Humanistische Union fallen in drei Kategorien:

  • In der Öffentlichkeit bereits etablierte Themen: Andere Organisationen werden sich auch ohne die HU mit netzpolitischen Themen beschäftigen; doch wir sollten sie aufgreifen, dazu Stellung beziehen und uns an Kampagnen beteiligen – mal ganz vorne, mal eher im Hintergrund. Die Beteiligung an den Kampagnen gegen Vorratsdatenspeicherung und Netzsperren sind dafür Beispiele.
  • Themeninnovation: Die Beteiligung an bereits laufenden Kampagnen macht noch nicht den Unterschied. Wir müssen eigene Themen identifizieren und bearbeiten; auch in Form eigener Kampagnen. Die Initiative gegen die lebenslange Steuernummer ist ein Beispiel dafür.
  • Langfristige Themen: Manche Themen sind (zunächst) nicht für Kampagnen geeignet. Um innovativ zu sein, sollten wir auch dieses Feld beobachten.

In allen drei Gruppen gibt es eine Fülle von Themen für die Humanistische Union. Interessant sind vor allem innovative Themen, die langfristig eine Rolle spielen. Zu anderen Themen, die bereits diskutiert werden, kann die HU ihre Expertise beisteuern. Zu Themen, die die öffentliche Debatte bestimmen, muss sich die HU natürlich ebenfalls äußern. Einige Beispiele:

Etablierte Themen und aktuelle Kampagnen

Datenschutz und Anonymität im Internet sind die heute vielleicht am meisten diskutierten Themen der Netzpolitik. Sie betreffen sowohl den Bereich der Strafverfolgung als auch das zivilen Zusammenleben. (Wie geeignet sind anonyme Shitstorms als Mittel der politischen Auseinandersetzung?) Doch die Möglichkeit, sich anonym zu äußern, ist eine elementare Voraussetzung demokratischer Teilhabe – nicht umsonst sind demokratische Wahlen geheim. Ist es legitim, die Anonymität im Internet einzuschränken? Wenn ja, in welchen Bereichen und nach welchen Kriterien? Können negative Begleiterscheinungen anonymer Kommunikation auf andere Weise behoben werden, oder müssen wir sie als Nebenprodukt der Durchsetzung von Bürgerrechten akzeptieren?

Das Thema Vorratsdatenspeicherung ist immer noch aktuell. Auf europäischer Ebene ist die entsprechende Richtlinie noch lange nicht vom Tisch; der Druck zur Umsetzung in der deutschen Politik wächst. Das Thema wird von vielen Organisationen, zusammengeschlossen in Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung bearbeitet; die HU kann hier nicht abseits stehen: Welche Instrumente benötigen Strafverfolgungsbehörden? Welche Ziele werden damit verfolgt? Und sind sie dafür geeignet? Welche sind bürgerrechtskonform? Welche sind bürgerrechtlich zu beanstanden oder abzulehnen?

Ähnliches wie für die Vorratsdatenspeicherung gilt für die Problematik der Urheberrechte: Ein breit diskutiertes Thema, bei dem die HU nicht abseits stehen kann. Wie kann ein Urheberrecht aussehen, das die Interessen der Urheber wie der Allgemeinheit wahrt und vor allem nicht zur Kriminalisierung großer Gruppen von Internetnutzern führt?

Neue Themen

Neben der Überwachung durch automatisierte Verfahren stellt sich die Frage nach der Fahndung im Netz durch dafür ausgebildete Personen. In welchen Bereichen sind „Streifen“ zulässig, in welchen nicht? Dürfen Polizeibeamte mit falscher Identität in geschützte Bereiche eindringen, um sie zu überwachen? Was gilt für Geheimdienste?

Digitale Systeme und Verfahren werden selbstverständlich auch im militärischen Bereich genutzt. Die Schlagworte hier sind Cyberwar und Cybersecurity: Cyberwar, um Informationstechnik für militärische Zwecke – offensiv wie defensiv – zu nutzen, Cybersecurity, um die Anfälligkeit der digitalen Infrastruktur für Angriffe zu reduzieren. Krieg ist die einschneidendste Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte – aber was bedeutet das in der digitalen Gesellschaft? Gibt es legitime Grundrechtseingriffe, um sich gegen Cyberwar zu schützen?

Langfris­tige Themen

Viele öffentliche Großprojekte, genauso wie die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung haben bürgerrechtliche Implikationen. Da werden Daten gesammelt, Verwaltungsentscheidungen vorbereitet und getroffen, zum Beispiel bei der Gebührenerhebung, der Sozialversicherung, der Steuererhebung oder der Überwachung der Grenzen. Durch solche Systeme werden Verwaltungsabläufe festgelegt und zementiert; an der Erstellung ist die Öffentlichkeit i.d.R. nicht beteiligt. Wie kann die öffentliche Verwaltung durch digitale Medien und Verfahren unterstützt werden, und wie lassen sich gleichzeitig Transparenz erhalten, öffentliche Beteiligung sicherstellen und Bürgerrechte schützen?

Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung hat auch positiv Seiten: Open Data ermöglicht weitgehende Transparenz des Verwaltungshandelns. So viel Transparenz wie möglich, so viel Geheimhaltung wie nötig – aber was bedeutet das konkret? Gibt es Grenzen des öffentlichen Anspruchs auf Informationsfreiheit – und wo liegen sie?

Automatisierte Entscheidungssysteme treffen Entscheidungen, die sich in zunehmendem Maße auf das Leben von Menschen auswirken. Bereits seit den 1980er Jahren werden sie im militärischen Bereich entwickelt. Schon damals musste sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage auseinandersetzen, ob solche Systeme Grundrechte verletzen. Weitreichende wirtschaftliche Entscheidungen sind von solchen Systemen abhängig; der Wertpapierhandel etwa ist in der heutigen Form ohne IT-Systeme nicht denkbar. Sind die Menschen- und Bürgerrechte noch gewahrt, wenn IT-Systeme so weitreichende Entscheidungen treffen? Wo liegt die ethische Grenze? Wann müssen wir auf den Einsatz solcher Systeme im Namen der Bürgerrechte verzichten?

Was tun?

Einzelne dieser Themen werden bei der Humanistischen Union bereits bearbeitet, auch in anderen Ressorts. Netzpolitik ist ein Querschnittsthema, das in viele Bereiche hineingreift und mit den betreffenden Ressorts zusammen gedacht werden muss. Ein AK Netzpolitik kann die Themen mit netz- oder IT-politischem Bezug bündeln und Expertise bereitstellen:

  • er agiert als netzpolitischer Think-Tank der HU,
  • er berät den Vorstand in netzpolitischen Fragen,
  • er baut einen Referentenpool für vereinsinterne und öffentliche Veranstaltungen auf,
  • er bereitet Tagungen vor,
  • er dient der Vernetzung, innerhalb der HU und mit anderen Gruppierungen.

Das sind nur einige der möglichen Beiträge, die ein AK Netzpolitik in der Humanistischen Union leisten kann. Was davon tatsächlich leistbar ist, hängt nicht zuletzt von den Beteiligten und deren Zeitbudget ab. Aber eins ist sicher: Als Bürgerrechtsvereinigung kommt die HU an dem Thema nicht vorbei.

Stefan Hügel
ist Mitglied des Arbeitskreises Netzpolitik
und der Humanistischen Union in Frankfurt am Main

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