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Religi­ons­po­litik der HU: Überle­gungen zur weiteren Ausrichtung

30. September 2015

in: HU-Mitteilungen Nr. 227 (3/2015), S. 11-15

In Deutschland haben in jüngerer Zeit das Bundesverfassungsgericht (Zeugen Jehovas, kirchliches Arbeitsrecht, Kopftuch einer Lehrerin) und das Bundesarbeitsgericht (kirchliches Arbeitsrecht, Kopftuch einer Krankenschwester) mehrfach zu religiösen Sachverhalten entschieden. Die Humanistische Union (HU) hat darauf vereinzelt mit Pressemitteilungen reagiert. Während die Position der HU zu Sonderrechten der Religionsgemeinschaften wie dem kirchlichen Arbeitsrecht verbandsintern weitgehend ist, ist die Position der HU zum staatlichen Umgang mit individuellen religiösen Handlungen wie dem Tragen des Kopftuches im öffentlichen Dienst strittig.

Hinsichtlich der Privilegien der Religionsgemeinschaften (sofern sie Körperschaften des öffentlichen Rechts sind) rege ich an, dass die HU wie bislang deren Abschaffung fordert und ggf. ein Religionsgemeinschaften-Gesetz entwirft.

Hinsichtlich des Tragens des Kopftuches im öffentlichen Dienst und vergleichbarer Handlungen rege ich an, dass hierüber auf der Delegiertenkonferenz erneut diskutiert wird.

1  Diskus­si­ons­s­tand zum Kopftuch

Die HU begrüßte am 16. März 2015 in einer Pressemitteilung den jüngsten Kopftuch-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Dieses hatte am 27. Januar 2015 entschieden, dass Lehrerinnen das Tragen von Kopftüchern im öffentlichen Schuldienst nicht mehr grundsätzlich verboten werden dürfe. Die HU begrüßte in einer Pressemitteilung vom 16.3.2015 diesen Beschluss als Stärkung der Religionsfreiheit, mahnte aber zugleich die Trennung von Staat und Religion in der Schule an. Anlässlich dieser Pressemitteilung gab es Kritik einzelner HU-Mitglieder sowie zwei kritische Nachfragen.

Eine andere Pressemitteilung der HU mit Kopftuchbezug vom September 2014 – die HU kritisierte darin eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, dass die Kündigung einer Krankenschwester mit Kopftuch durch den Träger eines evangelischen Krankenhauses bestätigte – gab es vereinzelte kritische Mails und zwei Austritte aus der HU.

Die letzte große Kopftuch-Diskussion innerhalb der HU wurde auf dem Verbandstag 2004 in Lübeck geführt. Dem voraus ging eine Stellungnahme der HU zum ersten Verfahren vor dem BVerfG zur Zulässigkeit des Kopftuchtragens im öffentlichen Schuldienst, in der sich die HU dafür ausgesprochen hatte. Ich rege an, auf der Delegiertenkonferenz die Position der HU zum Tragen des Kopftuches und anderer religiöser und weltanschaulicher Symbole und Kleidungsstücke im Öffentlichen Dienst erneut zu diskutieren.

2  Stellung der HU zur Religions- und Weltan­schau­ungs­frei­heit und zum Verhältnis von Staat und Religions- und Weltan­schau­ungs­ge­mein­schaften

Nach § 2 der Satzung der HU gilt:

Es ist der Zweck und die Aufgabe des Vereins, alle Bestrebungen zu fördern, welche

1. die ungehinderte Entfaltung aller weltanschaulichen, religiösen, philosophischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Auffassungen in gegenseitiger Achtung gewährleisten,

2. es jeder Bürgerin und jedem Bürger gestatten, von den im Grundgesetz garantierten Rechten der individuellen Lebensgestaltung, der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnis-, der Meinungs-, Informations- und Koalitionsfreiheit ohne Furcht vor Nachteilen Gebrauch zu machen,

3. die Unabhängigkeit des Staates und seiner Einrichtungen sowie aller Bereiche, in denen gesamtgesellschaftliche und sachliche Aufgaben zu lösen sind, gegenüber Machtansprüchen konfessioneller und weltanschaulicher Gruppen zu wahren suchen, […]

Die HU verpflichtet sich demnach sowohl auf den Schutz der individuellen Religions- und Weltanschauungsfreiheit wie auch darauf, den Einfluss konfessioneller und weltanschaulicher Gruppen auf den Staat zu minimieren; mit anderen Worten: die Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften, insbesondere den christlichen Kirchen, durchzusetzen.

Die Gründung der HU 1961 war insbesondere davon bestimmt, der Verstrickung von Staat und christlichen Kirchen entgegenzuwirken. So schreibt Gerhard Szczesny in seinem Gründungsaufruf 1961:

Es ist hier nicht die Rede vom Recht des gläubigen Christen, sich um die Verbreitung seines Glaubens zu bemühen. Es ist die Rede von dem immer unverhüllter und anmaßender zu Tage tretenden Versuch, eine Gesellschaft, die nur zu einem Teil aus gläubigen Christen besteht, dem totalen Machtanspruch einer christlichen Sprach-, Denk- und Verhaltensregelung zu unterwerfen. Die im Grundgesetz der deutschen Bundesrepublik verankerten Rechte der freien Persönlichkeitsentfaltung, der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit, der freien Meinungsäußerung, Information und Forschung sind längst durch eine christlich-konfessionalistische Regierungspraxis ausgehöhlt, wenn nicht außer Kraft gesetzt. Wo es nicht gelingt, die Aufsicht der Kirchen durch die Konfessionalisierung staatlicher und kommunaler Einrichtungen sicherzustellen, spielt man konfessionellen Verbänden oder konfessionell gebundenen Persönlichkeiten die Macht zu.

Auch das weitere Wirken der HU richtet sich insbesondere auf die Entflechtung von Staat und Kirchen, so zum Beispiel die Forderungen nach der Ablösung der Staatsleistungen, der Aufgabe der Konkordatslehrstühle und nach Abschaffung des kirchlichen Sonderarbeitsrechts. Diese Forderungen sind meiner Kenntnis nach in der HU weitgehend unumstritten.

Muslimische Frauen, die mit Kopftuch an öffentlichen Schulen unterrichten wollen, fordern die HU aber ebenso heraus wie die Beschneidung von Jungen durch einige Muslime und Juden. In beiden Fällen geht es vor allem um die Ausübung individueller Religionsfreiheit, die jedoch mit anderen verfassungsrechtlichen Vorgaben kollidiert – staatliche „Neutralität“ in religiös-weltanschaulichen Belangen im Fall des Kopftuches und Schutz der körperlichen Unversehrtheit im Fall der Beschneidung. Hinsichtlich der Beschneidung hat die HU sich 2012 nach mühsamen Diskussionen und einigen Vereinsaustritten dazu durchgerungen, für das Recht auf Beschneidung einzutreten, wenngleich gesetzliche Vorgaben für die Durchführung der Beschneidung gefordert wurden.

Das Kopftuchtragen fordert die HU insofern ganz besonders heraus, als hier zwei Werte im Widerspruch stehen, auf deren Schutz sich die HU verpflichtet hat: Einerseits die individuelle Religionsfreiheit der muslimischen Frau, die das Kopftuch tragen möchte und andererseits, da die Frau das Kopftuch ja in einer staatlichen Schule tragen will, der Schutz staatlichen Einrichtungen vor dem „Machtansprüchen konfessioneller Gruppen“.

3  Verfas­sungs­recht­liche Vorgaben

Das Grundgesetz (GG) gibt für diesen Konflikt keine eindeutige Lösung vor. Durch Artikel 4 Absatz 1 und 2 GG wird die Religions- und Weltanschauungsfreiheit geschützt. Zudem werden durch die über Artikel 140 GG inkorporierten Artikel  136 – 141 der Weimarer Reichsverfassung Vorgaben für das Verhältnis von Staat und Bürger*innen, sowie Staat und Religionsgesellschaften gemacht. Dort heißt es insbesondere in Artikel 137 Absatz 1 WRV: „Es besteht keine Staatskirche.“ Art. 4 Absatz 1 und 2, Artikel 140 GG, sowie Artikel 7 GG, in dem Religionsunterricht an öffentlichen Schulen als ordentliches Lehrfach bestimmt wird, wurden zuvor zusammenfassend als Staatskirchenrecht bezeichnet, während seit einigen Jahren eher von Religionsverfassungsrecht gesprochen wird.

Das BVerfG liest aus den Artikeln 3 Abs. 3, 4, 33 Abs. 3 und 140 GG in Verbindung mit  Artikel 137 Abs. 1 WRV eine Pflicht des Staates zu Neutralität in religiös-weltanschaulichen Dingen, und begründet diese rechtspolitisch. „Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, kann die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selber in Glaubensfragen Neutralität bewahrt.“ (BVerfGE 93, 1 (16) – Kruzifix).

Im Grundgesetz sind allerdings hinsichtlich des Verhältnisses von Staat-Religion keine Prinzipien explizit festgeschrieben, weder ist von Neutralität, Säkularität oder Laizismus die Rede. Jegliche Lösungen für den Umgang mit religiös-weltanschaulichen Handlungen im Privaten, im öffentlichen Raum und in staatlichen Einrichtungen müssen deshalb aus den religionsverfassungsrechtlichen Vorschriften und den im Einzelfall entgegenstehenden Verfassungsrechten herausgelesen werden.

Diese religionsverfassungsrechtlichen Artikel stehen der Interpretation offen. In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird darüber gestritten, was die richtige Auslegung der religionsverfassungsrechtlichen Normen des Grundgesetzes ist. Die Auslegungsvorschläge reichen von strikter/ausgrenzender/distanzierender/negativer (staatlicher) Neutralität gegenüber Religion und Weltanschauung über religionsfreundliche Trennung von Staat und Religion im Sinn von deren grundsätzlich organisatorischer Trennung hin zu einem Verhältnis von Staat und Kirche als solches der unvollständigen oder hinkenden Trennung oder freundlichen Kooperation. Die jeweilige Auslegung wird in der Regel mit bestimmten gesellschaftspolitischen oder verfassungshistorischen Annahmen begründet.

Die HU hat bislang die religionsverfassungsrechtlichen Vorgaben immer eher im Sinne einer strikten staatlichen Neutralität gegenüber Religionen (bzw. Religionsgemeinschaften) interpretiert.

4  Notwen­dig­keit eines Überdenkens der bisherigen HU-Position zum Tragen des Kopftuches

Roland Otte schrieb in den Mitteilungen 2004 über die Diskussion zum Kopftuch auf dem Verbandstag in Lübeck 2004:

Die Diskussion wird weitergehen – nicht nur, weil die Landesgesetze absehbar wieder in Karlsruhe vorliegen werden, sondern auch, weil das weiterreichende Thema, die Integration von Muslimen in einem (unvollständig) säkularisierten Rechtsstaat, auch in Zukunft grundrechtliche Fragen aufwerfen wird. Um Antworten darauf zu entwickeln, werden wir prüfen müssen, inwiefern die Positionen, die wir in Auseinandersetzung mit einem hegemonialen Staatskirchentum entwickelt haben, anwendbar sind auf die minoritären und ganz anders als die Kirchen organisierten (und damit weitgehend von Privilegien ausgeschlossenen) islamischen Gemeinschaften. Als zugleich freiheitlich-rechtsstaatliche und gesellschaftlich-emanzipatorische Kraft kann die HU dazu wichtige Diskussionsstränge bündeln und Impulse geben.

Diese Aussage gilt immer noch. 11 Jahre später ist einerseits die Integration von Muslim*innen in Deutschland noch keinesfalls abgeschlossen und hat sich andererseits im Verhältnis von Staat und christlichen Kirchen wenig geändert. Hier müssen weiterhin die alten HU-Forderungen nach Ablösung der Staatsleistungen etc. erhoben werden. Die HU sollte versuchen auf die unterschiedlichen Fragen, die sich durch religiös motiviertes Verhalten im Staat stellen, Antworten zu finden. Dabei ist sie weder durch das Grundgesetz, dem sie sich verpflichtet fühlt, noch durch ihre eigene Satzung in den Antworten festgelegt. Vielmehr gilt für die HU wie für alle gesellschaftspolitischen Einrichtungen in einer demokratischen Gesellschaften, dass Antworten immer wieder neu ausgehandelt werden müssen.

Für das Kopftuchtragen im öffentlichen Schuldienst lassen sich nach dem Grundgesetz und der Satzung der HU gegensätzliche Lösungen vertreten: Sowohl die Lösung, dass Lehrerinnen mit Hinweis auf eine staatliche Neutralität in Glaubensdingen die Einschränkung ihrer Religionsfreiheit hinnehmen müssen, als auch dass die Religionsfreiheit überwiegt, weil die Gefährdung der staatlichen Neutralität in Glaubensdingen durch das Kopftuchtragen nicht hinreichend nachgewiesen werden kann.

Ich finde die Lösung, nach der Kopftuchtragen mit Blick auf die individuelle Religionsfreiheit im Schuldienst grundsätzlich erlaubt wird, überzeugender. Sie entspricht dem freiheitswahrenden Charakter des Grundgesetzes und zugleich der integrationspolitischen Notwendigkeit, auch den Musliminnen, die sich stärker an ihrem Glauben orientieren wollen, den Zugang zum Aufstiegsberuf Lehramt zu ermöglichen. Die von einer kopftuchtragenden Lehrerin ausgehenden Gefahren – mögliche religiöse Beeinflussung von Schüler*innen; Zurschaustellung einer Frauen unterdrückenden Geschlechterordnung; Bestärken von Eltern, die ihre Töchter unters Kopftuch zwingen wollen; Gefährdung der schulischen Neutralität in Glaubensfragen – sind in meinen Augen nicht hinreichend genug, um das Kopftuchtragen grundsätzlich zu untersagen.

Der HU kann in diesem Konflikt die Rolle zukommen, einerseits auf die Wahrung der Religionsfreiheit hinzuweisen und andererseits darauf zu pochen, dass die Schule als Institution weiterhin neutral sein muss, mit der Folge, dass der Staat selbst nicht religiös handeln darf, also keine Kruzifixe aufhängen, keine Schulgebete sprechen etc.

5  Religi­ons­ge­mein­schaf­ten-­Ge­setz – Erste Gedanken

Die Religionsgemeinschaften haben nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 5 WRV die Möglichkeit, Körperschaften des öffentlichen Rechts zu bleiben (katholische und evangelische Kirche) oder zu werden (z.B. Zeugen Jehovas). Nach Art. 137 Abs. 6 WRV haben die Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, das Recht, Steuern zu erheben. Weitere Privilegien werden den Religionsgemeinschaften – jenseits des Rechts zur Mitbestimmung der Inhalte des Religionsunterrichts (nach Art. 7 Abs. 3 GG) – durch das Grundgesetz nicht eingeräumt. Allerdings sind ihnen in allerlei Gebieten – Datenschutz, Steuerrecht, Medienrecht etc. – Sonderrechte eingeräumt. Zum Teil sind Privilegien auch durch Staatsverträge mit den einzelnen Kirchen festgelegt. Die HU könnte ihre Position nach Abschaffung dieser Privilegien mit einem Gesetzesvorschlag untermauern. Dies könnte entweder ein Vorschlag für ein eigenes Religionsgemeinschaften-Gesetz sein, in dem ggf. auch die Voraussetzungen für die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts geklärt werden, als auch ein Vorschlag für ein Artikel-Gesetz, in dem für jedes Gesetz, in dem den Kirchen Privilegien eingeräumt sind, die Streichung der entsprechenden Vorschrift festgelegt wird.

Zum Thema:

Johann-Albrecht Haupt: Diskussion um Kopftuch, in: HU-Mitteilungen Nr. 226, S. 5

Roland Otte: Lebhafte Diskussionen zum Kopftuch auf dem Verbandstag der HU, in: HU-Mitteilungen Nr. 187, S. 14/15

Till Müller-Heidelberg / Humanistische Union: Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde der Frau Fereshta Ludin – BvR 1436/02, abrufbar unter https://www.humanistische-union.de/themen/srw/ symbole/browse/1/.

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