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„Grund­sätz­lich ist meine Methode die eines Richters.“

Heinrich Amadeus Wolff über die Evaluation von Sicherheitsgesetzen

aus: vorgänge Nr. 206/207 (Heft 2-3/2014), S. 135-143

„Grundsätzlich ist meine Methode die eines Richters.“

(Red.) PROF. DR. HEINRICH AMADEUS WOLFF   Jahrgang 1965, studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Regensburg, Tübingen, Bonn, Freiburg und Heidelberg. Sein erstes Staatsexamen absolvierte er 1991 in Heidelberg, 1996 folgte die Promotion sowie 1998 die Habilitation für die Fächer Staats- und Verwaltungsrecht, beides an der damaligen Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (bei Helmut Quaritsch und Hans Herbert von Arnim). Nach einer kurzen Zwischenstation im Bundesministerium des Innern (1998) wurde Wolff 2000 an die LMU München berufen, 2006 wechselte er an die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Seit dem Sommersemester 2014 hat Wolff den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Recht der Umwelt, Technik und Information an der Universität Bayreuth inne. Er tritt regelmäßig als Sachverständiger zu Fragen des Verfassungs-, Beamten- und Sicherheitsrechts auf und war Mitglied der 2013 eingesetzten Regierungskommission zur Überprüfung der Sicherheitsarchitektur Deutschlands.

Heinrich Amadeus Wolff spricht im Interview über seine Erwartungen, über Möglichkeiten und Grenzen bei der Evaluation von Sicherheitsgesetzen. Er selbst war an zwei solchen Verfahren beteiligt: Zur qualitativen Bewertung eines Anwenderberichts der Firma Rambøll Management über das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz (TBEG) gab das Bundesjustizministerium 2010 bei ihm ein verfassungsrechtliches Gutachten in Auftrag (Gutachten vom 14.4.2011, BT-Ausschussdrucksache 17 (4) 245). Im gleichen Jahr evaluierte Wolff zahlreiche Vorschriften des Landesverfassungsschutzgesetzes in NRW (Evaluationsbericht vom August 2011, NRW LT-Drs. 15/914).

Sie haben in einer Stellungnahme gegenüber dem Innenausschuss des Deutschen Bundestags sinngemäß geäußert, dass die Frage, ob bestimmte Geheimdienstbefugnisse sinnvoll oder gar notwendig sind, ein Gutachter bzw. Evaluator nicht entscheiden könne. Was kann er denn entscheiden?

Die Äußerung, die Sie zitieren, stammt aus der Anhörung zur Verlängerung des Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes (TBEG). Dort ging es um die Frage, welche Befugnisse des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) sinnvoll oder nicht sinnvoll sind. Oder anders gefragt: Was braucht eine Behörde an Befugnissen, um ihre Aufgabe sinnvoll zu erfüllen? Dies beschränkt sich nicht auf die Frage, ob eine konkrete Befugnis verlängert wird oder nicht, sondern es geht darum, welches Design das BfV braucht, um seine Aufgaben zu erfüllen. Um diese Fragen beantworten zu können, muss man sich die jeweiligen Ermittlungsergebnisse der Behörde ansehen. Diese Informationen sind aber vertraulich. Die Informationen, die wir Teilnehmer der Sachverständigenanhörung hatten, reichten für die Beantwortung der Frage nicht aus. Genauso wenig kann das Bundesamt selbst diese Frage beantworten. Die Frage, welches Design das BfV für seine Aufgabenerfüllung braucht, kann nur jemand beantworten, der die Behörde besucht und sich die Arbeitsabläufe und den Arbeitsalltag neutral anschaut. Darauf bezog sich meine Aufforderung, eine Kommission zusammen zu stellen und in die Behörde zu schicken. Das halte ich nach wie vor für richtig, auch wenn es nichts mit der gesetzlich vorgesehenen Evaluation zu tun hat.

Was wäre denn die Aufgabe einer Evaluation, was ist eine Evaluation?

Das kommt auf das Gesetz, auf die Umstände der Evaluation und auf die Sachkunde des Evaluators an. Ein Evaluator kann ganz unterschiedliche Vorschläge unterbreiten. Es kommt darauf an, welche Befugnisse ihm gegeben werden und von welcher Profession er kommt.

Die Frage wird üblicherweise so beantwortet: als Kontrolle, ob der Gesetzgeber die Zwecke erreicht, die er mit dem Gesetz erreichen wollte. Das halte ich für eine falsche Definition, aber es ist das überwiegende Verständnis der Evaluation. Das kann ein Evaluator in gewisser Weise überprüfen anhand der Informationen, die er hat. Aber er muss sich immer vergegenwärtigen, dass sein Urteil beschränkt ist, auf die Informationen, die man ihm gibt.

Wenn sich die Evaluation von Gesetzen nicht darauf beschränken soll, die Erreichung vorher festgelegter Zwecke zu überprüfen – was wäre dann eine umfassende Evaluation?

Nach meinem Verständnis erstens: Welche Wirkung hat das Gesetz? Das halte ich für sehr zentral. Und zweitens finde ich auch die Bewertung entscheidend, in welchem Verhältnis die Wirkungen des Gesetzes zur Grundrechtsbelastung stehen. Blendet der Gesetzgeber die beiden Fragen aus, fände ich das nicht vertretbar, gerade im Sicherheitsbereich.

Bei der Frage nach den Wirkungen zielen Sie wahrscheinlich auch auf nicht intendierte Nebenwirkungen?

Genau das meine ich. Die objektive Auslegung der Gesetze heißt ja immer schon, dass die Gesetze getrennt zu betrachten sind vom gesetzgeberischen Willen. Gesetze habe nun mal ein Eigenleben; und das kann anders sein – positiv wie negativ –, als es sich der Gesetzgeber vorgestellt hat.

Wenn Sie – wie beim Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz – keine Einsicht in die Ermittlungsergebnisse haben, können Sie die Gesetze auch nicht in ihrer Wirksamkeit bewerten. Braucht ein Evaluator den Zugang zu diesen Daten?

Nicht notwendig. Es kommt drauf an, was sie von ihm haben wollen. Je weniger Informationen sie ihm geben, desto schneller geht’s, aber umso beschränkter ist auch das Ergebnis.

Worum ging es bei den beiden Evaluationsverfahren, an denen Sie beteiligt waren?

Bei beiden Verfahren ging es um die Frage, ob eine konkrete Anzahl von Befugnissen verlängert werden soll oder nicht. Das war die Frage, zu deren Beantwortung die jeweilige Evaluation Hilfestellung geben sollte. So habe ich meinen Auftrag verstanden, und so habe ich ihn auch beantwortet. D.h. ich habe die Anwendungszahlen wiederholt, ich habe die Praxis verfassungsrechtlich bewertet. Und ich habe verfassungspolitisch bewertet, wie viel grundrechtliche Belastung man bereit ist für welchen Erfolg hinzunehmen.

Beim Verfassungsschutz in NRW wurden im Zuge meiner Evaluation Kontrollfragen in der Behörde eingeführt. Das waren Fragen nach der Belastung durch die einzelnen Maßnahmen, welche Folgen etwa die Kontoabfragen bei der Bank haben. All das wurde ursprünglich in der Verwaltungspraxis nicht berücksichtigt. Wir haben uns dann überlegt: Wie können wir die Belastungswirkung für die Betroffenen reduzieren, ohne die Effektivität der Maßnahme zu behindern?

Beim Bund war die Evaluation weniger verwaltungswissenschaftlich ausgerichtet, da standen die verfassungsrechtlichen Fragen im Vordergrund. Da ging es mehr darum, dass jemand eine verfassungsrechtliche Prüfung vornimmt, weil die beiden maßgeblichen politischen Kräfte sich bei der Verfassungsfrage zerstritten hatten.

Was waren für Sie Kriterien für Ihre Empfehlungen über die Verlängerung oder Streichung einzelner Befugnisse?

Erstens natürlich immer die verfassungsrechtliche Frage: Sind die zu evaluierenden Rechtsnormen verfassungsgemäß oder sind sie es nicht? Das zweite Kriterium: Kann man die Grundrechtsbelastung reduzieren, ohne die Effektivität der Maßnahmen zu vermindern? Und drittens: Wenn man das nicht kann, wie würde man als Außenstehender, der dem Sicherheitsauftrag gegenüber aufgeschlossen ist aber dennoch den Grundrechtsschutz im Blick hat, die Frage beurteilen, ob der Zugewinn an Effektivität im Verhältnis steht zur dadurch ausgelösten Grundrechtsbelastung? Diese drei Maßstäbe habe ich angelegt. Für mich selber ist natürlich der zweite Maßstab der Wichtigste: Kann ich den Grundrechtssinn schützen, ohne die Effektivität zu verringern? Das glaube ich, geht immer. Das ist auch mein starkes Schwert, weil ich eben nicht jemand bin, der die Verfassungsschutzbehörden per se beschränken will, sondern der die Bürger schützen und trotzdem dem Staat die Aufgabe nicht wegnehmen möchte. Das ist wohl der Grund, warum ich relativ viel Einfluss in diesem Bereich habe.

Wie würden Sie Ihre Methodik der Evaluation beschreiben?

Grundsätzlich ist meine Methode die eines Richters. Ich habe wie ein Verfassungsrichter über das Gesetz entschieden, allerdings nicht nur am Maßstab der Verfassungsmäßigkeit, sondern auch am Maßstab der verfassungspolitischen Sinnhaftigkeit. Dazu brauchen Sie einen Sachverhalt, anhand dessen sie das beurteilen können. Ich hatte die Fallzahlen und hätte Einsicht in die Akten nehmen können. Aber ich habe mir die Akten nur sehr beschränkt angeschaut.

Sie sprechen jetzt vom Verfassungsschutzgesetz in NRW?

Genau. Beim Bund hatte ich nur die Ergebnisse der Befragung durch die Firma Rambøll Management. Dort war ich ja gar nicht der eigentliche Evaluator, sondern war nur als Gutachter von der Bundesregierung eingesetzt. Da habe ich z.B. – anders als in Nordrhein-Westfalen – den Fragebogen nicht entworfen.

Aber Gesetzesevaluationen hin oder her, die können sie ganz unterschiedlich durchführen. Sie können vier Jahre eine Langzeitstudie anlegen und sie können – so wie bei mir im Fall des TBEG – die Evaluation in zwei Wochen erstellen, oder wie in NRW in acht Wochen. Wenn Sie sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis meiner beiden Evaluationen anschauen, sind die Ergebnisse sehr freiheitlich angelegt. Bei aller Unvollendetheit, auch bei den Tatsachenfragen, wird man wohl behaupten können, dass innerhalb kürzester Zeit ein deutlich besserer Grundrechtsschutz für die Betroffenen herausgekommen ist, als im ursprünglichen Vorschlag. Der Umstand, dass jemand Unabhängiges mit einem erweiterten rechtlichen Maßstab sich die Dinge anschaut und den vorgegebenen Sachverhalt subsumiert, ist für die Betroffenen enorm hilfreich.

In Ihrem Gutachten zum NRW-Verfassungsschutz schreiben Sie, dass Ihre Evaluation – ich zitiere – „den Blickwinkel des Gesetzgebers“ einnimmt. Sie begründen das damit, dass der Gesetzgeber den Auftrag erlassen, den Gutachter bestellt hat und so weiter. Dass klingt nach einer Serviceaufgabe für den Gesetzgeber. Ist die Aufgabe des Evaluators nicht eine Kontroll- und Korrekturfunktion für den Gesetzgeber? Beißt sich das nicht mit dem „Blickwinkel des Gesetzgebers“?

Jetzt weiß ich wieder welchen Satz Sie vor Augen haben. Aber das war anders gemeint. Ich wollte damit sagen, dass ich mich in meiner Evaluation nicht auf eine verfassungsrechtliche Kontrolle beschränken lasse, sondern ich möchte mehr. Ich will auch Vorschläge unterbreiten, selbst wenn die vorgeschlagenen Maßnahmen verfassungsgemäß sind. Ich will dem Gesetzgeber trotzdem Alternativen unterbreiten dürfen, wenn diese in meinen Augen noch besser sind. Es tut mir leid, wenn das nicht deutlich wurde.

Wie weit sehen Sie Spielraum, im Rahmen eines Evaluationsverfahrens Alternativen zu den gegebenen Normen zu erwägen?

Das ist eine wirklich gute Frage. Wenn Sie meine Berichte vergleichen mit den sonstigen Evaluationsberichten, liegt genau darin der große Unterschied. Die anderen Berichte legen ihnen nur dar, ob der Zweck erreicht worden ist oder nicht. Ich lege dem Gesetzgeber darüber hinaus Alternativvorschläge vor. Ich halte das für ganz wichtig, das habe ich immer gern gemacht.

Was haben Sie beispielsweise vorgeschlagen?

Beim TBEG habe ich beispielsweise die Standards des G 10-Verfahrens auch für die besonderen Auskunftsrechte des § 8a Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) erfolgreich vorgeschlagen und in NRW die Befristung und die erneute Evaluation im Bericht implementiert. Ein weiteres Beispiel: Ich habe kürzlich beim Antiterrordateigesetz (ATDG) eine detaillierte Formulierung der grundrechtlich höchst sensiblen erweiterten projektbezogenen Datennutzung vorgeschlagen (§ 6a ATDG-E). Mein Formulierungsvorschlag berücksichtigte das Ziel des Gesetzgebers, versuchte aber gleichzeitig den rechtsstaatlichen Anforderung besser gerecht zu werden – der Ausschuss hat den Vorschlag fast vollständig übernommen. In der Regierungskommission zur Reform der Sicherheitsgesetze hätte ich gerne einen Regelungsvorschlag für die Auslandsaufklärung des BND zu Papier gebracht. Mein Vorschlag für § 1 Abs. 2 S. 3 BND-Gesetz lautete: „Außerhalb des Geltungsbereichs nimmt der BND seine Aufgaben wahr, sofern dies geboten ist. Er hat dabei auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu achten.“ Leider wurde der Vorschlag von den Vertretern der Ministerien als zu innovativ empfunden. Wäre es um eine Evaluation gegangen, hätte ich ihn in im Bericht aufgenommen.

Es darf für einen Evaluator weder in die eine Richtung noch in die andere Richtung ein Tabu geben. Ich würde beispielsweise, falls Anlass dazu steht, mir auch erlauben zu prüfen, was es bringen würde, die Befugnisse an einer Stelle auszuweiten, auch ohne dass der Gesetzgeber dies bisher diskutiert hat; auch wenn dieser Schritt erst einmal zu einer stärkeren Grundrechtsbelastung führen könnte. Dann würde ich die Frage stellen, ob durch diese Maßnahme der Zuwachs an Effektivität deutlich höher wäre, als durch die Maßnahmen, die wir die ganze Zeit diskutieren – und das bei gleicher Grundrechtsbelastung (im Vergleich zur diskutierten Erweiterung). Bei meiner Beratungstätigkeit erörtere ich immer wieder, ob man neue Befugnisse einführen soll oder nicht – auch solche, die bisher noch gar nicht diskutiert worden sind.

Beim TBEG bestand das vorangestellte Normziel, der Kontext, mit dem die Gesetze begründet und erlassen wurden, im Kampf gegen den Terrorismus. Die Untersuchung der Firma Rambøll Management zeigte aber, dass eine Reihe von Befugnissen des TBEG in ganz anderen Kontexten genutzt wurden: so beispielsweise die Abfrage bei den Postdienstleistern vor allem für Ermittlungen gegen Rechtsextremismus, verdeckte SIS-Ausschreibungen besonders bei Verdacht auf Spionage oder Waffenhandel. Müsste da nicht eine Evaluation einhaken?

Das muss sie sicher. Das ist eine zentrale Frage der Evaluation. Ich muss dem Gesetzgeber schon sagen dürfen: Du hast gedacht, es seien Mittel zur Terrorbekämpfung, es wird aber gar nicht zur Terrorbekämpfung genutzt. Dabei darf eine Evaluation nach meiner Meinung aber nicht stehen bleiben. Sie müsste dann sehr wohl der Frage nachgehen: Warum ist das so? War das von vornherein beabsichtigt, war es eine Täuschung oder ist es gewissermaßen ein glücklicher Zufall, dass wir herausgefunden haben, dass diese Befugnisse für andere Aufgaben sinnvoll sind. Hätten wir die Befugnisse von vornherein auch in anderen Bereichen einsetzen dürfen? Machen sich die Behörden etwas zu Nutze, was dafür nicht gedacht war und muss die Regelung deswegen aufgehoben werden? Oder sagen wir: Glücklicher Weise haben wir gesehen, dass die Befugnisse für einen anderen Zweck viel besser geeignet sind, und deshalb sollte sie auch bleiben. Das wären die Fragen einer guten Evaluation.

Dieser Punkt, den Sie hier ansprechen, berührt ein verfassungsrechtliches Problem. Ich glaube, dass die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne auch von der tatsächlichen Bedrohungslage abhängt. Ich glaube, dass man den Bürgern in Zeiten erhöhter Gefahr mehr Grundrechtsbeeinträchtigungen zumuten kann als in ruhigen Zeiten. Ich bin mir da nicht ganz sicher, aber ich tendiere dazu. Wenn man das unterstellt, dann spielt es natürlich eine Rolle, zu welchem Zweck eine Befugnis eingeführt wurde. Wenn man ein Mittel einführte, um beispielsweise den Islamischen Staat (IS) zu bekämpfen, obwohl dieses Mittel gar nicht für die Abwehr des IS, sondern zur Aufklärung der NPD benötigt wird – dann muss man schon fragen, ob die Befugnisse auch gerechtfertigt wären, wenn es von vornherein um die NPD gegangen wäre.

Ist das nicht auch eine Frage der moralisch-politischen Legitimation solcher Maßnahmen in der Öffentlichkeit? Es kann ja durchaus sein, dass einzelne Überwachungsbefugnisse der Anti-Terror-Gesetze verfassungskonform für andere Phänomenbereiche einsetzbar sind, aber keine Partei hätte eine öffentliche Diskussion durchgestanden, wenn dies mit der Überwachung der NPD oder anderen Gruppierungen begründet worden wäre.

Das ist jetzt die Frage: Darf der Gesetzgeber gewissermaßen Lügen? Das macht er bei Reformen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V) immer wieder. Das ist eine bekannte Diskussion, die Frage sollte natürlich im Evaluationsbericht beantwortet werden.

Sehen Sie ein Evaluationsgebot für den Gesetzgeber, und wenn ja, worin besteht das aus Ihrer Sicht?

Verfassungsrechtlich halte ich das für schwierig. Ich will nicht ausschließen, dass man ein solches Gebot verfassungsrechtlich herleiteten kann, wenn es darauf ankommt. Verfassungspolitisch halte ich es aber für ausgesprochen geboten. Die Begründung für Evaluationen bei den Sicherheitsgesetzen ist einfach und deshalb auch so überzeugend: Im Sicherheitsbereich gibt es wegen der Vertraulichkeit der Ermittlungsmaßnahmen eine viel geringere Anzahl an Gerichtsverfahren als in allen anderen Eingriffsbereichen. Eine wesentliche Kontrollmöglichkeit fällt also weg. Es ist selbstverständlich, dass die wegfallende gerichtliche Kontrolle durch andere Kontrollmöglichkeiten nicht ausgeglichen, aber wenigstens etwas kompensiert wird. Man kann auch nicht ernsthaft bestreiten, dass die Evaluationspflichten für die Behörden enorm disziplinierend wirken. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob die Mitarbeiter wissen, dass ihre Tätigkeit in vier Jahren evaluiert wird oder nicht. Das kann ich Ihnen versichern. Überall da, wo verdeckt eingegriffen wird, ist es in meinen Augen ein Gebot der Fairness, dass der Gesetzgeber sagt, das prüfen wir in vier Jahren noch einmal.

Eine Evaluation sollte am besten jemand mit einer juristischen Ausbildung durchführen. Eine solche Person kommt gewissermaßen dem gerichtlichen Schutz am nächsten und hat ein Verständnis dafür, ob das in vernünftiger Relation steht und grundrechtlich in Ordnung ist.

Also ist die Evaluation eine Kompensation für den fehlenden Rechtsschutz bei geheimen Ermittlungsmaßnahmen?

Mindestens, denn ich meine die Kontrolle durch die Öffentlichkeit, die journalistische Kontrolle fehlt ja auch. Die wird auch ein bisschen kompensiert. Aber der fehlende gerichtliche Schutz spielt praktisch die größte Rolle.

Kennen Sie eine Evaluation, die auch die Bedrohungslage in den Blick genommen hätte? Ist das überhaupt möglich im Rahmen einer Evaluation?

Na gibt es denn überhaupt eine, die das nicht tut?

Die mir bekannten Evaluationsberichte zählen Anwendungshäufigkeiten einzelner Maßnahmen auf. Eine wirklich plausible bzw. nachvollziehbare Darstellung, wie sich die Gefahrenlage entwickelt hat, welche Gefahren mit den Befugnissen abgewendet wurden und zu welchen Ergebnissen diese Befugnisse geführt haben, die kenne ich nicht.

Doch Entwicklungsberichte hatten wir, ebenso Darstellungen zu den Erfolgen der Sicherheitsbehörden aufgrund der Befugnisse. Aber Sie fragen ja noch etwas Anderes: Wie hat sich die Gefährdungslage verändert? Das können Sie mit der Evaluation nicht prüfen, das geht zu weit für eine Evaluation von Gesetzen. Diese Frage zielt auf eine Evaluation der Institutionen. Dies obliegt dem Gesetzgeber. Das war ja auch der Grund, warum ich gesagt habe: Schickt eine Kommission zum BfV, die prüft, ob das Design der Verfassungsschutzbehörden in Ordnung ist.

Verstehe ich Sie richtig: Auch nach der Evaluation der Anti-Terror-Gesetze wissen wir nicht, ob die Tatsache, dass in Deutschland noch keine Terroranschläge „erfolgreich“ ausgeführt wurden, ein Resultat der Gesetzgebung war, oder war das schlicht …

Zufall? Das weiß die Öffentlichkeit nicht. Was sehr auffallend ist: die Darstellung der verschärften Sicherheitslage beschränkt sich auf die Darstellung einiger weniger Ereignisse. Woran das liegt, kann ich schlecht sagen, weil ich die Akten nicht kenne. Ich könnte mir schon vorstellen, dass man die Sicherheitslage plausibler darstellen kann, wenn man auf ausgewählte Gefährdungssituationen verweist. Es könnte aber auch sein, dass es einfach nur keine andere Gefährdungen gab. Es ist auffallend, das sich Stereotypen für die dargestellte Gefährdungslage sehr ähneln. Genauso wie sich die Gründe sehr ähneln, warum die Maßnahmen des Staates unverhältnismäßig sein sollen. Ich meine, es arbeiten beide Seiten – die Vertreter für die Ausweitung der Befugnisse als auch deren Kritiker – mit Stereotypen, die mir auf die Nerven gehen.

In Ihrem Evaluationsbericht zum Verfassungsschutz in NRW betonen Sie, dass es wichtig sei, auch die Betroffenen der Ermittlungsmaßnahmen, sachkundige Dritte etc. in die Untersuchung einzubeziehen. Ist das nicht schwierig, gerade im Sicherheitsbereich? In NRW selbst konnten Sie das nicht machen, weil es keine Betroffenen gab, die über die Maßnahmen informiert waren.

Natürlich ist das schwierig. Aber da waren die Verfassungsschützer in NRW mir gegenüber sehr hilfreich. Sie haben eine Ersatzmöglichkeit geschaffen, indem sie bei den Banken abfragten, welche Auswirkungen die Abfragen der Behörde für die Betroffenen hatten etc. Deswegen ist es auch so wichtig, dass sie den Fragebogen modellieren können. Mit dem Fragebogen können Sie steuern: Wer könnte was wissen? Auf Seiten der Verfassungsschutzbehörden gab es Mitarbeiter, die die Belastung redlich ermitteln wollten. Wir haben uns zusammen gesetzt und gemeinsam überlegt, wie wir an Informationen kommen können, um die fehlenden Auskünfte der Betroffenen soweit als möglich auszugleichen. In NRW ist das relativ gut gelungen.

Ganz anders beim TBEG: Wenn Sie sich dort die Fallzahlen anschauen, sind die Sicherheitsüberprüfungen die meist genutzte Befugnis, da haben Sie die höchsten Fallzahlen. In dem ganzen Evaluationsbericht findet sich kein Wort darüber, was diese Überprüfungen eigentlich im Einzelfall für die Betroffenen bedeuten. Da gab es informierte Betroffene: Sie haben hunderte von Leuten, die für bestimmte Jobs abgelehnt wurden – und keiner fragt sie.

Da müssen Sie diejenigen fragen, die diese Gesetzesevaluation durchgeführt haben. Das war Rambøll Management. Ich musste mit den Materialien arbeiten, die mir vorgelegt wurden. Ich hatte zwei Wochen Zeit für das Gutachten. Deswegen kann ich dazu nichts sagen. Sonst hätte es in der Tat nahe gelegen, Betroffene zu fragen.

Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Sven Lüders.

Literatur zum Thema:

Marion Albers: Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Evaluierung neuer Gesetze zum Schutz der Inneren Sicherheit, in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.): Menschenrechte – Innere Sicherheit – Rechtsstaat, Berlin 2006, S. 21-36.

Christoph Gusy (Hrsg.), Evaluation von Sicherheitsgesetzen. [Studien zur Inneren Sicherheit Bd. 19], Springer VS 2015

Sven Lüders: Gesetzgebung im Ungewissen, Über Informationslücken des Gesetzgebers, die Nichtbefolgung von Gesetzen und effiziente Rechtsetzung. Interview mit Dr. Corinna Sicko, HU-Mitteilungen Nr. 208/209 (1+2/2010), S. 10-12

Ruth Weinzierl: Die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen. Anregungen aus menschenrechtlicher Perspektive, Policy Paper Nr. 6, Berlin 2006.

Rosemarie Will, Die Evaluation als Bürgerrechtsfrage. 10 Jahre nach 9/11 fehlt noch immer eine nüchterne Bilanz der Terrorismusgesetzgebung, HU-Mitteilungen Nr. 214 (3/2011), S. 1-3 (mit weiteren Beiträgen zur Evaluation des TBEG im Heft).

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