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Humanis­ti­sche Biografien

vorgänge Nr. 228 (4/2019), S. 117-124

Johannes Neumann: Humanismus und Kirchenkritik. Beiträge zur Aufklärung Hrsg. von Horst Groschopp. Humanismusperspektiven Bd. 5. Aschaffenburg: Alibri-Verlag 2019, ISBN 978-3-86569-288-7, 294 S., 25.- €

Ursula Neumann: Tätiger Humanismus. Historische Beiträge zu aktuellen Debatten. Hrsg. von Horst Groschopp. Humanismusperspektiven Bd. 6, Aschaffenburg: Alibri-Verlag 2019, ISBN 978-3-86569-301-3, 276 S., 22.- €

I. In der säkularen Szene sind Johannes und Ursula Neumann seit langem bekannte Größen. In dieser Zeitschrift schrieben sie zum Beispiel 2001 anlässlich des 40. Jubiläums der Humanistischen Union einen Beitrag zum Thema „Die Kirchen: Staaten im Staate?“ (Heft 155, S. 158ff.). Er behandelte u.a. den Ethikunterricht, das besondere Kirchgeld, die Kirchensteuer, die Sektenbeauftragten der Kirchen und das Verhältnis von Kirchen und Schule.

Johannes Neumann, geweihter Priester, Kirchenrechtsprofessor in Tübingen, zeitweise CDU-Mitglied, hat sich in der Mitte der 1970er Jahre des letzten Jahrhunderts von der katholischen Kirche abgewendet und seine missio canonica, also die kirchliche Lehrbefugnis, zurückgegeben; meines Wissens als erster Hochschullehrer einer katholischen Fakultät. Er starb im Jahr 2013. Seine Ehefrau (seit 1978) Ursula Neumann, Diplom-Theologin und analytische Psychotherapeutin, hat 2017 unter dem Titel „Der Kirchenrechtsprofessor nimmt Vernunft an, wird mit mir glücklich und stirbt“, ebenfalls im Alibri Verlag, eine sehr persönliche Biographie über ihren Mann und sich verfasst, die sich schwerpunktmäßig mit ihrer Bekenntniskrise, mit der Entscheidungszeit für die beiden, ihren persönlichen Verhältnissen und ihrer Eheschließung befasst. Sie beschreibt aber auch die kirchlichen Verhältnisse im Bistum Rottenburg-Stuttgart (Bischof war damals Georg Moser) und in der Tübinger Universität, an der Johannes N. zeitweise Dekan der theologischen Fakultät und später Rektor war.
Johannes Neumann hat sich nach seiner „Hinwendung zum agnostischen Humanismus“ (Ursula N.) neben seiner beruflichen Tätigkeit als Hochschullehrer an der sozialwissenschaftlichen Tübinger Fakultät und an der Universität Mannheim in vielfältiger Weise engagiert, z.B. in der Behindertenarbeit, für die Humanisierung der Arbeit, bei der Humanistischen Union (HU), beim Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) und der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft.

Ursula Neumann, Diplomtheologin und analytische Psychotherapeutin, die im Badischen lebt, hat sich neben ihrer therapeutischen Tätigkeit mit Flüchtlingsfragen befasst und sich hier engagiert, aber auch in der Frauenpolitik, in säkularen Verbänden, in der HU (eine Zeitlang hier im Vorstand) sowie in der Giordano-Bruno-Stiftung. Daneben waren sowohl Johannes als auch Ursula Neumann schriftstellerisch und journalistisch tätig.

Jetzt hat der frühere Vorsitzende des Humanistischen Verbands Deutschland (HVD) und Leiter der Humanistischen Akademie, Horst Groschopp, verdienstvoller Weise zwei Bände mit publizistischen Beiträgen, Aufsätzen und Reden der Neumanns herausgegeben und jeweils mit einem einfühlsamen Vorwort und Nachweisen zu den Schriften der Autoren versehen.

II. Zum Buch von Johannes Neumann:

Neben elf eigenen Sachbeiträgen erwarten den Leser Neumanns ein kurzer autobiographischer Abriss über das Ende des Krieges in seiner ostpreußischen Heimat und über die Flucht in den Westen, nach Plauen, sowie eine „bio-bibliographische Studie“ von Theodor W. Beine. Man erfährt hier vor allem etwas über Neumanns Tätigkeit als Wissenschaftler und Hochschullehrer in München und Tübingen vor seiner Abkehr von der katholischen Kirche Mitte der 1970-er Jahre. Neumann spielte als Kirchenhistoriker und Kirchenrechtler eine zentrale Rolle an der Tübinger katholischen Fakultät, wo er 1967/68 Dekan war und zeitgleich mit u.a. Hans Küng und Joseph Ratzinger lehrte. Schon seinerzeit geriet er mit der Amtskirche in Konflikte. Mit einem kirchlichen Lehrbeanstandungsverfahren gegen seinen Kollegen Haag (einem Alttestamentarler) hat sich J. Neumann in seinem Buch „Menschenrechte – auch in der Kirche?“ (1976) auseinandergesetzt. Leider lässt dieser biographische Beitrag nicht erkennen, welche Gründe und Entwicklungen zu Neumanns Bruch mit der Amtskirche, zur Rückgabe der Lehrbefugnis geführt haben. Vermutlich war Beine das oben erwähnte, 2017 erschienene, sehr persönlich gefärbte und materialreiche Buch Ursula Neumanns nicht bekannt.
In dem großen Aufsatz „Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803“ berichtet J. Neumann, historisch genau informiert und mit großer Formulierungskunst, in Kenntnis auch des heutigen Wissensstandes über die Vorgeschichte, über die reichspolitischen und kirchlichen Rahmenbedingungen und die Konsequenzen des Umsturzes der Verfassung und des Untergangs des Heiligen Römischen Reichs; besonders über die Versuche der kirchlichen und weltlichen Herren des Reichs, sich angesichts der überlegenen Stellung Frankreichs gegenseitig zu stabilisieren, in der Hoffnung, dadurch die eigene Position zu sichern.

Neumann macht deutlich, dass die Kompensation der großen weltlichen Herrschaften für den Verlust der linksrheinischen Gebiete nicht ein großer Raubzug durch kirchliches Eigentum war, sondern Teil einer umfassenden Reichsreform. Der Reichsdeputationshauptschluss ratifizierte lediglich die Folgen der Ergebnisse der verlorenen Koalitionskriege, wie sie im Frieden von Lunéville festgehaltenen waren. Die säkularisierten kirchlichen Herrschaftsbereiche (19 Bistümer und 44 Reichsabteien), die im Wesentlichen der Versorgung der Kinder des hohen Adels gedient hatten, hörten auf, weltliche Herrschaftsbereiche zu sein und wurden in bestehende weltliche Herrschaften eingegliedert.

Das alles diente vornehmlich einer moderneren reichspolitischen Gliederung, es wurden einigermaßen vernünftige Verwaltungseinheiten geschaffen. Dadurch entstand vielerorts eine religiösen „Durchmischung“, da in allen Staaten nunmehr Angehörige unterschiedlicher Konfessionen ansässig waren und ihnen die Religionsfreiheit garantiert war. Umgekehrt war der Staat nunmehr gefordert, sich selbst der religiösen Bedürfnisse ihrer Untertanen anzunehmen („cura religionis“).

Neumann weist darauf hin, dass das Kirchenvermögen keineswegs schlechthin „enteignet“ und zweckentfremdet wurde. Vielmehr bestimmte der RDHS in § 63 ausdrücklich, dass die Religionsausübung „gegen Aufhebung und Kränkung aller Art“ geschützt und „jeder Religion der Genuß ihres eigenthümlichen Kirchengutes, auch Schulfonds … ungestört verbleiben“ solle. Nur Bischofstühle, Domkapitel und Kloster verloren ihre Habe, es wurden die damaligen Amtsinhaber (nur diese!) aber persönlich lebenslang entschädigt.
Neumann verzichtet ausdrücklich darauf zu zeigen, wie sich die Kirchen im 19. Jahrhundert „zunehmend eine vertragliche Zusicherung von Leistungen des Staats nach der anderen holten“ (S. 101). Das ist schade, denn bis heute mangelt es an einer solchen Aufstellung und damit an einem Nachweis, ob und in welchem Umfang im Jahre 1919 tatsächlich die in Art. 138 WRV genannten Rechtstitel bestanden und damit ablösungsfähig waren. Aber es ist ja eigentlich die Aufgabe der Kirchen und nicht ihrer Kritiker, diesen Nachweis über die angeblichen Rechtstitel zu führen. Neumann prangert zum Schluss den Verfassungsbruch durch den Bund und die Länder an, der darin besteht, dass nach 1919 die alten, durch die Säkularisation veranlassten Zahlungen an die Kirchen staatsvertraglich und konkordatär festgeschrieben statt abgelöst wurden. Für die dem Christentum entfremdeten neuen Bundesländer geschah dies sogar noch nach 1989, ein politisches Vorgehen, welches – wenn es nicht die Kirchen begünstigt hätte – nach Neumanns Auffassung einen „Orkan des Protestes“ hervorgerufen hätte.[1]

Im kämpferischen Beitrag „Streitfragen im Staat-Kirche-Verhältnis“ aus dem Jahr 2000 spießt Neumann zunächst die unglaublichen interpretatorischen Verbiegungen auf, mit denen im Jahre 1975 das Bundesverfassungsgericht es rechtfertigte, dass in Bayern nach Verfassung (Art. 135) und Gesetz (§ 13 Volksschulordnung) die Volksschüler nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse zu unterrichten waren, inklusive Schulgebeten, Schulandachten, Schulgottesdiensten und Kruzifixen in jedem Klassenzimmer. Hierin könne man – so das Gericht – nicht die Bejahung des Christentums, sondern nur die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors sehen. Neumann zitiert die spöttische Anmerkung des Staatsrechtslehrers Obermeyer, der Unterricht nach den Grundsätzen des christlichen Bekenntnisses sei folglich nur deshalb grundgesetzmäßig, weil er eben nicht an den Grundsätzen des christlichen Bekenntnisses auszurichten sei, sondern an den Grundsätzen des abendländischen Kulturkreises. Eine weitere Entscheidung des gleichen Gerichts vom gleichen Tag zur Simultanschule mit christlichem Charakter badischer Überlieferung (Art. 15 Verfassung Baden-Württemberg), behauptet, der christliche Charakter enthalte für die Schüler nur „ein Minimum an Zwangselementen“ (immerhin!) und sei gegenüber den Nichtchristen durch das Fortwirken geschichtlicher Gegebenheiten legitimiert. Vor dem Hintergrund der Neutralität des Staates gegenüber Fragen des Glaubens und der Religion, der Äquidistanz gegenüber allen Religionsgemeinschaften, sind das schon bemerkenswerte Aussagen.

Zur Sonderstellung der Kirchen im Arbeitsrecht macht Johannes Neumann darauf aufmerksam, dass nicht nur die kollektiven Rechte der Arbeitnehmer (Betriebsrat, Tarifverhandlungen, Streikrecht), sondern auch ihre individuellen Lebensgestaltungsrechte bei kirchlichen und karitativen Einrichtungen weitgehend suspendiert sind, es fehlt hier auch häufig an gerichtlichem Rechtsschutz. Neumann setzte weitsichtig bereits damals, vor 20 Jahren, die Hoffnungen auf die heute erkennbar werdende Hilfe der europäischen Gerichte, nachdem das Bundesverfassungsgericht bis heute alle Einwände unter Hinweis auf das angebliche Selbstbestimmungsrecht der Kirchen verworfen hat.
Im Zusammenhang mit der Kirchensteuererhebung macht Neumann zwei Jahre nach der erstmaligen Einführung im Jahre 1998 auf die Problematik des besonderen Kirchgelds aufmerksam, durch welches die Kirchen indirekt solche verheirateten Menschen besteuern, die der Kirche nicht (mehr) angehören: dabei wird der geschätzte „Lebensführungsaufwand“ der selbst einkommenslosen oder geringverdienenden kirchenangehörigen Ehepartner zugrunde gelegt. Ermöglicht hat diese zusätzliche Geldquelle ein Tipp des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1965: Damals hat das Gericht den sog. Halbteilungsgrundsatz in glaubensverschiedenen Ehen für verfassungswidrig erklärt und gleichzeitig am Schluss des Urteils – ohne sachliche Notwendigkeit – das Schlupfloch der „Besteuerung des Lebensführungsaufwandes“ eröffnet und erläutert, von welchem 33 Jahre später zuerst die evangelische Kirche, dann auch zahlreiche katholische Diözesen Gebrauch gemacht haben. 

Gegen die Staatsleistungen finden sich bei Neumann die bekannten Argumente. Er macht besonders auf die grotesken Entwicklungen im Osten Deutschlands nach 1989 aufmerksam, wo die Länder in den neuen Staatskirchenverträge angesichts der geringen Zahl der gläubigen Bewohner eine – von allen Bürgern zu tragende – außerordentlich hohe Zahlungspflicht an die Kirchen vorsehen, neben den Baulasten und Patronaten, neben den im Osten neu installierten staatlichen Lasten für Religionsunterricht und theologische Fakultäten.
Im Aufsatz „Kultur- statt Kirchensteuer?“, einem an dieser Stelle vollständig abgedruckten Gutachten für die HU,[2] wendet sich Neumann gegen den Vorschlag einer „Kultursteuer“ nach italienischem Vorbild. Dort beträgt sie 8 Promille der Einkommenssteuer.

Jeder Bürger muss sie zahlen, kann jedoch bestimmen, an welche Religionsgemeinschaft, soziale oder kulturelle Einrichtung das Geld fließt. In gewohnter Präzision beschreibt Neumann die hinter der Idee stehenden Bestrebungen und Personen. Er kommt zum Ergebnis, dass es sich vor dem Hintergrund der wachsenden Zahl von Kirchenaustrittswilligen um nichts anderes als eine „Kirchenaustrittsbremse“ handelt, in der Funktion ähnlich dem obligatorischen Ethikunterricht als Wall gegen die Abmeldung vom Religionsunterricht. Rechtspolitisch sei es zudem verfehlt, den Mitgliedsbeitrag eines Teils der Gesellschaft – nichts anderes ist die Kirchensteuer – zu einer allgemeinen Steuer aufwachsen zu lassen. Hinzuzufügen wäre die Frage, ob es sich angesichts der Zweckbindung des Kultursteueraufkommens bei ihr überhaupt um eine verfassungsrechtlich zulässige Steuer handelt.

In dem Beitrag „Zur gesellschaftlichen Stellung, Entwicklung und Wandlung des modernen Atheismus“ (1995) wird die genaue historische Informiertheit N.s über die philosophischen, politischen und juristischen Zusammenhänge religiöser Fragestellungen in der Gesellschaft besonders deutlich. Neumann spießt die verächtliche und überhebliche Haltung der Kirchen gegenüber Atheisten und anderen religionsfernen Bürgerinnen und Bürgern auf. Er zitiert etwa den Historiker Treitschke, der 1897 dekretierte: „Atheisten haben im Staatswesen streng genommen gar keine Stelle.“ Selbst innerhalb der Reformbestrebungen in den Kirchen ist eine solche Haltung noch heute zu beobachten, wenn etwa die Befähigung nichtgläubiger Menschen bestritten wird, zum gesellschaftlichen Grundkonsens beizutragen. Deutlich ist das seit Jahren zu beobachten bei der religiösen Vereinnahmung des berühmten Böckenförde-Diktums („Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“), einer Interpretation, der Böckenförde selbst entgegengetreten ist.

Das politische Geplapper vom für unsere Verfassung grundlegenden Erbe der „christlich-jüdischen Kultur“ ist unerträglich und verantwortungslos – vor allem wegen der Vereinnahmung des „jüdischen Erbes“ durch die jahrhundertelange christliche Herrschaft in Deutschland, die in ganz weiten Teilen die Juden, den jüdischen Teil des Erbes bekämpft, ausgestoßen, ausgegrenzt, vertrieben und umgebracht hat.

Unerträglich ist dieses Geplapper aber auch, weil es unterschlägt, dass die älteren, bedeutenderen und für den säkularen Staat maßgeblichen Beiträge aus dem Humanismus der antiken Welt und nicht aus dem Christentum stammen. Die Beiträge der griechischen und römischen Antike sind bekanntlich nur in relativ geringem Umfang überliefert, denn vom 4. Jahrhundert an (konstantinische Wende) sind unter der christlich gewordenen römischen Staatskirche die schriftlichen wissenschaftlichen, literarischen, philosophischen und künstlerischen Quellen der „heidnischen Welt“ vergessen, ja planmäßig vernichtet und verbrannt worden. Übrigens erlitten dasselbe Schicksal auch die Schriften der „Ketzer“, also derer, die in den zahlreichen innerchristlichen Machtkämpfen der Frühzeit den Kürzeren zogen. Dies geschah so vollständig, dass wir heute nur noch einige dieser Quellen von Wissenschaft und Philosophie kennen, meistens auf dem Umweg über arabisch-maurisch-islamische Denker und Wissenschaftler. Der Beitrag dieses islamischen Traditionsstrangs für die europäische Entwicklung dringt erst heute, gefördert durch aufgeklärte Geister wie Ernst Bloch und Kurt Flasch, allmählich in unser kulturelles Bewusstsein ein.

Neumann beschreibt in seinem glänzenden Beitrag „Am Anfang war der Humanismus“ (1999) die antike Basis unserer Kultur, z.B. Sappho und Protagoras, Cicero und Julian („Apostata“) und vielen andere. Dabei würdigt er vor allem den Beitrag der Frauen an der Entwicklung des Denkens. Zudem verwahrt er sich vehement vor allem gegen die kirchliche Vereinnahmung von Aristoteles durch die christlichen Denker des Mittelalters, vor allem durch Thomas von Aquin, den maßgeblichen Philosophen des Katholizismus, auf dessen Gedankengebäude das kanonische Recht bis heute beruht.

Bis in die Gegenwart ergänzt und weiterentwickelt wird der Aufsatz durch Neumanns Überlegungen „Humanismus als Form autonomer Wertentscheidung“. Eingehend befasst sich Neumann mit den Entwürfen des von ihm besonders geschätzten Erich Fromm zur Begründung ethischen Handelns aus humanistischer Sicht. Neumann war 1985 Mitbegründer und erster Vorsitzender der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft. Neumanns Darstellung der Gedankenwelt Fromms nachzuvollziehen ist nicht einfach. Aber dem Resümee Neumanns kann man nur zustimmen: Die nüchterne Erkenntnis, dass ein Rest an Unsicherheit bei schwierigen Entscheidungen bleibt, „bewahrt uns vielleicht vor Überheblichkeit“.

Ursula Neumann beschreibt in einem Nachwort die gemeinsame Entwicklung „Von der Theologie zum Humanismus“, ein Weg, auf dem für sie wie für Johannes Neumann die Auseinandersetzung mit religiösen und kirchlichen Fragen an Bedeutung verlor, während Fragen der humanen Gestaltung der Arbeitswelt, im Umgang mit Behinderten, mit der Bedrohung durch Atomwaffen und anderen Bedrohungen der Freiheit an Bedeutung gewannen.

III. Das Buch von Ursula Neumann

Von den 20 Beiträgen dieses Buches sollen hier einige vorgestellt werden.

Im Jahr 2000 wurde Ursula Neumann mit dem Erwin-Fischer-Preis des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) ausgezeichnet. Dabei hielt sie eine Rede, die als erster Beitrag abgedruckt ist: „Wie werde ich ein guter Außenseiter?“ Darin kommt sie gleich auf ihr Lebensthema zu sprechen, nämlich das Verhalten und Handeln des einzelnen Menschen angesichts der großen und mächtigen Institutionen dieser Welt mit ihren Heilsversprechungen: Dazu gehört die katholische Kirche, der Ursula Neumann schon lange als Außenseiterin begegnete. An ihr hat sie das Außenseitertum gelernt. Nach ihrer Erfahrung haben die Kirchen im realen Leben der Menschen – nicht in der Politik – praktisch jede Bedeutung eingebüßt.
Diese Beobachtung führt sie im Einzelnen mit amüsanten Beobachtungen aus ihrer ländlichen Umgebung näher aus. Ursula Neumann hält Widerständigkeit gegenüber den furchterregenden Entwicklungen wie Gentechnologie, gegenüber dem medizinischen Machbarkeitswahn, der Globalisierung, der Digitalisierung und dem wirtschaftlichen Wachstumszwang für wichtig; Entwicklungen, die von finanzstarken und einflussreichen Institutionen gefördert, den Menschen kritiklose Gläubigkeit, Unterwerfung, also eine quasi-religiöse Haltung abverlangen – mit seelischen Folgen für die Betroffenen wie Resignation, Versagensängsten und Abhängigkeit. Am schlimmsten aber – so Ursula Neumann – sei der Satz: „Was kann ich dagegen schon tun?“ Denn dieser Satz schaffe erst die Wirklichkeit, die er zu beschreiben vorgibt. Ursula Neumann plädiert dafür, gegen die genannten Entwicklungen zu kämpfen und sich den dahinter stehenden Institutionen nicht einfach auszuliefern. Zweifel – Selbstzweifel eingeschlossen – und Respektlosigkeit sei die richtige Haltung. Das bedeutet: man muss die Angst überwinden und sich des Verstandes bedienen. Dann werde man die Großmächtigen dieser Welt wie den Kaiser im schönen Andersen-Märchen sehen: Seine neuen Kleider gibt es gar nicht, der Kaiser steht nackt da. Nimmt Ursula Neumann den Mund hier zu voll? Mag sein. Aber immerhin gibt es das erfolgreiche Vorbild des mutigen Kampfs gegen den Mächtigen schon in der Bibel: in der Geschichte von David und Goliath.

Der Kampf kann natürlich scheitern. Das haben Ursula und Johannes Neumann erfahren müssen in dem Gerichtsverfahren, bei dem es darum ging, dass ihr Sohn Joachim zur Teilnahme am Ersatzfach Ethik verpflichtet wurde, weil er nicht am Religionsunterricht teilnahm. Drei Beiträge des Buches widmen sich dem Thema Religionsunterricht und Ethikunterricht in der Schule.

Der erste (von 1997) unter dem etwas rätselhaften Titel „Die Kunst, den Bogen ungestraft zu überspannen“ ist, was die Beschreibung der Verhältnisse der beiden Fächer in den Bundesländern angeht, inzwischen teilweise überholt. Die beiden Kernthesen jedoch sind unverändert aktuell und zutreffend: 1. dass der Staat eine allgemeine Wertebildung für alle, wenn er sie für geboten hält, nicht für Teile der Schülerpopulation an die Religionsgemeinschaften delegieren kann; denn deren religiösen Werte unterliegen eben nicht staatlicher Bestimmung; 2. dass aus der Religionsunterrichtsverpflichtung des einen Teils der Schülerschaft (Art. 7 Abs. 3 GG) nicht eine Werteunterrichtsverpflichtung des anderen Teils folgen könne. Anders als die Ersatzdienstpflicht im Falle der Kriegsdienstverweigerung (Art. 12a Absatz 2 GG) ist die Pflicht zum Ersatzunterricht in Ethik im Fall der Abmeldung vom Religionsunterricht eben nicht grundgesetzlich vorgesehen und verstößt daher gegen das Grundrecht auf Religionsfreiheit.

Die Frage „Sind Christen doch die besseren Menschen?“ behandelt Ursula Neumann mit launigen, bissigen Bemerkungen zur klerikalen Politik und katholischen Moral in der Bundesrepublik seit 1949 und zur Sinnlosigkeit religiöser Moralverkündigung im Religionsunterricht. Der ausführliche Aufsatz „‘Ersatzfach‘ Ethik“ (1998, gemeinsam mit Joachim und Johannes Neumann) informiert ausführlich und sorgfältig, im Detail etwas mühsam nachzuvollziehen, über ihre Argumentation im Revisionsverfahren über die Pflicht zur Teilnahme am Ethikunterricht. Verwaltungsgericht Freiburg und Verwaltungsgerichtshof Mannheim hatten die Klage der Neumanns gegen die Teilnahmepflicht des Sohnes Joachim abgewiesen, die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts stand bei Abfassung des Aufsatzes noch aus. Die Argumentation soll hier nicht im Einzelnen referiert werden. Man hätte sich gewünscht, dass Ursula Neumann die Weiterentwicklung des Verfahrens nachgetragen hätte. Zwar hat auch das Revisionsgericht am Ergebnis nichts geändert (Urteil vom 17. Juni 1998, BVerwGE 107,75). Es enthält aber immerhin einige Klarstellungen im Sinn der Zielvorstellungen der Neumanns: 1. Der Religionsunterricht ist eine „für einen auf Neutralität verpflichteten Staat durchaus atypische religiöse Unterweisung im staatlichen Raum“ und als solcher keine Belastung für die Schülerinnen und Schüler, sondern ein Vorteil. 2. Der Landesgesetzgeber könnte durchaus auch Ethikunterricht für alle Schülerinnen und Schüler vorsehen, also als zusätzlichen Unterricht auch für die bereits am Religionsunterricht Teilnehmenden. 3. Die curriculare Minderausstattung des Faches Ethik gegenüber dem Religionsunterricht (z.B. keine Leistungskurse in Ethik; kein Prüfungsfach im Abitur) ist unzulässig. Die letztgenannte Klarstellung hat in der Gesetzgebung der Länder jedenfalls zum Teil schon zu Änderungen geführt. Die beiden ersten Feststellungen sind durchaus von potentieller Sprengkraft. Die Gesetzgeber könnten daraus Konsequenzen ziehen: z.B. Festlegung der bekenntnisfreien Schule als Regelschule (vgl. Artikel 7 Abs. 3 GG) und Einführung eines obligatorischen Ethikunterrichts für alle.

Nachzutragen ist auch noch, dass die Verfassungsbeschwerde gegen das Revisionsurteil vom Bundesverfassungsgericht in einer Kammerentscheidung vom 18. Februar 1999 verworfen wurde mit der zynischen Begründung, der Beschwerdeschrift sei das angegriffene Urteil nicht beigefügt gewesen; dabei lag den Richtern dieses mit Sicherheit vor und hätte auch durch ein einfaches Telefongespräch angefordert werden können. Das Gericht will nicht entscheiden; es hat auch die Vorlage des VG Hannover zu dem gleichen Thema durch Beschluss vom 17. Februar 1999 mit fadenscheinigen Gründen als unzulässig zurückgewiesen.[3] Die Debatte über Religions- und Ethikunterricht ist noch lange nicht zu Ende; der Gegenstand des Beitrags von Ursula und Johannes Neumann ist aktueller denn je. Die Landesgesetzgeber sind gefordert, etwa durch Bestimmungen darüber, dass die staatlichen Schulen im Grundsatz „bekenntnisfrei“ sind im Sinne von Artikel 7 Absatz 3 Satz 1 GG.

In weiteren Beiträgen über die Lebenswirklichkeit auf der Grundlage eigenen Engagements setzt sich Ursula Neumann mit dem Schwangerschaftsabbruch, mit dem Verhältnis der Kirche zu den Frauen, mit dem Umgang mit Geflüchteten auseinander. So hält sie es für grundverkehrt, Flüchtlinge immer nur als hilfsbedürftige Opfer zu behandeln und Dankbarkeit von ihnen zu erwarten. Der Selbstwert von Flüchtlingen wächst, wenn von ihnen Gegenleistungen verlangt werden: sich an Absprachen zu halten, eigene Bemühungen einzubringen.
Die Sprache Ursula Neumanns ist in allen Beiträgen wirklichkeitsgesättigt, präzise, voller Empathie, dabei spöttisch bis sarkastisch. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, ohne jedoch zu verletzen. Man liest schmunzelnd, immer wieder zustimmend nickend. Sie zitiert häufig, vor allem Würdenträger aus der Kirchenhierarchie, und decouvriert schon damit deren abstrakte, wolkige, verschrobene und widersprüchliche Denkweise. Ein Beispiel: „In der Nachfolge Jesu sind wir Christen berufen, durch Glaubensgehorsam immer freiere Menschen zu werden und befreiende Verhältnisse zu ermöglichen“ (Kardinal Koch, Basel).

Das ganze Buch, jeder einzelne Abschnitt lässt erkennen: Hier bringt sich ein ganzer Mensch tätig ein. Ein ganzes Leben lang, liebevoll, rückhaltlos. Man sollte das Buch lesen, wie auch das von Johannes Neumann.

Anmerkungen:

1 Zu den aktuellen Staatsleistungen an die Kirchen s. Dokumentation S. 105 dieser Ausgabe.

2 Kurzfassung: Mitteilungen der Humanistischen Union Nr. 170, S. 31 f.

3 S. Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1999, S. 756.

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