Themen / Lebensweisen / Pluralismus

Vereint und gestärkt aus den Wahlen? Zum Einfluss rechts­ra­di­kaler Parteien im Europä­i­schen Parlament

24. März 2020

vorgänge Nr. 228 (4/2019), S. 81-90

Vor den letzten Wahlen zum Europaparlament befürchteten manche Beobachter* innen ein Erstarken rechtsradikal-nationalistischer Parteien. Wie stark sie wirklich wurden, wie sich die Fraktionsbildung gestaltete und welchen Einfluss sie im neuen Parlament haben, untersucht Tobias Peter im folgenden Beitrag. Er geht auf die Arbeitsweise des Europaparlaments ein und analysiert, wie weit die rechten Parteien ihre Stimmengewinne voraussichtlich in reale politische Einflussnahme übersetzen können. Seine Diagnose: „Der rechtsradikale Einfluss beginnt auf der nationalen Ebene und wirkt bis in die Debatten im Europäischen Parlament hinein.“

„Dies ist der Sieg des Volkes, mit Stolz und Würde hat es die Macht am heutigen Abend zurückerobert“[1] – so verkündete Marine Le Pen stolz den Sieg ihrer Partei am Abend der Europawahlen 2019. Der Rassemblement National gewann mit 24,8 Prozent der Stimmen und einer hauchdünnen Mehrheit von weniger als einem Prozent vor der Partei des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Le Pen forderte als Konsequenz die Auflösung des französischen Parlaments und Neuwahlen, denn es war Macron selbst gewesen, der die Wahl im Vorfeld als Schicksalswahl zwischen ihm und Le Pen stilisierte.

Auch in anderen europäischen Ländern – vor allem in Italien, Ungarn, Schweden und Großbritannien – feierten rechtsradikale und populistische Parteien den Ausgang der Wahlen. Die italienische Lega Nord erreichte mit einem Ergebnis von 34,3 Prozent einen Zuwachs von über 28 Prozentpunkten und zog mit insgesamt 28 Abgeordneten in das neu gewählte Parlament ein. Beflügelt durch das gute Ergebnis verkündete Matteo Salvini, Vorsitzender der Lega und damaliger Innenminister, im August 2019 den Bruch der Koalition, um Neuwahlen der Abgeordnetenkammer herbeizuführen. Der italienische Wahlkampf war geprägt durch Diskussionen über Immigration und Sicherheit sowie dem Wahlkampf-Motto „Italien zuerst“. Großbritannien befindet sich aufgrund der Brexit-Diskussionen in einer langanhaltenden Dauerkrise. Dies zeigte sich auch in den Wahlergebnissen: Die Brexit-Partei erreichte aus dem Stand 30,5 Prozent der Stimmen – weit vor den zweitplatzierten Liberal Democrats mit 19,6 Prozent – und stellt seitdem 29 Abgeordnete. Die Gewinne gehen zu Lasten der UK Independence Party, ursprünglicher Motor des Brexit-Referendums, welche über 23 Prozentpunkte der Stimmen verlor und damit den Wiedereinzug verpasste. Die britischen Abgeordneten scheiden nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU automatisch aus dem Europäischen Parlament aus.

In anderen Mitgliedsstaaten schnitten die Rechts-Parteien nicht so gut ab wie von ihnen zuvor erhofft. Die Alternative für Deutschland konnte ihr Ergebnis mit 11 Prozent zwar um 3,9 Prozentpunkte ausbauen, blieb aber unter ihrem selbst gesteckten Ziel und den Ergebnissen der Bundestagswahl im Jahr 2017. In Österreich erhielt die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) insgesamt 17,2 Prozent der Stimmen, ein Minus von 2,5 Prozent, jedoch trotz Ibiza-Affäre von FPÖ-Chef Hans-Christian Strache noch ein vergleichsweise gutes Ergebnis. Die Partei für die Freiheit von Geert Wilders in den Niederlanden erhielt lediglich 3,5 Prozent und ist zunächst nicht mehr im Europäischen Parlament vertreten. Für sie rückt das im September 2016 gegründete Forum für Demokratie mit drei Mandaten ein. Die Partei wirbt für ein Austritt aus der EU, setzt sich gegen eine sog. Masseneinwanderung und für strenge Grenzkontrollen und den Schutz der niederländischen Kultur ein. Nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU wird ein Teil der britischen Sitze auf andere Länder verteilt. Dadurch wird die Partei für die Freiheit erneut ins Parlament einziehen und das Forum für Demokratie erhält ein zusätzliches Mandat.

In der nachfolgenden Tabelle sind die Wahlergebnisse rechtsradikaler Parteien bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in den Jahren 2014 und 2019 aufgeführt. Daneben existiert eine Vielzahl anti-europäischer und populistischer Parteien unterschiedlicher Parteienfamilien, die zum Teil in einer rechtsradikalen Grauzone anzusiedeln sind und in ihren Erscheinungsformen nicht in Gänze dargestellt werden können. Darüber hinaus ist die Einordnung zum Teil wissenschaftlich umstritten, zudem unterliegen die Parteien ideologischen Wandlungen. So lösten sich seit den 1980er Jahren die dominanten rechtsradikalen Parteien in Westeuropa von ihren faschistischen Traditionen und ihrer offen anti-demokratischen Ausrichtung (extreme Rechte). Seitdem prägen vor allem die ethnozentristischen, die populistisch-autoritären Nationalisten sowie die religiös-fundamentalistischen Rechten die Parteienlandschaft in Europa (vgl. Minkenberg 2011: 113; 2013: 11f.). Die Gesamtheit dieser Parteien wird hier als radikale Rechte bezeichnet (vgl. Minkenberg 1998).

Tabelle 1: Wahler­geb­nisse ausge­wählter rechts­ra­di­kaler und populis­ti­scher Parteien im Europä­i­schen Parlament

* Nicht eindeutig rechtsradikale Partei; Angaben in Klammern bedeuten kein Mandat im Parlament

Die folgenden Parteien sind eingeschlossen: Belgien: Vlaams Belang (VB); Dänemark: Dänische Volkspartei (DF); Deutschland: Alternative für Deutschland (AfD), Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD); Estland: Estnische Konservative Volkspartei (EKRE); Finnland: Wahre Finnen (PS); Frankreich: Rassemblement National (FR, vorher Front National); Großbritannien: UK Independence Party (UKIP), Brexit-Party (Brexit); Griechenland: Goldene Morgenröte (CA), Griechische Lösung (EL); Italien: Lega Nord (LN); Lettland: Nationale Vereinigung „Alles für Lettland“ (NA); Niederlande: Forum für Demokratie (FvD), Partei für die Freiheit (PVV); Österreich: Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ); Schweden: Schwedendemokraten (SD); Spanien: VOX; Slowakei: Volkspartei unsere Slowakei (LSNS); Tschechien: Freiheit und direkte Demokratie (SPD); Ungarn: Bewegung für ein besseres Ungarn (Jobbik).

Frakti­ons­bil­dung im neuen Parlament

Die Parteien im Europäischen Parlament organisieren sich nicht entlang nationaler Gruppen, sondern schließen sich nach politisch-weltanschaulicher Ausrichtung zu Fraktionen zusammen. Die Bildung einer Fraktion geht mit finanziellen und organisatorischen Vorteilen einher, zudem spielen sie eine zentrale Rolle in allen politischen Prozessen innerhalb des Parlaments. So wählen sie das Präsidium, bestimmen die Zusammensetzung der Ausschüsse, die Tagesordnung, die Auswahl der Berichterstatter* innen und entscheiden über die Zuteilung von Redezeiten. Nur Fraktionen oder mindestens 40 Abgeordnete gemeinsam können Änderungsanträge zu Berichten in Plenardebatten einbringen.

„The power of the Groups is also shown by the powerlessness of those non-attached members who are not in Political Groups, who are highly unlikely, for example, ever to hold a powerful post within the Parliament, or be a major rapporteur.” (Corbett et al. 2011, S. 78)
Daraus folgt jedoch nicht, dass die in der Vergangenheit mehrheitlich fraktionslos organisierten rechtsradikalen Parteien nicht versuchten Einfluss zu nehmen. Vor allem durch Redebeiträge in Plenardebatten und Geschäftsordnungsanträge, nicht zuletzt auch durch Störaktionen, Demonstrationen oder verbale Angriffe gegen die Autorität des Parlaments, versuchen sich Fraktionslose einzumischen (Corbett et al. 2011, S. 111). Ihr tatsächlicher Einfluss auf Policies ist für fraktionslose Abgeordnete allerdings sehr eingeschränkt. Beispielsweise wurden nur sieben von insgesamt 2161 Berichten in der siebten Legislaturperiode von den Fraktionslosen verfasst, unter denen sich zudem nicht ausschließlich rechtsradikale Parteien befanden.

Zurzeit existieren im Europaparlament sieben Fraktionen sowie die Gruppe der fraktionslosen Abgeordneten: Neben der konservativen Fraktion der Europäischen Volksparteien, der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten, der liberalen renew europe, der Grünen/ Europäische Freie Allianz und der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/ Nordische Grüne Linke existiert eine Fraktion mit rechtsradikalen Mitgliedern sowie eine eindeutig rechtsradikal geprägte Fraktion.

Europäische Konser­va­tive und Reformer

Die aktuell zweitkleinste (62 von insgesamt 751 Abgeordneten) Fraktion, die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), besteht hauptsächlich aus EU-kritischen und nationalkonservativen Parteien. Die Fraktion wurde auf Betreiben des damaligen Parteichefs der britischen Konservativen, David Cameron, nach den Wahlen im Jahr 2009 gegründet. Mit Gründung der Fraktion sollte jenen konservativen Parteien im Europäischen Parlament eine neue politische Heimat geboten werden, die die Fraktion der Europäischen Volksparteien als zu föderalistisch ablehnten. Bereits in der letzten Wahlperiode befanden sich unter den Mitgliedern der EKR auch rechtsradikale Parteien (etwa die Dänische Volkspartei) und Parteien aus einem rechtsradikalen Graubereich (z.B. Die Finnen). Die aktuelle Fraktion wird dominiert von der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit. Unter den weiteren Mitgliedern befinden sich rechtsradikale Parteien wie die Schwedendemokraten, die spanische Vox, die Griechische Lösung und die lettische Nationale Vereinigung.

Identität und Demokratie

Die Fraktion Identität und Demokratie (ID) ist die fünftgrößte Fraktion und wurde als Nachfolger der Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) gegründet. Dominiert wird die ID-Fraktion von der Lega Nord, die die größte Landesgruppe und damit den Vorsitzenden der Fraktion stellt. Sie löste den Rassemblement National als zentrale Kraft in der neuen Fraktion ab. Die in ihr vertretenen Parteien träumten vor der Wahl davon, stärkste politische Kraft zu werden – dieses Ziel verfehlten sie deutlich. Dennoch konnten sie ihre Mandate von 36 (ENF) auf 73 (ID) mehr als verdoppeln. Zu den Mitgliedern gehören ausschließlich rechtsradikalen Parteien, unter ihnen einige der wichtigsten rechtsradikalen Parteien in Westeuropa – die AfD, der Rassemblement National, die Wahren Finnen, die Dänische Volkspartei und die Freiheitliche Partei Österreichs. Ihre Mitglieder eint die Ablehnung der EU, der Einwanderung, des Multikulturalismus und des Islams. Es sind jedoch auch deutliche inhaltliche Differenzen zu erkennen – zum Beispiel in wirtschaftspolitischen Fragen – und es bleibt abzuwarten, wie die Fraktion in den nächsten Jahren zusammenarbeiten wird. Dabei geht es zumindest nicht allen Mitgliedern um eine Fundamentalopposition: Man wolle die EU nicht zerschlagen, sondern konstruktiv mitarbeiten, so der stellvertretende Vorsitzende Jörg Meuthen von der AfD.[2]

Frakti­ons­lose

Insgesamt 54 Abgeordnete gehören als Fraktionslose keiner politischen Gruppe im Parlament an. Zu den fraktionslosen Mitgliedern gehören unter anderem die Mitglieder der Brexit-Partei sowie Vertreter*innen der extremen Rechten aus Ungarn (Jobbik) und Griechenland (Goldene Morgenröte).

Es ist noch zu früh, um ein Fazit über die Performance der Fraktionen und rechtsradikalen Parteien im Europäischen Parlament zu ziehen. Viele der rechtsradikalen Abgeordneten sind neu im Parlament und es wird noch etwas Zeit vergehen, bis aussagekräftige Daten zur Anwesenheitsrate, Nutzung parlamentarischer Kontrollmechanismen (wie parlamentarische Anfragen) sowie zu der Übernahme wichtiger Posten im Parlamentsbetrieb zur Verfügung stehen. Zwar konnten die rechtsradikalen Parteien die Anzahl ihrer Mandate im Europäischen Parlament insgesamt erhöhen, aber von der Möglichkeit, Entscheidungen zu blockieren, sind sie noch weit entfernt. Daher lohnt sich ein Blick auf die politischen Strukturen, in denen sie sich bewegen, um einen Eindruck zu bekommen, was die Zugewinne rechtsradikaler Parteien für die konkrete Arbeit im Parlament bedeutet.

„Kleine Parteien, große Parlamente“ – Zum insti­tu­ti­o­nellen Einfluss von Nischen­par­teien

Es existiert eine Vielzahl verschiedenartiger Parlamente auf der Welt, und genau so vielfältig sind auch die Möglichkeiten der Parteien bzw. Fraktionen, innerhalb dieser Parlamente direkt oder indirekt Einfluss zu nehmen. Die konkrete Möglichkeit des Einflusses von rechtsradikalen Parteien als Nischenparteien[3] (Adams et al. 2006; Meguid 2005, 2008; Wagner 2012) hängt entscheidend von der Gestaltung des politischen Systems im Einzelnen ab. Parteien, die zum Beispiel an einer Regierung beteiligt sind, beeinflussen Policies – unabhängig von, jedoch in Relation zu ihrer Größe. Zudem bestimmen das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive, die institutionelle Arbeitsteilung und nicht zuletzt auch die Durchsetzungsfähigkeit des Parlaments die Möglichkeit, Einfluss innerhalb dieses Systems zu nehmen. Es geht also letztlich um das institutionelle Umfeld, welches einem erlaubt, die eigenen Politiken tatsächlich umzusetzen.

Ein Erfolg bei den Wahlen zum Europäischen Parlament geht nicht automatisch damit einher, auch Teil einer Regierung werden zu können: Das Europäische Parlament ist ein multinationales, direkt gewähltes ‚Parlament ohne Regierung‘. Insofern gibt es keine Regierungsmacht, zu der die rechtsradikalen Parteien Zugang bekommen könnten, wie auf nationaler Ebene zum Beispiel die Lega Nord in Italien (erstmals 1994) oder die Freiheitliche Partei Österreichs (erstmals 2000). Innerhalb des Regierungssystems der EU wird die Kommission, als unabhängige Exekutive ausgestattet mit dem Initiativrecht für Gesetzesvorhaben, nicht direkt gewählt. Die Kommissionspräsidentin steht auch keinen Premier- und weiteren Ministern*innen gegenüber, die von ihrem Vertrauen und dem Vertrauen des Parlaments abhängig wären.

Zentrale Strukturen eines Parlaments und damit einhergehen Einflussmöglichkeiten werden durch die institutionelle Arbeitsteilung geprägt. Grob können zwei Parlamentstypen (Hübner et al. 1977; Steffani 1979) unterschieden werden: In einem Redeparlament liegt der Schwerpunkt der Parlamentsarbeit auf der politischen Debatte. Das Plenum ist dabei das entscheidende Aktionsforum der politischen Kontroverse zwischen Regierung und Opposition, Ausschüsse spielen eine untergeordnete Rolle. Die Debatte hat nicht die Funktion politischer Überzeugungsarbeit, sondern zielt im Wesentlichen auf die öffentliche Meinung, die Presse und die Wähler*innen ab. Der Schlagabtausch britischer Abgeordneter im Unterhaus zum Brexit beispielsweise zeigte in den letzten Monaten eindrücklich die Funktionsweise eines Redeparlaments. Im Gegensatz dazu stehen in einem Arbeitsparlament die Ausschüsse im Zentrum der parlamentarischen Arbeit. Statt der öffentlichkeitswirksamen Rede prägen kenntnisreiche Detailexperten die politische Auseinandersetzung. Der Einfluss der*des einzelnen Abgeordneten bemisst sich nach ihrer*seiner Stellung im Ausschusssystem. Generell lässt sich konstatieren, dass in einem Arbeitsparlament kleine Parteien größeren Spielraum haben, im Gesetzgebungsprozess Einfluss zu nehmen – direkt auf den Policy Output oder indirekt durch ein Agenda Setting. In einem Redeparlament ist dieses Verhältnis genau umgekehrt.

Das Europäische Parlament ist ein Arbeitsparlament mit einem ausdifferenzierten Ausschuss-System. Die Ergebnisse der Beratungen sind nicht Folge von einer von der Regierungsmehrheit vorgegebenen Policy-Präferenz, sondern Ergebnis der Aussprache aller Parteigruppen. Die Ausschuss-Mitgliedschaften repräsentieren weitestgehend die Gesamtheit des Parlaments im Sinne der politischen Präferenzen. Die Ausschüsse sind die primären Akteure des Agenda Settings und bestimmen die Inhalte der Policy. Beratungen zu einzelnen legislativen Initiativen umfassen dabei nur vergleichsweise wenige Abgeordnete der gleichen Parteigruppe (Hix und Høyland 2011, S. 58; Ringe 2010, S. 7f.). Die Ausschüsse können als Repositorien der Policy-Expertise (Ringe 2010) verstanden werden, die Informationen über den Inhalt und die zu erwartenden Folgen bestimmter Policy-Entscheidungen dem Plenum als Ganzes zur Verfügung stellen. Die (Schatten-) Berichterstatter*innen gelten in den Ausschuss-Verhandlungen als Spezialisten ihrer Fraktion für bestimmte legislative Initiativen, denn sie sind es, die sich federführend mit dem betreffenden Kommissionsvorschlag auseinandersetzen. Sie sind einer der zentralen Akteure im Gesetzgebungsprozess des Parlaments:

Those party members in the responsible committee who actively participate in the deliberation and negotiation of a particular piece of legislation serve as the de facto leadership of their party groups, which means that intra-party politics in the EP are more decentralized than in many other legislatures. Once a common position has been found within the committee working group, it is very unlikely to be altered in the party plenary or by the formal party leadership.” (Ringe 2010, S. 213, Hervorhebung im Original)

Sie prägen daher nicht nur die Policy-Präferenzen der eigenen Fraktion, sondern auch der Ausschüsse, welche zum Teil einer erheblichen Arbeitsbelastung ausgesetzt und auf eine Arbeitsteilung angewiesen sind. Da im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren in zweiter Lesung die Mehrheit der gewählten Abgeordneten für einen Beschluss stimmen müssen und eine einzelne Fraktion die erforderliche Mehrheit (bislang) nicht erreichte, sind die Beziehungen der Fraktionen innerhalb der Ausschüsse geprägt durch Konflikt sowie den Zwang der Kompromissfindung durch Kooperation (Corbett et al. 2011: 170). Letztlich prägen die Ausschüsse auch die Entscheidungen des Plenums im Ganzen, da Berichte eines Ausschusses dem Plenum im Sinne einer „take-it-or-leave-it“-Attitüde vorgelegt werden (Ringe 2010: S. 20).

Berichterstatter*innen nehmen also eine Schlüsselposition im Gesetzgebungsverfahren ein und haben bedeutende Gestaltungsmöglichkeiten – ähnlich wie Minister* innen. Je größer eine Fraktion, desto häufiger können sie den Posten als Berichterstatter*innen für Gesetzesvorhaben übernehmen. Das politische System der EU zielt grundsätzlich auf einen Ausgleich der Interessen. Aufgrund der aktuellen Mehrheitsverhältnisse wird es in den kommenden Jahren jedoch noch stärker darauf ankommen, unterschiedliche Positionen im Parlament zusammen zu führen. Weder erreicht eine „Große-Koalition“ von konservativer und sozialdemokratischer Fraktion die erforderliche Mehrheit, noch eine theoretisch denkbare rechte Koalition aus Konservativen, EU-kritischen Konservativen und Rechtsradikalen. Einzig eine Koalition aus Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken verfügt über eine hauchdünne Mehrheit von einer Stimme. Zwar sind wechselnde Mehrheiten im Europäischen Parlament keine Seltenheit, doch werden auch hier Entscheidungen hauptsächlich entlang einer politischen Links-Rechts-Achse entschieden (Hix et al. 2007). Je näher sich die Parteien auf einer ideologischen Links-Rechts Achse stehen, desto häufiger stimmen sie miteinander ab. Hinzu kommt, dass das Parlament im Gesetzgebungsverfahren in einer starken Konfrontation zum Ministerrat steht, da sich die beiden Institutionen auf einen gemeinsamen Gesetzestext zu einigen haben. Je stärker die Mehrheiten innerhalb des Parlaments, desto besser ist die Verhandlungsposition gegenüber dem von nationalen Regierungsinteressen geleiteten Rat.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang der Zuwachs der ID-Fraktion? Es wird sich im Laufe der Legislaturperiode zeigen, ob Ankündigungen, wie die der AfD, konstruktiv mitzuarbeiten zu wollen, eingelöst werden. Für rechtsradikale Abgeordnete, die oft wenig Interesse an einem Ausgleich divergierender Interessen durch Kompromissfindung haben, bietet die sachorientierte Debatte normalerweise wenig Anreiz sich einzubringen. Darüber hinaus ist die mediale Berichterstattung über Ausschusssitzungen schwach ausgeprägt, was in Verbindung mit der in der Vergangenheit überdurchschnittlichen hohen Anzahl an Wortmeldungen rechtsradikaler Parteien im Plenum (Schmidtke 2016) den Schluss zulässt, dass tendenziell eher öffentliche Aufmerksamkeit und die Inszenierung vor der nationalen Wähler*innenschaft im Vordergrund ihrer Parlamentsarbeit steht.

Keine Gefahr von Rechts­au­ßen?

Es liegt in der Natur des politischen Auftrags von Parteien, Einfluss auf die Ausrichtung politischer Entscheidungen und Diskussionen zu nehmen. Rechtsradikale Parteien versuchen insbesondere in den Feldern Immigration, innere Sicherheit und Sozialpolitik die Politikgestaltung zu beeinflussen. Wissenschaftliche Untersuchungen zu nationalen Parlamenten kamen zu dem Schluss, dass die Präsenz rechtsradikaler Parteien als Katalysator für diese Themen in ihrem Sinne wirkt (Minkenberg 2001; Mudde 2007). Nach Minkenberg werden Agenda Setting und Policy-Effekte der radikalen Rechten durch verschiedene Ebenen in der parlamentarischen Arbeit vermittelt – durch die Interaktion mit den etablierten Parteien, durch parlamentarische Präsenz sowie durch exekutive Handlungen. Er kommt jedoch zu dem Schluss, dass eine rein parlamentarische Präsenz keinen Einfluss auf die Policy hat. In tatsächlicher Regierungsverantwortung findet eher eine ‚Zähmung‘ rechtsradikaler Positionen, denn ein klarer politischer Rechtsruck statt (Minkenberg 2001:18). Gleichwohl kann eine Agenda-Setting-Funktion der radikalen Rechten beobachtet werden, indem sie öffentlichkeitswirksam ihre Themen durch die Medien verbreiten und gleichzeitig innerhalb des Parlaments die anderen Parteien thematisch vor sich hertreiben. Bereits Anthony Downs (1968) wies darauf hin, dass im Falle der Überlegenheit (gemessen am Wähler*innenzuspruch) einer bestimmten Ideologie die anderen Parteien sich thematisch angleichen und eine Differenzierung nach subtileren Gesichtspunkten vornehmen.

Im Ergebnis findet eine Verschiebung des politischen Diskurses vor allem in kulturellen Themenfeldern, im Verhältnis zu linken Parteien im Sinne eines Kulturkampfes sowie gegenüber Immigrationsthemen statt (Minkenberg 2001:18; Heinisch 2003:120). Williams weist darauf hin, dass rechtsradikale Parteien als Parteien der Peripherie zudem andere Zielvorstellungen als die etablierten Parteien verfolgen. Da sie realistischerweise nicht davon ausgehen können, die Regierungsverantwortung von den Wähler*innen übertragen zu bekommen, wählen sie andere Wege der Einflussnahme von außen. Durch die Mobilisierung von Wähler*innen an den Rändern der Mainstream-Parteien versuchen sie, die politische Mitte innerhalb der links-rechts Achse des politischen Spektrums zu ihren Gunsten zu verschieben: „They change the popular discourse, the agendas first of people and then of governments. This is where their impact becomes evident“ (Williams 2006:37).

Der Einfluss rechtsradikaler Parteien bemisst sich also nicht alleine nach ihrer parlamentarischen Stärke, sondern an ihrer Fähigkeit, den politischen Diskurs zu verschieben. Auch wenn zum jetzigen Zeitpunkt die Frage nicht eindeutig beantwortet werden kann, in welchem Ausmaß rechtsradikale Parteien im Europäischen Parlament und im Zusammenspiel mit Kommission und Rat an Einfluss auf die Gesetzgebung gewinnen und den Politik-Output der EU direkt mitbestimmen, so ist sicher, dass auch auf europäischer Ebene ihr Einfluss über den indirekten Weg der Diskursverschiebung wirksam wird. Der rechtsradikale Einfluss beginnt auf der nationalen Ebene und wirkt bis in die Debatten im Europäischen Parlament hinein.

Tobias Peter   M.A., Jahrgang 1982; Geschäftsführer bei der Arbeitsgemeinschaft der Eine Welt-Landesnetzwerke in Deutschland (agl), zuvor Projektleiter bei der Stiftung SPI für Projekte im Bereich Demokratieförderung und Gemeinwesenarbeit, 2010-2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Europäischen Parlament. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Rechtsradikalismus in Europa, Menschenrechte & Polizei, Förderung zivilgesellschaftliches Engagement.

Literatur

Adams, J. F. et al. (2006): Are Niche Parties Fundamentally Different from Mainstream Parties? The Causes and Electoral Consequences of Western European Parties‘ Policy Shifts, 1976–1998. In: American Journal of Political Science 50 (3), S. 513–529

Corbett, R. et al. (2011): The European Parliament. London

Downs, A. (1968): Ökonomische Theorie der Demokratie. Siebeck

Heinisch, R. (2003): Success in opposition – failure in government: explaining the performance of right-wing populist parties in public office. In: West European Politics 26 (3), S. 91–130

Hix, S.; Høyland, B. K. (2011): The political system of the European Union (The European Union series). Basingstoke

Hix, S. et al. (2007): Democratic politics in the European Parliament. Cambridge, New York

Hübner, E., Oberreuter, H. (1977): Parlament und Regierung. Ein Vergleich dreier Regierungssysteme. München

Meguid, B. M. (2005): Competition Between Unequals: The Role of Mainstream Party Strategy in Niche Party Success. In: American Political Science Review 99 (03), S. 347–359

Meguid, B. M. (2008): Party competition between unequals. Strategies and electoral fortunes in Western Europe. Cambridge

Minkenberg, M. (1998): Die neue radikale Rechte im Vergleich. USA, Frankreich, Deutschland. Opladen

Minkenberg, M. (2001): The radical right in public office: Agenda setting and policy effects. In: West European Politics 24 (4), S. 1–21

Minkenberg, M. (2011): Die radikale Rechte in Europa heute. Profile und Trends in West und Ost. In: Globisch, C.; Pufelska, A.; Weiß, V. (Hrsg.): Die Dynamik der europäischen Rechten. Geschichte, Kontinuitäten und Wandel. Wiesbaden, S. 111–131

Minkenberg, M. (2013): Die europäische radikale Rechte und Fremdenfeindlichkeit in West und Ost: Trends, Muster und Herausforderungen. In: Melzer, R.; Serafin, S. (Hrsg.): Rechtsextremismus in Europa. Länderanalysen, Gegenstrategien und arbeitsmarktorientierte Ausstiegsarbeit. Berlin, S. 9–37

Mudde, C. (2007): Populist radical right parties in Europe. Cambridge
Ringe, N. (2010): Who decides, and how? Preferences, uncertainty, and policy choice in the European Parliament. Oxford, New York

Schmidtke, F. (2016): Das Europäische Parlament – Hochburg der Rechtspopulisten? Göttinger Institut für Demokratieforschung; abrufbar unter http://www.demokratie-goettingen.de/blog/das-europaeische-parlament-hochburg-der-rechtspopulisten

Steffani, W. (1979): Parlamentarische und präsidentielle Demokratie. Strukturelle Aspekte westlicher Demokratien. Opladen

Wagner, M. (2012): Defining and measuring niche parties. In: Party Politics 18 (6), S. 845–864

Williams, M. H. (2006): The impact of radical right-wing parties in West European democracies. New York

Anmerkungen:

1 „Kehrt marche. Niederlage für Macron bei den Europawahlen“, Spiegel Online vom 27. Mai 2019, verfügbar unter https://www.spiegel.de/politik/ausland/europawahl-in-frankreich-bittere-niederlage-fuer-macron-triumph-fuer-le-pen-a-1269400.html

2 „Rechtspopulisten bilden fünftgrößte Fraktion im EU-Parlament“, Zeit Online vom 13. Juni 2019, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-06/europa-parlament-rechtspopulisten-fraktion-afd-lega-rassemblement-national 

3 Der Begriff Nischenpartei bezieht sich nicht nur auf die Wahlerfolge und die Größe der Mitgliederschaft einer Partei, sondern auch, ob ein umfassendes Rahmen- und Parteiprogramm existiert. Nischenparteien, im Gegensatz zu den etablierten Mainstream-Parteien, zielen auf eine eng gefasste Zielgruppe und Themen. Daher werden in der wissenschaftlichen Literatur auch solche rechtsradikale Parteien als Nischenparteien bezeichnet, die bedeutende Wahlerfolge errungen haben.

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