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Der Rotkreuz­mensch

aus: vorgänge Nr. 16 (Heft 4/1975), S. 96-97

Helmut Schelsky ante portas: Nach Meinung Karl Steinbuchs entwickelt sich in unserem Lande „eine abscheuliche Arbeitsteilung, bei welcher die schweigende Mehrheit den Wohlstand – und eine lautstarke Minderheit den Mißmut produziert”. Aber während bei Schelsky, trotz Bitterkeit und persönlichem Verletztsein, immer noch ein theoretischer Anspruch, eine Konzeption spürbar bleibt, produziert Steinbuch beinahe nur noch ressentimentgeladene Sprüche, die mehr als einmal zu peinlichen Entgleisungen führen. Einige Beispiele:

„Heute glaube ich nicht mehr an die segensreiche Wirkung des ,kritischen Bewußtseins` oder vielmehr dessen, was sich bei uns wenig bescheiden als solches ausgibt. Ich bin heute kritischer und meine: Gemessen an diesem angeblich ,kritischen Bewußtsein‘ ist das altmodische, viel diffamierte und verlachte gesunde Volksempfinden ein Urgebirge von Vernunft.”
„Meines Erachtens wurde noch nie – kaum zur Nazizeit – eine Kulturnation mit großer Tradition durch eine solche kleine Ideologie verwirrt wie gegenwärtig unser Volk durch die arrogante Bewegung, die mit dem Anspruch auftritt, das ,kritische Bewußtsein‘ zu verkörpern und ,progressiv‘ zu sein.”
„Unsere meinungsbildende Elite hat eine ideologische Rutschbahn vom Liberalismus über den Sozialismus in den Kommunismus gebaut.” Es „ereignete sich in unserem Lande noch nie eine solche hemmungslose Demontage christlicher Ethik, des Humanismus und der klassischen Philosophie wie unter der Verantwortung der SPD”.
„Was unserer Zeit fehlt, sind die menschlichen Vorbilder… : Wir brauchen weniger Demagogen und mehr Rotkreuzmenschen.”
Und so fort und fort — gespreizt, ausgewalzt, variiert, wiederholt über beinahe dreihundert Seiten. Ja zur Wirklichkeit als neueste Kurskorrektur? Es besteht gewiß Anlaß, zu intellektuellen Modetorheiten kritische Distanz zu wahren. Und jedem steht es frei, sozialdemokratischer Politik entgegenzuwirken. Doch vor den Rutschpartien eines Rotkreuzmenschen, dessen gesundem Volksempfinden die SPD mehr demontierte als das Dritte Reich, möge der Himmel uns bewahren.

Karl Steinbuch: Ja zur Wirklichkeit. Seewald Verlag Stuttgart 19 75. 299 S, 20 DM.

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