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Deutschland als Spätent­wickler

vorgängevorgänge 1611/1975Seite 84-93

Eine geschichtliche Betrachtung (II)

aus: vorgänge Nr. 16 (Heft 4/1975), S. 84-93

(Der erste Teil dieses Aufsatzes ist in Vorgänge 15 „Neue Linke — Neue Rechte”, Seite 45-61, erschienen.)

Die Fehlgeburt von Weimar

5.
Diese erste deutsche Katastrophe im 20. Jahrhundert ist die Folge der reaktionären, nationalistischen Herrschaft im Kaiserreich. Es folgte die Periode von 1919 bis 1930, in der angeblich von „links” regiert wird. Die wahre Macht jedoch, die Staatsexekutive von Militär, Verwaltung und Staatsanwaltschaft blieb in den unbewährten Händen der vor 1919 herrschenden Schichten.
Die „Revolution von 1918”, von der die Geschichtsbücher melden, war eine Fiktion. Was im November 1918 geschah, war der Einbruch massenhafter privater Gefühle und Reaktionen in die Politik. Man wollte keinen weiteren Kriegswinter, man wollte aus dem Risiko von Tod und Verstümmelung heraus, man wollte keine hungernden Kinder mehr, keinen Steckrübenfraß, man wollte Schluß machen mit dem Elend! So rissen die Matrosen der Hochseeflotte die Feuer aus den Kesseln, und es kam zum Umsturz, bei dem niemand sich für das alte Regime einsetzte.
Aber eine Revolution war das nicht! Die Abdankung der Hohenzollern wurde von den Matrosen entweder gar nicht gefordert oder etwa an achter Stelle. Grußpflicht und gleiches Essen für alle waren die wichtigsten Fragen.
Und weil es keine Revolution war, kam es auch nicht zu dem wesentlichsten Kennzeichen jeder Revolution, nämlich zu einer radikalen Ablösung einer Personenschicht durch eine andere. Nicht nur „die Generäle blieben”, sondern alle blieben, bis auf ganz wenige Ausnahmen. Die politisch gescheiterten Fachleute blieben weiter als Fachleute. Sie wurden beileibe nicht durch politisch zureichende Laien einer neuen Schicht ersetzt. Und weil dieser Wechsel unterblieb, mißglückte der Versuch der Demokratisierung Deutschlands.
Die Revolution hatte nicht stattgefunden, die Republik war ein — ungewolltes — Abfallprodukt der Niederlage. Sie war — trotz schönster Verfassungsdrechselei — eine „Republik ohne Gebrauchsanweisung”, wie Alfred Döblin sie nannte. Im übrigen bestanden die neuen Herren von vornherein darauf, die historische Kontinuität aufrechtzuerhalten. Sie konservierten daher so viel Einzelstaaten-Unfug, wie nur möglich, und „verpfuschten” damit nach einem Wort von Hugo Preuß die ganze Demokratie,

Der Kampf gegen die Republik

Wie weit der von Bismarck und seinen Nachfolgern, vornehmlich aber von Wilhelm II eingeleitete Prozeß einer Scheidung der Bürger in Patrioten und „Reichsfeinde”, national „zuverlässige” Kreise und „vaterlandslose Gesellen” gediehen war, sah man an der verfaulten Ernte, die ab 1919 die deutsche innenpolitische Atmosphäre verpestete. Für die Presse und die Parteien des Bürgertums (von den demokratischen Teilchen der ehemaligen Fortschrittler und ihren drei größeren Zeitungen abgesehen) war im Kampf gegen die Republik und Demokratie nichts zu gemein oder zu niederträchtig. Die Lüge als bewußt angewandtes Kampfmittel, Ehrabschneidungen und Verleumdungen am laufenden Band, infamste Verhetzung, Lob politischer Mörder, Verteidigung wüstester Greueltaten gegen politische Gegner, alles das ist nicht ein Kennzeichen erst des Dritten Reichs, sondern war die Kampfesart der für Krieg und Niederlage verantwortlichen Kreise gegen die liberalen und demokratischen Schichten, denen das Erbe der kaiserlichen Bankrottpolitik aufgelastet worden war.
Es ist eine fromme Legende, die nazistischen Gewaltmethoden als Folge der Verzweiflung über Inflation und mangelnde Aufwertung, über Wirtschaftskrise undMassenerwerbslosigkeit hinzustellen. Alles was die SA ab 1933 unternahm, wurde bereits in den ersten Wochen nach dem 9. November 1918 praktiziert. Politische Gegner wurdenn mißhandelt und „auf der Flucht” erschossen, Rosa Luxemburg zu Tode geprügelt und in einen Kanal geworfen, Liebknecht, Eisner und andere wurden ermordet. Als ein Attentat gegen Erzberger mißlang, wurde der Attentäter sehr milde bestraft und stillschweigend kurz danach aus dem Gefängnis entIassen. Ein nationalistisches Blatt sprach von dem „kugelrunden, aber nicht kugelfesten” Minister, der etwas später im Schwarzwald heim-tückisch abgeknallt wurde.
Für die deutsche Kontinuität ist bezeichnend, daß an der Mordstelle heute ein Gedenkschild hängt, auf dem es heißt: „Hier starb … Erzberger”, nicht „Hier wurde ermordet” ! Schönfärberei gehört zur Bildung eines „historischen Bewußtseins”!
Monatelang vor dem Attentag auf Rathenau konnte man in allen Gassen den Schimpfreim hören: „Stecht ab den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau! “ Dies war der Beginn der „goldenen” zwanziger Jahre Deutschlands.
Die vielbesungene Ära Stresemanns war eine Restauration der Kaiserzeit ohne Wilhelm und die Garde, – aber mit Hindenburg. Es gelang Stresemann die Beendigung des Ruhrkampfes, der selber wieder ein Beispiel für die kindische Trotzpolitik der damals regierenden rechtsbürgerlichen Schichten war (Kabinett Cuno). Es gelang ihm auch, Deutschland mit dem Westen auszusöhnen. Aber wie weit Stresernann sich von den alldeutschen Idealen seiner Vorkriegs- und Kriegszeit entfernt hatte, bleibt zweifelhaft. Besonders weil seine Ostpolitik gegen ihn spricht. Diese Politik, — antipolnisch und irredentistisch — war genau so hohl und überheblich wie die kaiserliche Politik bis 1917/18. Polen war ein „Saisonstaat”, die Polen haben noch „nie staatsbildende Kraft” gehabt, — also möglichst wenig Beziehungen mit Polen. Nicht einmal ein Handelsvertrag kam zustande.

Das Ende mit Hitler

Am Ende der zwanziger Jahre steht der Aufstieg Hitlers. Die NSDAP wird 1930 zur größten Partei im Reichstag. Mehr und mehr Anhänger strömen ihm nach diesem Wahlerfolg zu. Fast das ganze nichtsozialistische Deutschland (allen voran die Akademiker) unterwirft sich seinem „Retter” und „Führer”, dem längst ersehnten starken Mann, dem Ersatz für den Monarchen. Hätte es bei den tonangebenden bürgerlichen Schichten Deutschlands, die so stolz auf ihre tiefinnerliche Kultur waren, nur etwas Verständnis für geistige und politische Werte gegeben, so hätte ein Mann wie Hitler mit seinen Reden und Schriften, seiner Stimme und seinen Gebärden, aber auch mit seinen Helfern und Helfershelfern niemals als Repräsentant Deutschlands in Frage kommen können. Aber dieser Sinn fehlte eben. Dafür gab es die Instinkte der nationalistischen Bürger, die sich seit 1918 „erniedrigt und beleidigt” fühlten, deren ganzer Haß den Lückenbüßern von 1918/1919 galt, und die erneut die nationalistischen Wunschträume ewiger Spätentwickler hegten.

An die Stelle der „Schwarzseher, die (nach Wilhelm II) den Staub von ihren Pantoffeln schütteln” sollten, treten die Nörgler und Meckerer des Dr. Goebbels. An die Stelle des „kaiserlichen Willens als oberstes Gesetz” tritt die Formel, daß der „Führer immer recht” hat. Aus dem „Not kennt kein Gebot” entsteht das Wort, daß „Recht das ist, was dem deutschen Volke nützt”. Hatte man im Kaiserreich mit dem Säbel gerasselt, internationale Verträge als „Fetzen Papier” bezeichnet und war man schließlich in den Krieg gestolpert, so betrieb Hitler eine Politik, die planmäßig nur List, Betrug, Gewaltandrohung und kriegerischen Überfall als Mittel verwendete.
Trotz aller Furcht Hitlers vor dem Zweifrontenkrieg wird der erste Weltkrieg zum Modell für den zweiten. Es wiederholt sich die strategische Situation, wo der kleine Fleck in der Mitte Europas den ganzen Erdteil und noch vieles mehr erobern will. Es wiederholen sich im schauerlichen Ausmaß die vorzeitigen und überheblichen Siegesparolen. Hatte der Kaiser im August 1914 gesagt: „Und nun wollen wir sie dreschen”, so sprach man ab 1939 vom „Ausradieren”. Es wiederholt sich die unkritische Überschätzung der Anfangserfolge und die Unterschätzung der gegnerischen Kräfte, besonders der psychischen Widerstandsfähigkeit der Engländer, aber auch der verachteten Russen. Neu — vor allem im Ausmaß — sind die Greuel in den besetzten Gebieten. Die bei Wilhelm II zutage tretende Verachtung des Slawentums wiederholt sich in den grausigen Vernichtungsaktionen gegen die polnische Intelligenz und in den zahllosen Maßnahmen zur Verelendung und Vernichtung aller slawischen Völker Europas.
Schließlich wird auch fürchterlichster Ernst mit der Phrase „Sieg oder Untergang” gemacht. Alle  — die jüngsten wie die ältesten Jahrgänge — werden als letzte Reserven in den totalen Krieg geworfen. Rücksichtnahme auf die Überlebensmöglichkeiten des deutschen Volkes gibt es nicht. Der „Untergang” wird gewollt, befohlen und organisiert. Mit der Vertrotztheit eines wahnsinnigen Kindes, das seinen Willen nicht durchsetzen kann, beginnt die sinnlose Zerstörung des eigenen Landes. Man spielt „Götterdämmerung”, sprengt Brücken, zerstört alte Gebäude, vernichtet Kulturwerte ohne Zahl, und an den Bäumen hängen die Leichen derer, die dem kommandierten nationalen Selbstmord widerstreben.
Das ist die letzte Station auf dem Weg des deutschen politischen Führers, der die romantisch verstiegenen Werte des deutschen politischen Spätentwicklers ernstnahm und mit „fanatischem Willen” und „nachtwandlerischer Sicherheit” in die Tat umsetzte.

Revolution und Reform

6.
Man war am Nullpunkt angelangt. Sollte — mußte — nun alles von vorn anfangen? Die zweite Katastrophe innerhalb einer Generation hat Deutschland die nationale Einheit gekostet und somit um gut hundert Jahre zurückgeworfen. Kann es einen Sinn haben, das gleiche Problem erneut aufzugreifen, um sich vielleicht im 21. Jahrhundert noch mit einer Frage des 18. und 19. Jahrhunderts zu beschäftigen? Das hieße, Deutschlands politisches Nachzüglertum für es selber wie für Europa unerträglich zu machen.
Kann ein Nachzügler jemals das Versäumte nachholen? Wo es doch sein Problem ist, daß er stets mit unzureichenden Mitteln versuchen muß, die ihm gestellten Aufgaben zu bewältigen, dabei nur zu Teillösungen, Scheinlösungen und zu neuen Konflikten kommt, die ihn wieder zurückwerfen? Welchen Ausweg kann es da geben? Manchmal können Spätentwickler durch einen starken seelischen Anstoß den Wiederholungszwang überwinden, Versäumtes nachholen oder überspringen und auf neuen Wegen den Anschluß an die Umwelt gewinnen.
Für viele Völker brachten eine siegreiche Revolution und ihre Folgen einen solchen seelischen Schock mit sich, daß sie zusammen mit dem Zwang neuer Herrschaftsverhältnisse sich nicht nur äußerlich anpaßten, sondern Vergangenheit und Gegenwart innerlich verarbeiteten. Deutschland mit den gescheiterten Bauernaufständen des 15. und 16. Jahrhunderts, mit den ungewollten Revolutionen von 1848 und 1918 und der ausgebliebenen Umwälzung am Ende des Dritten Reiches ist um eine derartige Schocktherapie gekommen, Daher ist die Antwort auf die Frage entscheidend, ob eine Politik grundlegender und entschiedener Reformen denselben Anstoß geben kann, die politische Vergangenheit zu verarbeiten und ob durch den Druck der aus einer solchen Reformpolitik sich ergebenden politischen und sozialen Veränderungen eine Verinnerlichung neuer Wertvorstellungen erreicht werden kann.
Nach 25 Jahren Bundesrepublik läßt sich diese Frage noch nicht endgültig beantworten, obwohl Grund zum Pessimismus besteht, In den ersten zwanzig Jahren nämlich hat die deutsche Politik keine neuen Bahnen beschritten, und in den letzten fünf Jahren ist eine gründliche Reformpolitik überhaupt nicht gestartet worden.

Dasselbe noch einmal

Als Produkt des „kalten Krieges” übernahm die Bundesrepublik von vornherein die Ideologie der unversöhnlichen Gegnerschaft zwischen den freien Staaten des Westens und den kommunistischen Diktaturen. Das hat zwanzig Jahre hindurch eine realistische Außenpolitik verhindert und dazu geführt, daß ähnlich wie in anderen Perioden Konstruktionen und Illusionen an die Stelle von Wirklichkeitserkenntnis traten. Man glaubte, nur aus „Positionen der Stärke” mit dem Osten verhandeln zu können und lehnte daher andere Wege ab. Man glaubte, daß Positionen der Stärke auf dem Wege der Rüstung erreicht werden können. Ganz irreal war die Bagatellisierung von Atomwaffen als „verbesserte Artillerie”. Man proklamierte das Alleinvertretungsrecht der Bundesrepublik und bestritt der DDR die völkerrechtliche Existenz. Man berief sich auf ein neuentdecktes „Recht auf die Heimat” und blockierte damit die Anerkennung der polnischen Westgrenze, und man berief sich auf das „Selbstbestimmungsrecht der Deutschen” als Mittel zur Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit.
Die ganze Politik stand unter dem Motto „Wieder”: Wiederaufbau der Städte, der Häuser, der Wirtschaft, — Wiedergewinnung der Souveränität und: — Wiederaufrüstung. Dahinter stand der kategorische Imperativ der offiziellen Politik, stets so zu handeln, daß damit die Wiedervereinigung gefördert werden könne.
Innenpolitisch ging man von derselben antikommunistischen Ideologie aus. Planwirtschaft wurde verteufelt, selbst die Sozialdemokraten wollten sie nur aushilfsweise, „soweit als nötig”, anerkennen. Auch wenn die Demokratie dabei leiden könnte, wollte man alle Mittel zur Stärkung des Staates gegen die Gefahren des Kommunismus einsetzen. Dementsprechend verhielten sich Verwaltung, Justiz und — bis 1967 — fünf Parlamente. Die Beamten konnten nicht stets mit dem Grundgesetz unter dem Arm (CSU-Innenminister Höcherl) herumgehen, und man beschloß mit Zustimmung des größten Teils der SPD Notstandsgesetze zugunsten der Exekutive — eine Vorwegnahme der Weimarer Praxis des Regierens mit dem Ausnahmezustand.
Die Bevölkerung war ganz mit dem Wiederaufbau beschäftigt, war für Ordnung, „Ärmel aufkrempeln”, Besserung des Lebensstandards und wünschte, möglichst wenig durch Politik gestört zu werden. Das war begreiflich, schloß aber gründliche Reformierung des Bestehenden aus — ebenfalls alle Ansätze, neue Verhaltensformen und Wertungsweisen zu erlernen.
So ist nicht verwunderlich, wenn das Alte allmählich wieder deutlich hervortrat. Unterschwellig meldete sich Nationalismus. Als Rußland den ersten Satelliten ins Weltall schickte, kommentierte man in bekannter Unterschätzung des Slawentums, die Russen hätten sich natürlich „unserer nach dem Krieg verschleppten Wissenschaftler” bedient. Stolz und Selbstmitleid sprechen aus dem wiederholt vorgebrachten Satz, die Bundesrepublik sei wirtschaftlich ein Riese, politisch ein Zwerg. Der Kummer, daß es auch heute nicht zum Griff nach der Weltmacht reicht, führt zu dauernden Bemühungen, irgendwie über Atomwaffen mitverfügen zu können, — denn ohne das wird ein Staat heute nicht mehr für voll genommen. (Man sehe sich nur einmal die Agitation gegen die Ratifizierung des Atomwaffensperrvertrages an!)
Der traditionelle Intellektuellenhaß ist ebenfalls lebendig geblieben. Außenminister Heinrich von Brentano stellte Bert Brecht auf eine Stufe mit dem Verfasser des Horst-Wessel-Liedes. Dann kam Ludwig Erhard, der intellektuelle Nonkonformisten „Pinscher” nannte. Heute ist man „das intellektuelle Geschwätz von Herrn Merseburger” leid! Sprach man früher von „subversiven Elementen”, dann wird heute „unterwandert”. Verlangt man differenzierte Urteile und Stellungnahmen, vor allem auch in Bezug auf den Osten und den Kommunismus, wird man abgelehnt; ähnlich wie unter Wilhelm II oder bei Goebbels empfiehlt man solchen unbequemen Leuten, nach „Pankow” oder sonstwo in den Osten zu gehen. Das abschätzige Wort vom Parteienstaat ist wieder in Gebrauch, und man hat sich auch den „inneren Feind” der wilhelminischen Zeit in Form des „Verfassungsfeindes” wieder aufgebaut. Zwanzig Jahre Bundesrepublik waren der Wiederherstellung des Gewesenen gewidmet, und so tragen die Bundesrepublik und ihre Politik eben auch entscheidende Züge vergangener politischer Epochen. Von Neu-Beginnen war selten die Rede; Milieu und Klima waren dafür denkbar ungeeignet.

Die SPD

Von 1949 bis 1967 war die Sozialdemokratie in der Opposition. Nach anfänglichen Versuchen, der Adenauerschen Politik des „Paktierens mit den Westmächten” eine nationale Einigungspolitik entgegenzusetzen, verfielen die führenden Kreise der SPD einem schein-realistischen Pragmatismus. Sie stellten sich so dar, als ob sie die Ziele der Regierung ebenfalls anstrebten, sie aber besser verwirklichen würden. Mit dieser „Umarmungsstrategie” wollte man regierungsfähig werden und den Wählern die Angst vor dem Wechsel nehmen.
Im Ergebnis war diese Strategie eine schwere Belastung. Statt daß man sich deutlich von dem krassen und oberflächlichen Erfolgsdenken, dem schematischen Antikommunismus, der sterilen Regierungspolitik, der Wiederherstellung des Gewesenen abhob, stellte man sich als eine bessere CDU dar. Kein Wunder, wenn man später unter diesem Gesichts- punkt beurteilt wurde. Daß man überhaupt in den Jahren von 1969 bis nach den Wahlen von 1972 die Hoffnung hatte, ein Regierungswechsel würde zu einem geänderten politischen Stil, zur Einübung neuer Verhaltensweisen im Zusammenleben führen, lag nur daran, daß in den Jahren von 1967 bis 1969 Willy Brandt ein großes Vertrauen erwarb, so daß die sozial-liberale Koalition 1969 ans Ruder kommen und beweisen konnte, daß es mit dem außenpolitischen Immobilismus vorbei war. Bei den Wahlen von 1972 bestätigten das erstemal in der deutschen Geschichte die Wähler in einer beträchtlichen Mehrheit den Wunsch nach einer Politik von Frieden und Verständigung nach außen, auch wenn dies Opfer kosten würde, und nach einer Beendigung des innenpolitischen Immobilismus durch eine Politik der „inneren Reformen”!

Reformwille und Tenden­z­wende

Der Wille nach Reformen wurde enttäuscht. Stattdessen spricht man seit dem Frühjahr 1974 von einer Tendenzwende, d h einer Stimmung, deren politische Konsequenz die Wiederherstellung einer rückwärts gewandten CDU-Regierung sein würde. Die Gründe sind nicht an der Oberfläche zu suchen, etwa an der Guilleaume-Angelegenheit, an Brandts angeblicher Führungsschwäche oder an Schmidts allzu engem Pragmatismus.
Der Zeitpunkt, an dem die Tendenzwende begann, ist genau zu fixieren. Es ist der Tag der Regierungserklärung Brandts nach den siegreichen Wahlen von 1972!
Wer unter dem Motto von „Mehr Demokratie” und „Inneren Reformen” die Wahlen gewinnt, dann aber ohne Not (parlamentarisch gesehen) der Opposition, die einen ganz gemeinen Verleumdungsfeldzug geführt hatte, eine Politik der Gemeinsamkeit anbietet, zeigt damit, daß er sich über die Bedingungen einer entschiedenen Reformpolitik nicht klar ist. Darüber hinaus wird in Deutschland eine Politik der Milde und Befriedung stets als Schwäche angesehen. Die Rechtsparteien können traditionell nicht anders, denn sie selber haben stets rücksichtslos ihre Macht gebraucht.
Brandts Irrtum war, daß er meinte, er könne wichtige Reformen des Zusammenlebens mit den Mitteln einer Politik des Konsensus erreichen. Nach seiner Meinung sollte durch rationale Auseinandersetzungen, dem „großen Gespräch der Gesellschaft”, die Basis und Vorbereitung entscheidender Reformen geschaffen werden. Auch sollten größere Veränderungen nur durch „breite Mehrheiten” beschlossen werden, d h die Zustimmung „möglichst großer Teile” der Bevölkerung erhalten. Dieser irrtümliche Ansatz geht auf eine Verkennung des Wesens der Politik selber zurück.
Alle Politik enthält ein unverlierbares Element der Zwietracht. Worüber man sich einig ist, ist nicht — oder nicht mehr — Gegenstand der Politik.
Eine politische Frage ist nur eine solche, die auf mehrere, oft einander ausschließende Weisen beantwortet werden kann und wird. Infolgedessen kann man keine Politik führen, ohne Schmerz zu bereiten und Interessen — geistige und seelische wie materielle — zu verletzen. In größtem Ausmaß gilt dies für eine Politik, die sich bemüht, das gesamte gesellschaftliche Zusammenleben mit neuen Formen zu durchdringen und dadurch zu reformieren, daß die Geltung neuer Leitbilder durchgesetzt wird. Änderungen werden meist von der Mehrheit der Betroffenen abgelehnt. Ein vorpolitischer Konservatismus, Gewohnheit, Bequemlichkeit und Angst treiben dazu, lieber mit bekannten Übelständen weiter zu leben, als sich auf „Experimente” einzulassen. Änderungen bedrohen meistens auch ganz handfeste Interessen. Daher ist es irreal, zu erwarten, daß die Verängstigten und Bedrohten offen für rationale Argumente sein werden. Selbst wenn man das große Gespräch der Gesellschaft in Gang bringen würde, könnte man sich nur über Allgemeinplätze wie Allgemeinwohl, Recht und Gerechtigkeit, Stabilität und Ordnung einigen, nicht aber auf konkrete Inhalte.
So wird der Reformator in einer Demokratie stets zufrieden sein müssen, wenn er eine auch nur schmale Mehrheit für seine Pläne erhält, — dies ganz bestimmt bei einem Verhältniswahlrecht, das den Akzent auf Gerechtigkeit und nicht auf das Zustandekommen großer Mehrheiten legt. Reformpolitik und Konsensuspolitik schließen einander aus. Die Konzeption einer Reformpolitik ohne Tränen, ohne Verletzte, Gekränkte und Geschädigte ist ein Unding. Jeder derartige Versuch muß scheitern.

Die Wurzeln des Irrtums

Daß der Versuch gemacht wurde, verrät eine anständige Gesinnung, — zeigt aber auch die Befangenheit in traditionellen Vorstellungen. In Deutschland ist Einigkeit hoch geschätzt. Wenn alle „brüderlich zusammenstehen”, ist das nationale Ziel erreicht. Streit ist von Übel, denn Streit führt zu Gewalt und Willkür. Daher schätzt man eine starke Ord- nungsmacht, unter der man sich geborgen fühlen kann. Dies ist symptomatisch für die politische Spätentwicklung in Deutschland. Die Zeiten der Willkür und des permanenten Unfriedens lagen sowohl in Frankreich wie in England mehrere Jahrhunderte zurück, als in beiden Ländern durch Revolutionen der Übergang zur modernen Zeit erfolgte. Der Dreißigjährige Krieg und seine entsetzlichen Verwüstungen waren jedoch nur etwas mehr als ein Jahrhundert vorbei, als die ersten Strömungen zugunsten eines freien und einigen Deutschland merkbar wurden. Für unsere Klassiker vor allem war die Erinnerung an diese Zeit nur allzu wach. So ist unsere Literatur voller Zeugnisse für die Bevorzugung von Einigkeit und Ordnung. Goethe wollte lieber eine Ungerechtigkeit dulden als Unordnung. Schiller spricht von der „heiligen” Ordnung und von dem langen, dem „verderblichen” Streit. In Gerhart Hauptmanns „Florian Geyer” verbündet sich der Ritter mit den Bauern durch den Spruch: „Der deutschen Zwietracht mitten ins Herz!”
Die kollektiven Erinnerungen an das Fürchterliche des Unfriedens, der Willkür zahlreicher einander bekämpfender Gewaltausüber leben so bis heute fort. Daß der „Kampf der Vater aller Dinge” ist, wird gelegentlich gelehrt, aber daß der Streit um Werte und Formen des Zusammenlebens eben auch produktiv ist, daß Parteien ein entscheidender Gewinn für ein mündiges Gemeinwesen sind, daß Streit durch geistige Auseinandersetzung und anzuerkennende Mehrheitsentscheidungen beendet werden kann (anstatt durch gewaltsame Unterwerfung) — das ist noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen.
Daher ist es auch nicht zur Ausbildung einer radikalen Tradition gekommen. Es werden nicht Persönlichkeiten verehrt, die unerschrocken und unbeugsam eine Idee durch gute wie schlechte Zeiten vertraten, sondern solche des Ausgleichs, der Mäßigung und der nationalen Einigkeit. Nicht Hecker wird erinnert, sondern bestenfalls Uhland oder Simson. Nicht Helmut von Gerlachs Kämpfertum gilt als Vorbild, sondern Friedrich Naumann mit seinem sozialen Volkskaisertum, diesem Versuch der Verschmelzung des Gegensätzlichen. Verfolgt vom Trauma, daß Uneinigkeit zum Chaos führt, flüchtet man sich schon bei geringen Krisen in Ideen von Allparteien-Regierungen und anderen Formen des Burgfriedens.
Man muß daher die Enttäuschung über das Scheitern innerer Reformen als eine naheliegende Konsequenz der verzögerten politischen Entwicklung Deutschlands deuten. Die Politik der sozialliberalen Koalition war in dieser Hinsicht eine aus überlieferten irrigen Vorstellungen erwachsene Bemühung, das Unvereinbare zu erreichen, ja gewissermaßen eine unpolitische Politik zu versuchen, die das Element der Zwietracht aus der Politik entfernen und den unpolitischen Wert der Eintracht entscheidend machen wollte.

Wider den Wieder­ho­lungs­zwang des Spätent­wick­lers

7.
Der Volksmund beschäftigte sich schon vor langer Zeit mit zwei großen Denkmalsfiguren vor dem Schloß in Berlin. Je ein Rossebändiger hielt ein sich wild bäumendes Pferd am Zügel. Man nannte die Gruppen den „gebändigten Rückschritt” und den „gezügelten Fortschritt”. Das ist genau das, was der unpolitische Bürger — vom Manager bis zum Fachmann — sich wünscht. Niemand soll übertreiben: die Reaktion muß sich beschränken und die Reformer sollen die Kirche im Dorf lassen. Die „neue Mitte” erscheint mir symbolisch in der Figur Willy Brandts, der mit der rechten Hand den Rückschritt bändigt, während er mit der linken den Fortschritt zügelt. Es ist ein Bild der Kraft und dramatischen Bewegungen. Nur— man kommt dabei weder rückwärts noch vorwärts! Ein derartiger Gleichgewichtsakt kann auch keinen psychischen Anstoß
dazu geben, neue Wege zu beschreiten, Unerprobtes zu wagen, Fachleuten politisch zu widersprechen. So wird man nicht die in allen Kräften und fast allen Menschen wirkenden Tendenzen überwinden, die nach Ruhe und Ordnung rufen, nur bewährten Kräften ihr Vertrauen schenken wollen und sich auf gute alte Rezepte verlassen.
Nur wenn sich eine Mehrheit für eine kämpferische Reform findet, die bewußt auch eine Periode von Uneinigkeit, von Disharmonie in Kauf nimmt, die mit Konflikten leben kann und bereit ist, mit ihnen zu leben, nur dann wird eine seelische Reifung eintreten, die die Deutschen in der Bundesrepublik befähigt, auf einem Abkürzungsweg zur Bewältigung zukünftiger Aufgaben zu kommen.
Wer einsieht, daß alles Unheil, alle Fehlschläge und Fehlgriffe letztlich von der unkritisch und meist sogar unbewußt übernommenen Einstellung zur Welt und zu sich selber herrühren, der muß dafür sorgen, daß der traditionellen Geschichtsdarstellung eine Deutung der jüngsten Vergangenheit entgegengestellt wird, die dazu zwingt, sich kritisch mit sich selbst zu beschäftigen. Nur aus Einsicht und Selbsterkenntnis erwächst die Kraft, die starren Wiederholungszwänge des Spätentwicklers zu überwinden.
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… Wenn ich resümieren soll: ich wünsche Ihnen guten Erfolg, aber daran zu glauben, vermag ich nicht. Ich bin leider überzeugt, daß für den republikanischen Demokraten, wie Sie ihn proklamieren, das den Festgesessenen so suspekte Nomadenzelt die einzige Behausung sein wird, jetzt und in Zukunft. Das ist ohne Spott gesagt; ich würde ja die eigne Vergangenheit schlagen, würde ich über Ihren jetzt von allen Opportunismen endlich freigewordenen Willen scherzen. Mag Herr Erich Koch in seinem Wochenendhaus das Hecker-Lied singen – grade in den Kämpfen dieser Epoche, wo die Parteien so schön satt und kugelrund dasitzen, ist ein Stamm von Nomaden notwendig, von Unseßhaften und Beweglichen – Eilboten der ldee. Sie sind friedlos und nirgends gern gesehen, sie streifen suchend durch die Nacht. Der Schein ihrer Feuer zeigt an, daß nicht alles schläft.

Carl v. Ossietzky in einem Artikel der Weltbühne vom 19. Juni 1928, der als  Offener Brief an Theodor Wolff geschrieben ist, welcher damals, nach einer  errneuten demokratischen Wahlniederlage, zur Gründung einer „großen  republikanischen Partei” aufgefordert hatte.

Anmerkung zu Namen und Begriffen:
Theodor Wolff (1868—1943): Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei 1919, Chefredakteur des „Berliner Tageblattes” 1906—1932,1943 im KZ ermordet.
Deutsche Demokratische Partei (DDP): 1918 von Friedrich Naumann gegründete liberale Partei, die mit den Sozialdemokraten die parlamentarische Republik aufbauen und verteidigen wollte. Nach 1919 (75 Sitze in der Nationalversammlung) verlor sie immer mehr an politischem Einfluß — vor allem gegen die nationalliberale DVP — und hatte 1933 nur noch 5 Mandate (ua: Theodor Heuss); 1933 löste sie sich selber auf.
Erich Koch (1875—1948): 1919 Reichsinnenminister, zeitweise Führer der DDP. — Er hatte in einem Artikel geschrieben: „. .. schließlich kann man doch eine Partei nicht gründen, um Gelegenheit zu haben, aus ihr auszutreten. Lieber als das Nomadenzelt des unsteten Wanderers ist mir schließlich doch noch das weekendhaus.”
Friedrich Hecker (1811—1881): revolutionärer deutscher Politiker; führte 1848 den mißglückten badischen Aufstand. Emigration nach den USA.
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