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Kirche und Klassen­kampf

aus: vorgänge Nr. 16 (Heft 4/1975), S. 66-74

Klassen­kampf – ein in Staat und Kirche verdrängtes Thema

Die Begriffe Klasse und Klassenkampf [1] werden in der gegenwärtigen politischen wie theologischen Diskussion der BRD – und nur auf diese wollen wir uns hier beziehen – möglichst umgangen, gemieden oder nur in Form negativer Bezugnahme auf eine verwerfliche Vokabel oder ein Theorem des Gegners, der dann apriori linksradikal sein muß, erwähnt. Die Hessischen Rahmenrichtlinien z.B. werden damit verteufelt, daß sie das Thema Klassenkampf auch in den Schulen einführen wollten, in der SPD spricht man lieber von Reformen und Langzeitprogrammen, in der „hohen Theologie” möglichst gar nicht und in kirchenamtlichen Verlautbarungen nur im Stil von Horrorgeschichten von diesem Thema.
Affirmativ von Klassenkampf reden daher nur die Mitglieder marxistischer Gruppen, welche hierzu nicht nur ein historisches und theoretisches Recht, sondern durch Berufsverbote auch gegenwärtige Veranlassung haben.
Die Verdrängung oder das Totschweigen des Klassenkampfgedankens und die Diffamierung seines Gebrauchs als „rote Semantik” bilden eine subtile Form der gegenwärtigen ideologischen Fortsetzung des Klassenkampfes. Indem das harmonistische Gesellschaftsideal der bürgerlichen Demokratie dabei nahtlos mit einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung verwoben wird, kann, wer letztere abschaffen will, als Feind der Demokratie denunziert und damit als staatsgefährdender Unruhestifter belangt werden [2]. Ohne eine Entlarvung der herrschaftsstabilisierenden Funktionen der gegenwärtigen reaktionären Indoktrination in Politik, Hochschulen, Medien kann die klassenkämpferische Absicht und Auswirkung dieser euphemistisch als „Tendenzwende” bezeichneten Kampagne weder analytisch identifiziert noch erfolgreich bekämpft werden.

Kirchliche Fehlein­schät­zungen des Klassen­kampfes

Die Einwände des konservativen Christentums und seiner Theologie gegen ein sozialistisches Engagement des Christen erweisen sich zum großen Teil als Variationen der einen Grundauffassung, daß die Klassenkampfvorstellung und das universelle Liebesgebot als Kern christlicher Botschaft absolut miteinander unvereinbar seien. Die Praxis der Liebe Jesu (auch in seinem Zorn) wird dabei ebenso unbeachtet gelassen wie eine exakte Begriffsbestimmung und Bedeutungsanalyse von Liebe im Neuen Testament; „Liebe” im Sinne des traditionellen und kirchenamtlichen Verständnisses ist ein Wohlwollen, das „alle”, besonders aber die den andern angetanen Lieblosigkeiten versteht, verzeiht und — ausgenommen eigene Interessen werden tangiert — in verbaler Harmonie aufhebt. Der Gegensatz Klassenkampf — christliches Liebesgebot wird dabei zum Gegensatz von Haß und Liebe, Sünde und Gnade überhaupt zugespitzt und verfälscht. Die Diskussion über den Klassenkampf ist zusätzlich belastet durch die Gleichsetzung von Klassenkampf und politischer Gewaltanwendung, so daß der Christ nicht ohne einen Verstoß gegen das Gebot universeller Versöhnung und Brüderlichkeit am Klassenkampf als — wie man behauptet: gewaltsamer — Beseitigung der bestehenden Ungerechtigkeiten teilnehmen kann.
Mit diesen beiden Fehleinschätzungen des Klassenkampfes verbindet sich die These, daß es selbst dann, wenn es zugegebenermaßen in der Gesellschaft Konflikte gibt, die den Charakter des Klassenkampfes haben, trotzdem für die Kirche eine Ausnahmesituation gibt, wobei die Kirche als Ort der gelungenen Antizipation der Überwindung von Klassenstandpunkten ausgegeben wird. Diese Auffassung lebt nicht nur von der Unterstellung, daß die Kirche sich über die gesellschaftliche Realität, zu der sie gehört, so selbständig erheben kann, daß sie am (als vermeid-bar unterstellten) Klassenkampf nicht teilnimmt, sondern verbietet außerdem, von Klassenkampf innerhalb der Kirche zu reden, ungeachtet der in ihr selber praktizierten Formen von Klassenjustiz [3].
Die referierten Einschätzungen des Klassenkampfes und seines Verhältnisses zum Christentum interpretieren den Klassenkampf eindeutig als moralische Größe, ohne dabei im geringsten die zentrale Bedeutung der strukturellen Gewalt für eine Neuinterpretation der Einschätzung von Gewalt in Moral und Ethik zur Kenntnis zu nehmen. Daher ist es klar, daß der paradigmatische Widerspruch zwischen Christentum und Klassenkampf als der zweier sich widersprechender moralischer Haltungen aufgefaßt wird. Im christlichen Milieu kann daher die Vorstellung erzeugt werden, als ob es sich beim Klassenkampf um ein durch persönliche Entscheidung gewähltes Mittel der Politik wie Tarifverhandlungen, Streiks handle, das aber wegen seines gewaltmäßigen Charakters abzulehnen sei [4].

Der Klassen­kampf als struk­tu­relle Größe

Für den Sozialisten stellt sich das Problem des Klassenkampfes von vornherein auf einer völlig anderen Ebene. Der Klassenkampf bezieht sich auf Sachverhalte, die dem Willen und der Entscheidung der einzelnen Subjekte als davon unabhängige Strukturen vorausliegen. Insoweit die Begriffe Klasse und Klassenkampf analytisch-theoretisches Instrumentarium zur Beschreibung und Erklärung gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse sind, wird man daher zunächst nach ihrer Leistungsfähigkeit bei der Systemanalyse und nicht nach ihren emotionalen Konnotationen fragen müssen. Im Unterschied dazu ist jedoch die praktische Orientierungskraft und politische Relevanz dieser Begriffe von ihrem Erkenntniswert nicht zu trennen.
Gibt es in der Gesellschaft der BRD unbestreitbar eine gesellschaftliche Arbeitsteilung [5], dann gibt es auch eine Aufteilung der Gesellschaft in Klassen, insofern aus der Arbeitsteilung auch eine Aufteilung der Verfügungsgewalt über den gesellschaftlich produzierten Überschuß und damit eine Polarisierung zwischen Kapital und Lohnarbeit resultiert. Die Aufteilung der Gesellschaft in Klassen bedeutet jedoch nicht nur das Entstehen einer Klassenstruktur, sondern auch einer Klassenherrschaft, deren Antagonismen in Form des Klassenkampfes ausgetragen werden, da jede Klasse bestrebt ist, die Gesellschaft in der Weise zu organisieren, daß sie selber die führende Rolle bei der Verteilung des gesellschaftlich erarbeiteten Uberschusses einnimmt. Kapitalistische Klassenherrschaft ist dabei begründet in der Trennung der unmittelbaren Produzenten von der Verfügung über ihre Produktionsmittel. Zudem entscheidet der Lohnarbeiter weder über die Aneignung und Verteilung des produzierten Mehrwertes, noch über das, was produziert wird, noch über die Arbeitsbedingungen, unter denen produziert wird. Über diesen Tatbestand können auch sogenannte sozialstaatliche Einrichtungen und die Partnerschaftsideologie nicht hinwegtäuschen.
Da es sich beim Klassenkampf um einen grundlegenden Sachverhalt der Gesellschaftsstruktur überhaupt handelt, ist der Klassenkampf auch auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenwärtig: auf der ökonomischen, auf der politischen, auf der ideologischen Ebene. Er äußert sich jedoch auf diesen verschiedenen Ebenen in unterschiedlicher Form, so daß er für die politisch handelnden Subjekte nicht immer klar identifizierbar ist. Dies wird von den Agenten des Spätkapitalismus besonders auf der Ebene der kulturellen Apparate ausgenutzt, um über gesteuerte Informationspolitik, soziale Kommunikation, zentrale Bildungseinrichtungen usw Klassengegensätze zu verschleiern und den Gegner zu paralysieren oder notfalls zu kriminalisieren.

Theologie und Kirche nicht jenseits des Klassen­kampfes

Ist der Klassenkampf ein unvermeidbares strukturelles Datum, das nicht durch einen bloßen Willensakt der Individuen, durch persönliche Liebesanstrengung oder kirchliche Lehrentscheidung aus der Welt geschafft werden kann, dann ist es nur noch eine S c h e i n f r a g e, ob man am Klassenkampf teilnehmen darf oder nicht. Man nimmt immer schon teil, ob man will oder nicht, was in gleicher Weise für die Individuen wie die Institutionen, für die Theologie wie für die Kirche gilt. Wer etwa die Tauglichkeit der Klassenanalyse bestreitet, indem er sich auf die Behauptung der wissenschaftlichen Unzulänglichkeit des Klassenbegriffes zurückzieht, handelt praktisch nicht nur so, daß er sich der Konsequenz entzieht, durch Leugnung der Existenz von Klassen und des Klassenkampfes seinen eigenen Standpunkt explizit angeben zu müssen, sondern liefert ungewollt einen Beitrag zum Klassenkampf, indem er von der Fiktion gesellschaftlicher Unabhängigkeit wissenschaftlichen Problematisierens ausgeht. Praktisch sind daher Theologie und Kirche immer auf einer Seite des Klassenkampfes, auch wenn sie oft – vielleicht sogar aus Überzeugung – sich darum bemühen, auf allen Seiten zu wirken oder sogar über allen Gegensätzen zu sein.
Ist der Klassenkampf eine strukturelle Gegebenheit spätkapitalistischer Gesellschaften, dann ist für das einzelne Subjekt wie für die Institutionen die Entscheidungsfrage in einer doppelten Weise gestellt: a) auf welcher Seite man am Klassenkampf teilnehmen will; b) ob man aktiv oder reaktiv, in bewußter Veränderungsabsicht oder als regressives Moment teilzunehmen gedenkt.

Wo steht der Christ?

Ist die Teilnahme am Klassenkampf auch dem Christen strukturell auf gezwungen, dann muß gefragt werden, auf welcher Seite der Christ stehen sollte, wenn er der Sache Jesu gerecht werden will. Nun kann weder eine politische Option direkt aus der neutestamentlichen Jesus-Tradition als Legitimationsbasis abgeleitet werden, noch dürfen Funktionen politischer Relevanz dieser Tradition auf eine bloße Motivationshilfe für politische Entscheidungen reduziert werden. Trotzdem ist damit nicht eine Äquidistanz der Sache Jesu zu allen politischen Programmen und gesellschaftlichen Klassen behauptet, denn sowohl das Verhalten Jesu wie auch die Inhalte seiner Botschaft lassen Prioritäten erkennen, die bei der politischen Entscheidung des Christen nicht übersehen werden dürfen. Um Mißverständnisse zu vermeiden, seien einige dieser Inhalte der Botschaft Jesu andeutungsweise genannt [6]:

a) Gott will Frieden und Gerechtigkeit für alle. Er lädt durch die Verkündigung Jesu dazu ein, in diesen allgemeinen Heilswillen einzuwilligen und aus ihm heraus zu handeln.
b) Gleichzeitig steht Gott aber gerade deswegen zunächst auf seiten der jeweiligen Opfer der Geschichte und der gesellschaftlichen Verhältnisse, dh er ist zuerst und vor allem ein Gott der Armen, der Rechtlosen, der Ohnmächtigen. Soll er auch ein Gott der Reichen, der Privilegierten, der Mächtigen werden, dann müssen diese in einer radikalen Umkehr zuerst den Erstgenannten gleich werden, das heißt: sie müssen von sich aus etwas für die Aufhebung der Klassengegensätze tun.
c) Weil Gott will, daß alle individuellen wie strukturellen Ungerechtigkeiten und Herrschaftsverhältnisse beseitigt werden, tendiert das Verhalten Jesu immer auf Überwindung der Gegensätze, wobei allerdings sein eigenes Verhalten gerade parteilich und nicht neutral ist. Er tut nicht so, als ob alle schon eins wären, sondern handelt so, daß alle eins werden können: Er baut soziale und religiöse Widersprüche ab, artikuliert unterdrückte Bedürfnisse, befreit von unbegriffenen Ängsten und falschen Göttern, praktiziert offene Solidarität mit den Ausgestoßenen und entwickelt so insgesamt risikofreudige Alternativen zum Status quo, wohlwissend, daß er damit nicht unmittelbar den ewigen Frieden, sondern nur neue Konflikte mit den Machthabern schafft.

Notwen­dig­keit politischer Parteinahme

Soll die damit in der Botschaft Jesu eindeutig ausgesagte Parteinahme für die Entrechteten, Unterdrückten und Ausgebeuteten nicht nur die schmerzliche Anwandlung eines frommen Gemütes bleiben, das sich höchstens zu moralischen Appellen an die Herrschenden aufschwingt oder für die Ausgestoßenen, statt mit den Ausgestoßenen betet, dann muß diese Parteinahme auch politisch konkrete Züge annehmen. Es genügt nicht bloß die „gute Meinung”, im Klassenkampf auf der Seite der Unterdrückten stehen zu wollen, wenn sowohl politische Effizienz als auch eine wirkliche Neuinterpretation des Glaubens durch dezidiertes Einnehmen des eigenen Klassenstandpunktes gelingen soll; denn nur im Kampf um seine Befreiung vermag der Mensch über die Unmittelbarkeit seiner physischen Reproduktion hinaus seine wahrhaft menschliche Berufung zu erkennen. Dies bedeutet in der Gegenwart — berücksichtigt man insbesondere die Entwicklung des internationalen Kapitals — den Eintritt in ein strategisches Bündnis mit der Arbeiterklasse und engagierte Teilnahme an ihrem antiimperialistischen und antimonopolistischen Kampf. Die Entscheidung für den Sozialismus ist nicht zu verwechseln mit moralischer Entrüstung, sondern entspringt der Einsicht in die Notwendigkeit der Veränderung der bürgerlichen Gesellschaft und den ihr zugrundeliegenden ungerechten kapitalistischen Produktionsverhältnissen.

Überpar­tei­lich­keit eine Fiktion

Wer mit Berufung auf den universalen Heilsauftrag der Kirche demgegenüber eine Überparteilichkeit der Kirche reklamieren will, der verzeichnet die Situation in mehrfacher Weise:

a) Auch wenn die Kirche allen das Heil verkünden soll, heißt das nicht, daß sie allen gleich nahe stehen kann, was sie faktisch ja auch nie getan hat. Aus der eschatologischen Differenz zu allen real vorfindlichen politischen Ordnungen folgt weder praktisch noch theoretisch eine politische Neutralität. Es gibt vielmehr ein legitimes Bündnis zwischen einem marxistischen Streben und Kämpfen für eine klassenlose Gesellschaft und der christlichen Hoffnung auf das Reich der Gerechtigkeit und des Friedens, das in Jesus angebrochen ist. Das christliche Wissen um Habgier und Machtbesessenheit des Menschen wird dabei ein revolutionäres Engagement eher kritisch beflügeln als resignativ lähmen.
b) Die Christen, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer umfassenden Imperialismusanalyse eine sozialistische Option gegen Großgrundbesitzer, Generäle und Konzerne getroffen haben, tragen nicht den Klassenkampf in die Kirche hinein, sondern helfen den erniedrigten und geschundenen Mitchristen in aller Welt, ihren Klassenstandpunkt besser zu erkennen, ihre Lebenschancen und Zukunftsaussichten besser einzuschätzen und ihre Ausbeuter klar und deutlich von denen zu trennen, die wirkliche Solidarität praktizieren. Der Verzicht auf die Verdeutlichung der Klassengegensätze verschleiert nur die wahren Abhängigkeitsverhältnisse, erhöht dadurch ihre Unüberwindbarkeit und ist alles andere als Versöhnung.
c) Der Klassenkampf wird immer von oben begonnen, denn niemand will freiwillig ein Ausgebeuteter sein. Diejenigen tragen daher den Klassenkampf in die Kirche hinein, die Menschen ausbeuten und demütigen und sich dabei nicht schämen, Kirchenmitglieder sein zu wollen — nicht diejenigen, die sich gegen diesen doppelten Zynismus zur Wehr setzen. Solange die Kirchenleitungen der BRD nicht glaubhaft einen Interessenzusammenhang zwischen ihrer antisozialistischen Propaganda und den Interessen des Kapitals [7]zu widerlegen vermögen, setzen sie sich dem begründete Verdacht aus, daß sie höchstens eine reiche Kirche für die Armen, aber keine arme Kirche der Armen sein wollen.

Die Rolle der Kirche im Klassenk­mapf der BRD

Es kann nicht übersehen werden, daß die westdeutschen Kirchenleitungen und auch die meisten theologischen Lehrstuhlinhaber eine der hier entwickelten genau entgegengesetzte Option für ihre praktische Teilnahme am sich äußerst differenziert vollziehenden Klassenkampf der BRD getroffen zu haben scheinen. Es soll hier nicht über den allseits bekannten Tatbestand lamentiert werden, daß die Institution Kirche in der BRD über einen so großen Besitz an Grundstücken, Gebäuden und Kapitaleinkünften verfügt, daß sie sicher sowohl alles andere als eine evangeliengemäße Armut praktiziert, als auch einen erklärt antiproletarischen Charakter hat. Es soll auch nicht auf die sonderbare Nichtbeachtung der in immer stärkere Antagonismen treibenden Expansion des internationalen Kapitalismus und Imperialismus seitens der westdeutschen Kirchenleitungen bei der Verteilung reichlich vorhandener kirchlicher Gelder näher eingegangen werden [8]. Hier soll nur kurz auf die Teilnahme kirchlicher Stellen und Instanzen am Klassenkampf — bei gleichzeitiger verbaler Leugnung seiner Existenz — auf der Ebene der kulturellen Apparate aufmerksam gemacht werden.
Während man sich ökonomisch wohlwollend über die freie Marktwirtschaft und die lobenswerte Kreativität der Unternehmer äußert [9], und sich gleichzeitig als in der Mitbestimmungsfrage nach allen Seiten offen gibt, wird die insgesamt nicht mehr zu verheimlichende Nähe zur Politik der CDU/CSU durch eine apriorische Übereinstimmung in wesentlichen Wertvorstellungen erklärt. Andererseits schlägt man jedoch um so deutlichere antisozialistische Töne auf allen „gestimmten und ungestimmten Klavieren” des öffentlichen Lebens an: in Kirchenzeitungen und Ordinariatsdrucksachen, in Sonntagsreden und Leserbriefen an die FAZ, in Rundfunkräten und katholischen Verlagen, in bischöflichen Akademien und Instituten für christliche Sozialwissenschaft, im Kolpingwerk und bei den bischöflichen Hilfswerken Adveniat und Misereor [10].
In offiziellen und offiziösen kirchlichen Dokumenten wird der Eindruck erweckt, daß der traditionelle Katalog der christlichen Tugenden und die Aufrechterhaltung der bestehenden spätkapitalistischen Verhältnisse der BRD weitgehend deckungsgleich seien. Jesu Botschaft von der Versöhnung wird dabei als stumme Unterwerfung unter die etablierten ökonomischen wie hierarchischen Autoritäten mißverstanden.

System­sta­bi­li­sie­rende Tendenzen

Was mit Teilnahme der Kirche am Klassenkampf auf der Ebene der kulturellen Apparate gemeint ist, läßt sich auch schlaglichtartig an einigen zentralen Punkten der thematischen Auseinandersetzung und ihrer milieustabilisierenden Funktion verdeutlichen.

a) Besonders häufig tritt in letzter Zeit die Behauptung auf, daß durch den Sozialismus die Freiheit des Menschen gefährdet sei: in Gestalt von Rahmenrichtlinien, von Fundamentaldemokratie und neuerdings auch von Emanzipation als einem „teuflischen Erziehungsprinzip“ [11]. Die in der kapitalistischen Propaganda des Westens breitgetretene Differenz zwischen formaler Demokratie und sozialistischem Etatismus wird von den Kirchenleitungen bereitwillig aufgegriffen und, um das Stichwort verweigerter Religionsfreiheit ergänzt, in ein abschreckendes Bild vom Sozalismus eingebaut. Dabei wird sowohl die verweigerte Mitbestimmung in der Kirche selber verschwiegen wie auch ungeklärt gelassen, welche Freiheit und wessen Menschenwürde denn konkret gemeint sind: ob es um das Recht auf Mitbestimmung der unmittelbaren Produzenten oder das Recht der alleinigen Entscheidungsgewalt der Unternehmensleitungen, ob es um Freiheit als Selbstverwirklichung oder um eine marktgerechte Konsumentensouveränität geht, um die Investitionsfreiheit des Unternehmens oder die Unfreiheit ausbildungswilliger Jugendlicher bei der Suche eines Arbeitsplatzes.
b) Die Interessengebundenheit der kirchlichen Argumentation wird derzeit besonders deutlich in der Auseinandersetzung um die Schulpolitik, die Rundfunkanstalten und die um Entspannung bemühte Ostpolitik sowohl der früheren Bundesregierung wie des Vatikans. Wird gegen die emanzipatorische Pädagogik und die ihren Ansätzen folgende Bildungsreform noch die These vom gesellschaftlichen Pluralismus als Argumentationshilfe gegen ein oberstes Lernziel bemüht [12], so wird in der Auseinandersetzung um die vatikanische Ostpolitik das Gefälligkeitsdenken der Kirchenleitungen gegenüber den durch die Entspannungspolitik desavouierten C-Parteien direkt als politische Größe greifbar. Aber auch beim Rekurs auf den Pluralismus als Strukturprinzip demokratischer Gesellschaften entlarvt sich die Scheinhaftigkeit der Argumentation von selber. Wird der Gegner pauschal mit Ideologieverdacht belegt und als unwissenschaftlich etikettiert, so scheut man sich selber nicht, die grundsätzliche Zugehörigkeit von Pluralismus und Konflikt, von Interesse und Macht, von Politik und Veränderbarkeit des Gesellschaftssystemszu verschweigen und beleuchtet stattdessen „die Schulen der Nation” im rosigen Licht friedlichen Nebeneinanders, aus dem heraus dann gleichsam naturwüchsig sich langsam der Tüchtige aufgrund größerer Leistung auch bald zum sozial Höhergestellten weiterentwickeln darf.
c) Das auffallende Theoriedefizit des kirchlichen Milieus und seiner Wortführer in dieser Auseinandersetzung mit den „linken Systemveränderern” zeigt sich in eigens dazu aufgelegten Schrif tenreihen [13] durch eine immer wiederkehrende und daher beinahe schon rührend wirkende Zufluchtnahme zu Elaboraten der kulturpolitisch engagierten Professoren Hans Maier, Hermann Lübbe, Helmut Schelsky. Dabei gibt es im kirchlichen Milieu noch nicht einmal ein Bewußtsein davon, daß die Autoren Lübbe und Schelsky in ihren Werken eher eine philosophische bzw. religionssoziologische Schadenfreude über die Rezeptionsbereitschaft eines von ihnen wegen seiner geistigen Unterentwicklung verachteten Milieus an den Tag legen. Das Bündnis funktioniert trotzdem unangefochten als dasjenige von Trägern einer mittelständischen Ordnung und aufgeklärten bürgerlichen Ideologen durch gemeinsame Abwehrhaltung gegen den Klassengegner.

Rückwir­kungen einer strate­gi­schen Allianz auf Christen und Marxisten

Christen, die sich für den Sozialismus engagieren, gehen unter anderem von der Überlegung aus, daß eine strategische Allianz von Christen und Marxisten günstige Rückwirkungen auf Praxis- und Theoriebildung beider Verbündeten haben würde:

a) Durch Eintritt der Christen in den revolutionären Kampf erfolgt nicht nur eine erhebliche Verbreiterung der sozialen Basis für revolutionäre Prozesse, sondern es ergeben sich auch neue Möglichkeiten für einen Aufbau der Kirche von der Basis her. Je mehr das Proletariat zum Subjekt der Politik, desto mehr kann auch das Volk zum wirklichen Träger von Kirche werden.
b) Verbunden mit einer Politisierung des Christen, der es lernt, in seinem Bewußtsein strategisch-politische Probleme und Alternativen mit seiner Glaubensüberzeugung zu vermitteln, ist auch die Chance einer „Eschatologisierung“ des Marxisten, insofern dieser neue Perspektiven sowohl für die Kulturrevolution als auch für die Verknüpfung von ökonomischer und kultureller Entwicklung durch eine enge Zusammenarbeit mit Christen gewinnt.
c) Ergeben sich aus der strategischen Allianz von Christen und Marxisten Notwendigkeit und Möglichkeit einer aus der Praxis heraus entwickelten Theologie, so sind auch auf die marxistische Religionskritik Rückwirkungen in dem Sinne zu erwarten, daß sie lernt, durch Anwendung des historischen Materialismus auf ihre eigenen Grundlagen diese den gewandelten Verhältnissen entsprechend weiterzuentwickeln.

In der BRD ist, im Unterschied zu romanischen (traditionell katholischen) Ländern, der Bewußtseinsbildungsprozeß in Richtung auf ein solches Bündnis nur bei einzelnen Gruppen im Gang. Daß die Amtskirche ihrerseits an einer im Hinblick auf das Christentum positiven Veränderung des Marxismus nicht interessiert ist, weil ein solcher Vorgang notwendig mit einem Veränderungsprozeß aufseiten der Christen und der Kirche, der zur Sache Jesu zurückführen müßte, verknüpft ist, liegt auf der Hand.

Verweise:

1 Man vergleiche Klaus von Beyme, Artikel Klassenkampf,     in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Bd III, Freiburg 1969, 633-669.
2 Man vergleiche die „Gesetze zur inneren Sicherheit”, deren Entwurf zur Verabschiedung vorliegt. Der Text kann den Bundesdrucksachen Nr 7/2854 und 7/2772 entnommen werden.
3 Vgl hierzu KNA-Informationsdienst Nr 22, Seite 7 (29. Mai 1975).
4 Daß Papst Paul VI in seiner Enzyklika Populorum Progressio demgegenüber die Berechtigung zur gewaltmäßigen Entfernung von Gewaltherrschaft anerkannte, wird dabei immer stillschweigend übergangen (vgl Populorum Progressio Nr 31).
5 Es wäre ermüdend, hier sowohl den weiteren marxistischen Theoriekontext zu entfalten, als auch auf die Bedeutung der BRD für den kapitalistischen Imperialismus in Einzelanalysen einzugehen.
6 Vgl H. Kessler, Erlösung als Befreiung, Düsseldorf 1972; ähnliche Überlegungen finden sich in einem noch unveröffentlichten Entwurf von K. Schäfer, Münster 1975.
7 Der Vortrag von Kardinal Döpfner, Ethische Grundsätze einer Wirtschaftsführung aus der Sicht der katholischen Kirche, vom 11. März 1975 kann keinerlei Hoffnungen in der hier angedeuteten Richtung wecken.
8 Es wäre hier näher zu untersuchen, wie und welche Projekte in der Dritten Welt durch die bischöflichen Hilfswerke Adveniat und Misereor gefördert werden. Insbesondere wäre zu überprüfen, welche deutschen Bischöfe Projekte unterstützen, die sich eine Ausrottung der lateinamerikanischen „Theologie der Befreiung” zum Ziel gesetzt haben.
9 Man vergleiche wiederum die Rede von Kardinal Döpfner vor dem Bundesverband der deutschen Industrie.
10 Durch eine besonders unangenehme Mischung von christlich eingekleidetem Antisozialismus und einem durch private Gehässigkeit verdeckten Theoriedefizit tut sich dabei besonders W. Weber, der Leiter des Münsteraner Instituts für christliche Sozialwissenschaften, hervor, der nicht nur die Unternehmer insachen Theologie und Kirche, sondern auch die Kirche insachen Spätkapitalismus und Unternehmer mehr eifrig als klug berät und dabei, so sachlich töricht wie methodisch unfair, alle politisch relevanten nachkonziliaren Neuansätze in der Theologie kurzerhand als Handlangerdienste für den Kommunismus abstempelt.
11 Vgl U. Benedix, MdB, in: Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln, 7. 3.1975.
12 Vgl H. R. Launen, Pädagogik — Instrument der Systemüberwindung? in: Kirche und Gesellschaft Nr 16, Köln 1974.
13 Vgl die Reihe „Kirche und Gesellschaft” der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach, wiederum unter Führung von W. Weber, sowie die Reihe „Initiativen” des Herder-Verlages Freiburg.

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… Anderswo vollzieht sich Strukturwandel: Der Erzbischof von Besancon hat sich schon in den ersten Tagen des Streiks mit den LIP-Arbeitern solidarisiert, mit ihnen demonstriert. In Spanien werden ehrwürdige Bischöfe von regierungsfreundlichen Zeitungen als „Kommunisten” bezeichnet; in Belgien unterstützt der Klerus Streiks in der Borinage, und in Brasilien kursieren Hirtenbriefe gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung. Vielleicht wird eine Zeit kommen, in der man nicht mehr mutige Theologen mit Exkommunikation bedroht, sondern Mietwucher und Aktiengewinne, und vielleicht wird der Erzbischof von Köln eines Tages sich mit den streikenden Arbeitern der Fordwerke solidarisieren. Nein. Vielleicht doch nicht.

Heinrich Böll in seinem Beitrag für eine Festschrift zum 70. Geburtstag des katholischen Theologen Karl Rahner (1974), die wegen dieses Beitrags bis heute von keinem katholischen Verlag veröffentlicht wurde.

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