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Wider die Lobbyisten der Transzen­denz

16. November 1975

Zum Problem Katholische Kirche und Demokratie, aus: vorgänge Nr. 16 (Heft 4/1975), S. 51-65

Wer derlei überhaupt noch zur Kenntnis nimmt, wird sich in der letzten Zeit nicht wenig über die verschiedenen Verlautbarungen deutscher Bischöfe zu den vergangenen Landtagswahlen gewundert haben. Dabei sollte es selbst einen, der sich kirchlich nicht mehr gebunden fühlt und der allenfalls die Chancen bestimmter Parteien durch solche Erklärungen der besorgten Kirchenleute gemindert oder erhöht sieht, nicht besonders verwundern, daß die Beschöfe ihr vorübergehendes Schweigen wieder aufgegeben haben. Denn zum einen konnte diese Stille nicht so recht befriedigen, zumal die heiligsten Güter der Nation (zumindest seit dem Jahr 1969!) gefährdet erscheinen mußten. Andererseits wäre es wirklich zuviel verlangt gewesen, hätte man diese berufenen „Wächter” zu dauerndem Silentium verpflichten wollen. Und eben deswegen reden sie nun eben wieder.

1. Die Kirche sagt, sie verstehe etwas von „Demokratie”

Das sogenannte „Wächteramt“

Das von den genannten Leuten beanspruchte „Wächteramt” wird uns also auch in Zukunft mit den entsprechenden Mahnungen eindecken oder in anderen Fällen, wo man ein wenig Zivilcourage in der anderen Richtung erwarten könnte (wie etwa einem F. J. Strauß gegenüber!), beredt schweigen. An Beispielen für diese Tätigkeit im Dienste der Demokratie, die sich die kirchlichen Amtsträger da auferlegt haben, fehlt es damit nicht: so werden etwa „Wohlstand und Sicherheit”, obgleich nur zum „Gemeinwohl” hinauf verallgemeinerte Erfahrungen einer privilegierten Mittelschicht (zu der alle Bischöfe nun eben einmal selbst gehören), als Erfolge einer spezifisch „christlichen” Politik (vor dem „unglückseligen” Jahr 1969!) gepriesen, ohne daß auch nur ein Bischof auf die Idee käme, nach der Schrif tgemäßheit all dieser Postulate zu forschen. Im Gegenteil, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Julius Kardinal Döpfner, kommt vielmehr auf den Gedanken, die Angriffe auf das freie Unternehmertum hierzulande stellten gleichzeitig Attacken auf die Freiheit seiner Kirche dar…
Nein, an Beispielen für das „Wächteramt” fehlt es beileibe nicht. So haben kirchliche Amtsträger unseren Staat schon deswegen in einen „Kulturkampf” schlittern sehen, weil Interessen und Privilegien, die ein römisch-katholisches Klassenrecht früherer Zeiten diesem abgemarktet hatte, nun in aller Öffentlichkeit überprüft werden sollen — und niemand von all den nach eigenem Anspruch für das Evangelium des armen Jesus von Nazareth Streitenden wird ob solcher Obszönitäten rot. Niemand von diesen Leuten versucht auch, den in Unwissenheit gehaltenen Mitchristen klarzumachen, daß die wahre Kirche Christi nun doch nicht auf derlei gegründet ist, ja nie sein konnte.
Bestimmte Kreise in der kirchlichen Führungsschicht haben es ja bisher nur allzu gut verstanden, ihre eigenen Privilegien als Bestandteile bzw als Ausdrucksformen des „wahren” Glaubens auszugeben und eine Bestreitung ebendieser juristischen Konsequenzen als einen Angriff auf den Glauben selbst interpretieren zu lassen, so daß sich eine Mobilisierung der Massen gegen all diese Angriffe ziemlich leicht erreichen lassen konnte. Noch allzu oft werden daher angegriffene Strukturen und Lebensformen als im Glauben vorgegeben, schließlich als in der „Tradition” begründet verteidigt, bis endlich — allerdings häufig reichlich spät — eine Reaktion auf unübersehbare Sachzwänge erfolgt. Um so einsichtiger mag demgegenüber das Desiderat werden, all die unheilvollen Vermischungen von Glaubensinhalt und rechtlicher Ausdrucksform aufzudecken und die verschwiegenen Vermengungen von Glaube und Politik offenzulegen.
Ich gebe allerdings zu, daß sich das „Wächteramt” leichter damit tun wird, solche Forderungen — und seien sie für die Basis der innerkirchlichen Demokraten gemacht — zu unterdrücken. Leichter ist es wirklich, all dies in einem Dunstkreis des irgendwie Christlichen verbleiben zu lassen, Analysen zu unterbinden, Aufdeckungen zu verhindern und von der innerkirchlichen „Demokratisierung” Abstand zu halten. Denn so, nur so, regiert es sich auch in der Kirche leichter, oder, besser ausgedrückt, nimmt die Fürsorglichkeit der Hirten keinen allzu großen Schaden. Aber: von Moral oder von einem Anspruch auf „Wächter-Sein” sollte man da nicht mehr reden, wo alle Voraussetzungen dafür fehlen: wo etwa die wortgeübten Strategen der Tabuierung und der Immunisierung kirchliche Verfassungsstrukturen derart mystifizieren, daß diese, gleichsam vom gesellschaftlichen Wandel unberührt, dem Normalchristen, der einfach zu glauben sich bemüht, wie unvergängliche Werte erscheinen müssen. Wer aber hat den Mut, mitten unter uns, in der Gesellschaft von heute also, den Menschen an der Basis zu erklären, daß all dies, was als überzeitliche Struktur ausgegeben wird, nichts anderes darstellt als ein Konglomerat von Strukturen, welche — fast unverändert von den Herrschenden des byzantinischen Reiches oder des Mittelalters übernommen — erschreckende Nachholbedürfnisse insachen demokratisch fundierter Politik und bare Unfähigkeiten in Fundamentaldemokratie überhaupt bewirkt haben und in Zukunft immer noch bewirken müssen?

„Wächter“ ohne Legimi­ta­tion

Ob sich also die „Legitimation” der selbsternannten „Wächter” unter uns nicht doch ganz anders ausnimmt? Ob man sie nicht doch einmal von Grund auf auf ihre demokratische Effizienz hin untersuchen müßte? Vielleicht käme man dann zu einigen erschreckenden Ergebnissen. Man sollte sich, unternimmt man eine derartige Untersuchung, jedenfalls nicht abschrecken lassen von der Bemühung einiger Kirchenleute, sich die öffentliche Meinung durch lautstarke Larmoyanz gefügig zu machen. Vielmehr sollte man darauf hinweisen, und das in aller Öffentlichkeit – und eben auch als Insider –, daß ständig Einzelinhalte der Glaubenslehre, und seien sie noch so wichtig, geradezu eifernd zum Schibboleth hinauf gelobt werden, nur um ungeliebte Parteien treffen zu können, während zur gleichen Zeit andere, nicht weniger zentrale Aussagen des Christentums, nur weil sie von den „unchristlichen” Politikern vertreten werden, weder im Wahlkampf noch im politischen Alltagsgeschäft zur Sprache kommen dürfen.

Kirchliche Doppelmoral

Was ist in diesem Zusammenhang von der Moral einer Kirche zu halten, welche den Schwarzen Peter in der Frage einer Reform etwa des § 218 geradezu aufreizend lässig dem „Staat” zuschiebt, während sie selbst nichts unternimmt, um in ihrem eigenen Gesetzbuch die augenfällige Diskriminierung der unehelich Geborenen, also eine Folgelast des § 218, zu unterbinden? Wie steht es, so könnte man weiter fragen, um den moralischen Anspruch so vieler kirchlicher Amtsträger, welche sich nach außen, etwa in sozialen Fragen, ausgesprochen öffentlichkeitswirksam gerieren, schon um an ihrem Image zu polieren, während sie nach innen, in der Verwaltung ihrer eigenen Diözese, nichts tun, um über den inquisitorischen Zustand, wie man ihn im Mittelalter zu favorisieren schien, hinauszugelangen? Haben solche Leute, die innerkirchlich alles andere als freiheitliche Demokraten sind (wie wir noch sehen werden), denn nicht einfach jeden Anspruch verwirkt, dem Staat Anweisungen für dessen demokratisches Handeln zu erteilen? Dürfen sie sich zu allem Überfluß denn noch immer als die eigentlich „Verfolgten” aufspielen? Sind nicht vielmehr sie es, die auch unser Land in einer schrecklich subtilen Weise besetzt halten? Und wäre es nicht viel moralischer vonseiten derer, die die öffentliche Moral hierzulande gepachtet zu haben scheinen, auf solche Einzelheiten in den staatskirchenrechtlichen Regelungen der BRD hinzuweisen, welche den Kirchen und deren amtlichen Vertretern bzw deren Privatauffassungen unangefochtene Privilegien, und das Tag für Tag, einräumen? Wäre nicht dies ein Ausdruck von Moral, wenn sich diese Leute endlich daran machten, in aller Öffentlichkeit zuzugeben, daß diese Privilegien einmalig sind, so daß andere Kirchen – in Ost und West! – davon nicht einmal zu träumen wagen? Es ist zwar immer angenehmer, Märtyrerrollen zu übernehmen und über (fremdes) Leid zu klagen, schon weil sich dieses besser in ein bestimmtes „Image” von der Kirche einfügen läßt, als offen und ehrlich zuzugeben, daß die Kirche der BRD, was ihre eigenen Privilegien betrifft, in nichts den Herrschenden dieser Welt nachsteht: nur, moralisch ist es eben nicht.

Die Zwitter­stel­lung der Kirche

Das „Wächteramt” der Nicht-Demokraten in der Kirche über das kirchliche Restvolk wie über die Rest-Gesellschaft erscheint also immer fragwürdiger — und dies schon deshalb, weil seine Legitimationsbasis innerkirchlich wie außerkirchlich mehr und mehr bestritten wird. Ich meine sogar, die Amtsträger und ihre Privilegien sowie ihr Bestreben, ihren mittelalterlichen Besitzstand möglichst detailliert auch in das 21. Jahrhundert hinüberzuretten, basierten auf einem merkwürdigen „T h e o r i e-D e f i z i t”, über welches sich die Betroffenen selbst noch nicht einmal klar geworden sind. Ausgefüllt wird dieser Mangel durch die Betonung einer komplizierten               Z w i t t e r s t e ll u n g  d e r  K i r c h e: diese Leute werden ja nicht müde, jede Gelegenheit wahrzunehmen, um auf die substantielle Andersartigkeit der Kirche hinzuweisen. Die Kirche differiert also grundsätzlich von allen übrigen gesellschaftlich bedeutsamen Verbänden. So kann man es selbst in den Regierungserklärungen der sozial-liberalen Koalition nachlesen. Auf der anderen Seite werden dieselben Leute, die nun eben auf ihr besonderes und unantastbares Selbstverständnis hingewiesen haben, ebenso wenig müde, sich genau so zu gerieren wie die Lobbyisten eben dieser Verbände, von denen sie sich doch „theologisch” unterscheiden wollen. Also partizipiert diese Art von Kirche ohne Abstriche an eben dieser modernen Gesellschaft, falls es sich zu partizipieren lohnt (Kirchensteuersystem!).
Es liegt also der Verdacht nahe, und niemand tut etwas, um ihn zu entkräften, daß diese „Wächter” immer dann, wenn es in ihr kirchenpolitisches Kalkül paßt, nicht mehr von dieser Welt sind, schon um den Rest von einer besonderen Warte aus be- und verurteilen zu können. Andererseits erscheinen sie jedesmal dann, wenn es ihnen opportun erscheint, nahezu hemmungslos um all das besorgt, was die soeben so verachteten Kinder dieser Welt an Vergünstigungen anzubieten haben. So vergleichen sie stets ihre Rechte mit denen anderer Gruppen, um ja nie zu kurz zu kommen. So lassen sie sich aber ihre Sonderrechte niemals antasten, um ihre behauptete, doch prinzipiell unbeweisbare Unvergleichlichkeit zu erhalten. Die Überlegung, daß es in etwa auch ein Zeichen von „Christlichkeit” sein könnte, auf Rechte zu verzichten, selbst wenn andere Gruppierungen in der pluralistischen Gesellschaft solche hundertfach für sich erjagen und erhalten, muß dieser Art von „Wächtern” fremd bleiben. Sie wachen jedenfalls auch in Zukunft über ihre Interessen — und schämen sich nicht einmal, diese für diejenigen der „Basis” auszugeben.

Klerikale Betreu­ungs­in­dus­trie

Denn die Verquickung von Interessen der Herrschenden und von „Bedürfnissen” der Beherrschten ist ja nun so neu nicht, schon gar nicht in der Kirche. Zwar hatte sich solches Tun zunächst auf eine Materie beschränken dürfen, die man noch in etwa als „theologisch” klassifizieren konnte, doch weiteten sich die Interessengebiete der „Kleriker” immer mehr aus. Schließlich konnte sich die Vorstellung durchsetzen, es müßten alle Regungen eines Christenlebens von den klerikalen Besserwissern im Beamtenstand zunächst seismographisch exakt und zweifelsfrei konstatiert und endlich, als Norm gegen alle Eventualitäten, geregelt werden. Der Weg, gepflastert mit Ideologien aller Art, bis hin zur euphorischen Selbstbestätigung, nun alles und jedes perfektionistisch lenken zu können und zu dürfen, war nicht eben beschwerlich. Bald aber war das Leben eines Christenmenschen umschlossen von einem Netz subtiler und kasuistischer Normen. Ein handliches Instrumentarium ward erfunden, steril war es ohnehin, also konnte es, je nach Lust und Laune der jeweiligen Außendarsteller der Kirche, eingesetzt werden. Der solchermaßen lückenlos umsorgte Christ war nur noch darauf hinzuweisen, daß er „von oben”, falls notwendig, von der Betreuungsindustrie also, jederzeit Hilfe erhalten würde, und sei es, um aktueller zu werden, in Form von mundgerechten bischöflichen Erklärungen zu allen „Fragen der Zeit”. Schließlich war es nur nbch eine Kleinigkeit, die zu erwähnen ich beinahe vergessen hätte, bis der Christ im Glauben daran erzogen war, daß er, wollte er ein wirklich guter Vertreter seines Standes sein und bleiben, auf diese Stimme aus der Höhe auch zu hören habe, und sei es spätestens am Wahlsonntag. .
So entwickelte sich, gleichsam über Nacht, durch einseitige, wenn auch nie ganz unangefochtene Ausweitung der Geschäftsgrundlage aus einer exklusiv theologischen Kompetenz die Zuständigkeit eines wie immer auch gearteten Lehr- und Wächteramtes selbst in höchst weltlichen Bereichen. Und schon schnappte die Falle zu: der sogenannte „Laie”, in ursprünglich theologischer Definition der „Nicht-Kleriker”, wurde per definitionem auch der Nicht-Fachmann, und dies sogar in seinem ureigensten Bereich, in Ehefragen etwa oder eben auch in der Politik.

Ausufern der theolo­gi­schen Kompetenz

Man wende nun nicht ein, nach dem letzten Konzil habe sich dieser Zustand grundlegend geändert. Die Verlautbarungen etwa der westdeutschen Bischöfe seither sprechen eine klare Sprache. Dabei will ich die reichlich unangenehmen Erfahrungen aus der jüngsten Zeit garnicht nennen, die Anfechtungen vor den Wahlen etwa bis hin zur Uraltfrage aus dem Kaiserreich, wer denn nun wen wählen dürfe und wen denn nun aus welchen Gründen nicht. Ich nenne auch die Lust so mancher nicht, gleichsam ex cathedra Unbedenklichkeitsbescheinungen für politische Parteien oder für deren Kandidaten auszustellen, nur um die Unmündigkeit der katholischen Basis nun ja vor aller Augen bloßzustellen. Auch sollen nicht die ständigen Versuche genannt werden, gewiße bischöfliche Denkansätze in politicis zu verabsolutieren und sie so mit dem Zuckerguß der noch übriggebliebenen Unfehlbarkeit zu umkleiden, daß das Restvolk schon böswillig sein müßte, hörte es diese Nachtigallen nicht trapsen . . .
Welch ein Ausmaß an innerer Unfreiheit dieses Gouvernantensystem, diese Deformation biblisch fundierter Hirtensorge, in sich schließen konnte, verrät allein ein Blick auf die nicht selten in Perfektion anzutreffende und erst neuerdings abbröckelnde Sucht weitester Kreise in der Kirche, nun „von unten” nichts anderes als eine unbestimmbare Erwartungshaltung, eine Hoffnung auf Patentrezepte gegenüber denen da oben aufzubringen, der dann amtlicherseits eine nicht minder vollkommene „Kodifikationsmanie” entsprechen durfte. Ja, noch mehr: „die da oben” sahen sich zunehmend gezwungen, selbst eine real nicht vorhandene Spannung und Entscheidungssituation vorzutäuschen, eine ideologische Freund-Feind-Stellung in allen Lebensbereichen also, die es ermöglichte, ständig für „die da unten” zwischen Gut und Böse, zwischen Drinnen und Draußen mitzuentscheiden. Allzu schnell konnten damit aber auch die politischen Wirklichkeiten in den Kategorien eines wie immer geprägten religiösen „Heilsbezuges” des Gegners interpretiert werden. Man konnte nämlich jetzt wieder den politischen Gegner auch zum religiösen Mangelwesen abstempeln, ja zu einem Menschen, der um sein Heil zu fürchten hatte, der einfach schon deswegen auf der falschen kirchlichen Seite zu stehen schien, weil er politisch anders orientiert war. Die vielen -ismen tauchten also wieder auf, unseligen Angedenkens die meisten von ihnen; der politische Gegner war plötzlich wieder, fast völlig losgelöst von seinem Wollen und Tun, die personifizierte Antikirchlichkeit und damit der Katholischen Nachrichtenagentur und der Eigenpresse zum Fraß freigegeben. Die „Antikommunisten” waren wieder unter sich, ihre Kreuzzugsideologen und Scharfmacher zumal.

2. Die Kirche irrt, wenn sie etwas von Demokratie zu verstehen meint

Bastion der Unfreiheit in der neuzeit­li­chen Gesell­schaft

Soll man aber eine solche Entwicklung, wie sie in der Kirche sich ereignen durfte, nun plötzlich unter Demokraten absegnen? Kann man ein Gebilde, welches derlei ermöglichte, ja förderte, denn noch als „Heimat der Demokraten” bezeichnen? Oder verstärkt sich nicht der Voreindruck so vieler Demokraten hierzulande, diese Altkirche sei von ihrem Wesen her zuinnerst undemokratisch und daher auch nicht kontaktfähig, auch im Urteil der Kirchenkritiker „von innen” mehr und mehr? Versteht diese Kirche wirklich etwas von „Demokratie” — oder viel mehr von Aristokratie und Oligarchie? Kann man sich mit ihr und ihren Hauptvertretern denn als Demokrat noch solidarisieren?
Ich meine, der genannte Voreindruck vieler Menschen in unserem Lande, die Kirche stelle einen erratischen Block in der neuzeitlichen Gesellschaft dar, korrespondiere fast völlig mit der Vorfindlichkeit, wie sie Insidern Tag für Tag begegnet. Und dies nun, wie gesagt, nicht wegen der prophetischen Unzeitgemäßheit einer Kirche, die „nicht von dieser Welt” sein kann und will. Nein, im Gegenteil. Diese Kirche paßt nicht zu uns, weil sie sich oft und gern an frühere Formen angepaßt hat. Sie hat den ursprünglichen Auftrag, sich nicht allzu sehr anzupassen, schon längst aufgegeben — und verteidigt just in dem Moment, da man von ihr demokratisches Bewußtsein und demokratisches Fingerspitzengefühl nach innen und außen verlangen zu können glaubt, ihre Nicht-Anpassung, die doch nicht viel anderes darstellt als eine durchgängige Adaptation an Vergangenes. Der vielbeklagte „Zeitgeist” ist also bereits Mittelpunkt dieser Kirche — allerdings der Geist früherer Epochen. Und gerade deshalb muß sie notgedrungen all die Reformvorschläge, die ihr gemacht wer-den, ablehnen. Und gerade deswegen bleibt sie unrettbar hinter der menschlichen Freiheitsgeschichte zurück: ein erratischer Block par excellence.

Kiche und Staaat: ein unmora­li­sches Verhältnis

Ich kann mich also völlig einig erklären mit all den vielen, die eine solche Entwicklung und die Petrefakten, die an deren Ende stehen müssen, beklagen. Diese Kirche hat ihr Leben verpfändet und aufgegeben. An Beispielen für die Ungleichzeitigkeit der beschriebenen Art fehlt es auch heute kaum: das Klassenrecht, welches Amtsträger und „Laien” in der beschriebenen Weise fein säuberlich voneinander trennt und die Privilegien entsprechend aufteilt (selbst die Konkordate der BRD sind nachwievor voll davon!); die Klassenjustiz, strikt am Kirchenvolk vorbei, welches, unaufgeklärt wie es ist und bleibt, nichts davon versteht und doch etwa bis in seine Ehen hinein derlei unterworfen ist. Hinzu kommen Beispiele genug aus dem Verhältnis von Staat und Kirche in der BRD, welche ich schlichtweg als „unmoralisch” bezeichnen muß, in Hülle und Fülle, wie jeder weiß (vgl Horst Herrmann, Ein unmoralisches Verhältnis. Bemerkungen eines Betroffenen zur Lage von Staat und Kirche in der BRD. Düsseldorf 1974). Und all dies wird von kirchenamtlicher Seite mit er-schreckend prostituierenden Formen der Argumentation vorgetragen und abgesegnet: die Beweisführung geht gerade hier schon lange auf den Strich, ganz nach Lust und Laune der in dieser Kirche Mächtigen. Zugeständnisse müssen dieser Kirche abgetrotzt, je abgemarktet werden und gelten dann immer noch als eine Art von Bonus und von Gnadenerweis der demokratischen Gesellschaft gegenüber.

Die Antivolks­kirche

Schaut man jedoch hinter die Kulissen — und ein solcher Blick wäre so manchem anzuraten, der bereits alles, positiv oder negativ, über die Kirche zu wissen glaubt —, so kann man mit Fug und Recht feststellen, daß die Amtsträger das, was sie überhaupt noch zu tragen scheint, die sogenannte „ V o l k s k i r c h e” nämlich, seit Jahrhunderten ungeschmälert zur Anti-Volkskirche ausgebaut haben. Alle Kennzeichen der Basisvergessenheit und -feindlichkeit, alle Merkmale des Desinteresses an demokratischen Spielregeln sind anzutreffen. Wer wundert sich da eigentlich noch, wenn es in einer solchen Kirche von Rechts wegen weder eine Gewaltenteilung noch eine Gleichheit der Glieder vor dem Gesetz noch Rechenschafts- und Begründungspflichten der Amtsträger noch eine institutionalisierte Diskussionsbasis geben kann? Um so mehr verstärkt sich der Eindruck, daß doch alles klar sei, auch ohne Schwarzmalerei,
und daß es sich deswegen kaum mehr lohne, sich ernsthaft noch mit derlei abzugeben.

Andererseits lohnt es sich für eine „Altkirche”, wie ich dieses Konglomerat an Interessenvertretungen und Privilegienwahrungen nenne, kaum noch, die moderne Gesellschaft und den neuzeitlichen Staat wirklich ernstzunehmen. Den Profis der Altkirche ist es schon lange zur zweiten Natur geworden, in der Attitüde von „Superstaatsmännern” den Laien auf dem Gebiet politischen Verhaltens Zensuren zu erteilen. Zudem ist man, wie gesagt, selbst insachen Demokratie erfahren genug und benötigt keinen Hinweis mehr auf all die schrecklichen Vorgegebenheiten im eigenen Lager: auf das Unvermögen etwa, sich den demokratischen Herausforderungen unserer Tage ohne Flucht in das warmgehaltene Stübchen des eigenen „Dogmas” zu stellen; auf das lächerliche Unterfangen, durch prinzipielle Lehrlinge insachen Demokratie andere diese lehren und demokratische Grundwerte bewahren zu wollen; auf die gewollte Entmündigung der eigenen „Basis” überhaupt; auf die Versuche, spezifisch „katholische” Werte am Gemeinwohl vorbei in die Politik einzuschmuggeln; auf den Anspruch „freier” Trägerschaft im Sozialwesen auch, über deren wirkliche Freiheit wohl erst noch öffentlich zu diskutieren wäre; auf all die genannten Vermengungen von Glaubensanspruch und rechtlicher Konsequenz.

Die politische Ergebenheit des Kirchen­volkes

Es scheint also wirklich so, als habe sich da mitten unter uns ein Gebilde entwickeln dürfen, welches „Demokratie” nur vom Hörensagen kennt, gleichwohl aber stets darüber in autoritärster Weise redet. Wie aber steht es um den kirchengebundenen Menschen? Der Katholik, nach kirchlicher Lehre in einem hierarchischen Gefüge beheimatet, in welchem für ihn in der beschriebenen Weise gesorgt wird, ist so ganz nebenbei auch noch Staatsbürger, und dies, für manche leidvoll genug, in einer Demokratie neuzeitlicher Prägung. Wie aber soll er, der Bürger zweier Welten, die Gratwanderung zwischen Monarchie und Demokratie, die ihm, falls er glaubt, was ihm täglich von seiner Altkirche gesagt wird, auferlegt ist, bestehen? Im Staat darf er wählen, in seiner Kirche kaum. Im Staat kann er mitbestimmen, in seiner Kirche nicht einmal in Ansätzen. Das Beschämendste aber für ihn wird es sein, daß man ihm einzureden sucht, dieser vordemokratische Zustand seiner Kirche sei eben eines der Kennzeichen für die „wahre” Stiftung Jesu Christi.
Kann man da nicht verstehen, daß er, des ständigen Hin und Her überdrüssig, schließlich resigniert? Wie anders soll man die ungebrochene Staatsunlust so vieler Katholiken erklären? Kann man von derart Indoktrinierten, von auch politisch seit eh und je Umsorgten im Ernst bereits jetzt etwas anderes erwarten als eine auch politisch eingefärbte Allianz gegen alles Neue, gegen alle Experimente und Reformen? Ist es nicht allzu verständlich, daß der Normalkatholik ohne große Anstrengung seinen CDU/CSU-lastigen Oberhirten folgt, während erst ein paar Aufgeklärtere unter seinesgleichen anderen politischen Fahnen zu folgen wagen? Müssen nicht so viele Desiderate und Kampfparolen der neuen Zeit auf ihn, den typischen Christen der gestrigen Ordnung, der sein Mandat auch in politischen Dingen an seinen Pastor abgetreten hat, wirken wie ein Sturmangriff auf dieses „sein” Christentum, welches doch immer mehr zu einem Synonym für bourgeoise Vorstellungsmodelle herabsinkt? Kann man es ihm da verdenken, wenn er den zu keiner Zeit fehlenden Propheten glaubt, die ihm suggerieren, daß „seit 1969” ein sittlicher Verfall in der BRD zu beobachten sei, daß „Kindesmörder” am Werke seien, daß Ehe und Familie zerrüttet würden, daß die „Totalpolilisierung” aller Lebensbereiche für Christen ein Greuel, die „Demokratisierung” aller gesellschaftlichen Teilbereiche nur die Ausgeburt innerweltlicher Erlösungstheorien darstellten? Kann man denn auf diesem Hintergrund seine Lieblingsthesen nicht verstehen, das Abendland gehe unter, die sittlichen Grundwerte seien, „seit 1969” wohlbemerkt, bedroht, der „Bolschewismus” stehe vor der Tür, der „Terrorismus” nehme überhand?
Ich meine, man müsse ihn, den Durchschnittlichen, auch insoweit verstehen, daß er dasjenige, was ihm seine Kirchenzeitung vorlegt, als Evangelium weitergibt. Und so wird er, der Unaufgeklärte, immer noch der Meinung sein, die in der Altkirche fehlende Chancengleichheit sei gottgewollt; Ausschlüsse von Frauen, unehelich Geborenen und verheirateten Geistlichen etwa seien schriftgemäß; das Fehlen der individuellen Autonomie, der Mitbestimmung, der Gewaltenteilung, der Transparenz der Entscheidungsprozesse, der Institutionalisierung einer Oppositionsbasis, des Öffentlichkeits- und des Mehrheitsprinzips, eines hinlänglichen Rechtsschutzes, einer passablen Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, eines nicht nur am „Gehorsam” orientierten Dienstrechtes, kurz der Mangel an beinahe allem, was eine Demokratie erst erträglich machen kann, sei so — und nicht anders — von Gott angeordnet.

Kirchliche Demokra­ti­sie­rung – den Kirchen­o­beren ein Greuel

Bei dieser Sach- und Rechtslage nimmt es zwar kaum wunder, daß in einer Welt, die vom neuzeitlichen Freiheitsverständnis geprägt erscheint, die stärksten Impulse zur Demokratisierung in Freiheit nicht innerhalb, sondern außerhalb der Kirche aufgebrochen sind. Es verwundert auch nicht, daß nicht wenige dieser Umschichtungsprozesse, für die sich nun doch auch vielleicht einige evangelische Legitimationen finden ließen, an der Altkirche vorbei, ja gegen sie gerichtet vor sich gehen mußten und müssen. Nur eines verwundert: die Unverfrorenheit, mit der der geschilderte Status quo als gottgewollt und menschengemäß ausgegeben wird, obwohl es doch immer einsichtiger geworden sein müßte, daß die Mittel, auf welche sich die Kirchenleitungen stützen, dem säkularen Bereich (von ehedem!) und nicht dem Evangelium entliehen wurden.
Oder gibt es etwa noch einen ernstzunehmenden Theologen, der die innerkirchliche Ablehnung noch so kleiner Schritte auf eine anfängliche Demokratie hin, all diese großinquisitorischen Denkfaulheiten und Kurzschlüsse, wie sie immer noch propagiert zu werden pflegen, auf die Schrift zu stützen wagt? Nein, stattdessen gibt es allenfalls noch Funktionäre des altkirchlichen Systems, welche sich ihrer nicht selten faschistoiden Denk- und Sprechweise nicht schämen und einfach so vor sich hin argumentieren: ein „Führertum” sei, vor allem innerkirchlich, da biblisch begründet, jeder „Demokratisierung” vorzuziehen, jedes Wahlrecht in der Kirche beruhe auf Konzessionen der Obrigkeit, ja, jeder demokratische Zug in der Verfassung der Kirche sei lediglich als Zugeständnis, als Selbstbeschränkung der Amtsträger zu verstehen, Mitbestimmung schwäche die kirchlichen Führungsenergien, Gleichheit sei Nivellierungssucht, Räte begünstigten die Flucht aus der Verantwortung, Kabinettspolitik sei im eigentlichen volksnah, Information stelle eine bessere geistige Vergewaltigung dar, die Autoritätskrise lasse sich durch „Führung” und durch nichts anderes lösen, zumal die Mehrheit der Gläubigen ohnehin keinerlei Bedürfnis nach Demokratie, sondern nach Befehlserteilung und Gehorsam verspüre, kurz, Demokratie sei schon für den Staat und die Gesellschaft als Krisenherd suspekt, für die Kirche jedoch völlig abwegig, und dies, weil Gott selbst es so und nicht anders gewollt habe.

Freiheits­be­rau­bung am Kirchenvolk

Scheint man sich somit an die schmerzliche Beobachtung gewöhnen zu müssen, daß solche Argumentationsformen lediglich vergröbert das auszudrücken suchen, was als uneingestandener Anspruch durch nicht wenige kirchliche Amtsstuben geistert, so bringt man doch vielleicht auch mehr Verständnis auf für die Aussage, daß das Pochen auf eine solche „Satzung” im innersten einem Raub am Volk und an seinen verbürgten Freiheiten gleichkomme, einem Vergehen also, welches sich nicht beschönigen lasse durch die nachkonziliaren „Rätesysteme” und formalen Demokratismen in der Altkirche (wie etwa nach Art des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, um ein besonders absurdes Beispiel zu nennen). Man müßte dann ebenfalls in aller Offenheit darauf hinweisen, daß der in Sachen Demokratie solchermaßen verspielte Kredit der Altkirche weder aufgrund eines (im innersten doch recht „klerikalen”) Konzils erneuert werden könne noch unter Hinweis auf Einzelfälle demokratischer Gesinnung, die zudem stets innerhalb des kirchlichen Systems angesiedelt sein müssen, um legal zu sein. Nein, man kann einen solchen Kredit allein durch eine prinzipielle Änderung des Bestehenden erreichen, durch ein striktes Abrücken also von den Folgen jener konstantinischen Urwahl zugunsten der je Mächtigen, wie sie von der Kirche in deren unvergleichlicher Sensibilität für wahre Macht getätigt worden war. Wie jedoch eine derart festgelegte Kirche, deren Verlautbarungen immer nur in der Verteidigung der eigenen Bastionen und Privilegien bestehen, ein solches Desiderat erfüllen soll, muß schleierhaft bleiben.

Infizierung der Gesell­schaft mit dem kirchlichen Konser­va­tismus

Und so wird man sich auch in Zukunft ungestraft damit abfinden dürfen, daß diese Kirche in ihrem Selbstverständnis gefangen bleibt, welches seine konservative Vorstellungswelt (geistliches Führungsamt, Klerikerausbildung, Disziplinierung der Opposition, Ablehnung jeglicher „Demokratisierung”, Freund-Feind-Schema, Orthodoxie-Vorbehalte, Block-Denken) immer noch nach bewährtem Muster und mit der engagierten Hilfe politisch fügsamer Gruppierungen auf die Gesellschaft und auf den Staat zu übertragen sucht. Als einziges Beispiel sei nur die Frage nach der Herkunft der „Radikalenerlasse” und der „Berufsverbote” in diesem Zusammenhang angeschnitten: es steht für mich außer Frage, daß unser Staat und unsere Gesellschaft, die auf diesem Gebiet gegenwärtig mehr als tätig sind, sich im nachhinein noch als Erben einer bestimmten Weltanschauung erweisen. Denn Erlasse dieser Art sind in der römisch-katholischen Kirche seit Jahrhunderten an der Tagesordnung. Und wer immer noch meint, es gebe sie neuerdings nicht mehr, der lasse sich über die innerkirchlichen Realitäten von heute aufklären: täglich werden von westdeutschen Bischöfen und Kirchenoberen Religionslehrer wegen dogmatischer Unzuverlässigkeit oder Geistliche wegen ihrer Absicht, eine kirchlich gültige Ehe einzugehen, in ihrer beruflichen Existenz geschädigt und ihrer Grundrechte beraubt.

Kirchliche „Berufs­ver­bote“

Hat man aber schon gehört, daß sich all diejenigen, die zur Zeit so laut-stark gegen die bundesrepublikanischen „Berufsverbote” zu Felde ziehen (und das zu Recht!), einmal für diejenigen Mitbürger eingesetzt hätten, die seit langem schon mitten unter uns solchen Verboten unterliegen? Ich meine dabei nun aber nicht die spektakulären Fälle, sondern die „einfachen”, von denen man nicht viel hört. Es stünde jedenfalls allen wirklichen Demokraten gut zu Gesicht, wenn sie sich auch einmal kräftiger als bisher für solche Leute einsetzen würden, denen — nicht selten unter tatkräftiger Mithilfe staatlicher Instanzen (jeglicher parteipolitischer Couleur übrigens!) — demokratische Grundrechte wie diejenigen auf Meinungsfreiheit und auf Ehe und Familie entzogen werden, weil „Gott” das so will… Ich vermag nämlich nicht einzusehen, weshalb man diese kirchengebundenen Leute aus der Solidarität der Demokraten entlassen soll. Gerade sie benötigen diese Mithilfe, zumal ein bestimmtes antidemokratisches Potential in der Altkirche, welches sich bei bestimmten Anlässen immer wieder „von oben” mobilisieren läßt, mit seinen autoritären Erwartungshaltungen und anerzogenen Gehorsamsmustern dem amtskirchlichen Wollen „von unten” entgegenkommt und eine Eliminierung der Abweichler verlangt. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang ja schon etwa ein öffentlicher Aufruf des Bischofs von Münster an alle Eltern, Lehrer und Schüler seines Bistums, ihm detailliert über Vorgänge im Religionsunterricht zu berichten bzw etwaige Abweichungen zu denunzieren (,‚Der Bischof fragt unsere Leser“, in: Kirche und Leben vom 4.5.1975, S 7). Wieder einmal scheintdas Zusammenspiel der
Unaufgeklärten zu klappen — auf der Strecke aber bleiben Kreativität und Freiheit.

3. Die Kirche schließt sich selbst aus der Solidarität der Demokraten aus: sie ist zu einer „Part­ner­schaft” nicht fähig.

Der unabhängige Mensch hinter dem Unrechts­system

Trotz all unserer Bedenken gegen das „Demokratieverständnis” der Altkirche, welches wir eher als ein schlichtes „Nichtwissen” charakterisieren konnten, bleibt der Hauptgrund, sich mit „Kirche” überhaupt noch zu befassen, die Tatsache, daß hinter diesem Unrechtssystem der in vielfältiger unbewußter Abhängigkeit gehaltene kirchengebundene Mensch steht, der ein evangelisches Recht auf Befreiung aus diesen Zwängen hat. Ich frage also nochmals all diejenigen, die in all dem, was mit Kirche zu tun hat, nur noch ein Epiphänomen sehen wollen, ein fünf trangiges Problem also, welches sich zudem von selbst löse: wer denn nun soll den kirchlich gebundenen Menschen zu sich selbst befreien helfen? Wer bringt das bißchen Verständnis und Sachwissen für die Probleme desjenigen Christen auf, welcher in den meisten Fällen seine eigene Lage gar nicht als solche erkennt? Wer hat — richtig verstandenes — Mitleid mit all den vielen unter uns, die glauben müssen, alles sei gerade so recht und in Ordnung, mit all den vielen auch, denen eine nachkonziliare Euphorie nur Surrogatlösungen für ihr Grundproblem angedient hat? Denn all diese Menschen — wir sollten uns selbst nicht vorschnell ausnehmen — sind ja auf eine spezifische Weise indoktriniert. Man sagt ihnen, „von oben” natürlich, es gehe um den Bestand ihrer angestammten Kirche, in manchem auch um die Grundwerte des Rechtsstaates. Man sagt ihnen jedoch all das — bewußt oder unbewußt — nicht, was wir aufgewiesen haben: daß nämlich seit langem eine ungeheure Anmaßung im Schwange ist, eine Vermengung von Glaube und Recht, von Gültigem und Zeitbedingtem, eine Vermischung, deren Taktiker die Hauptschuld an der gegenwärtigen Situation der Teilaufgeklärten zu tragen haben.

Undurch­sich­tige kirchliche Caritas

Und so dürfen eben diese Zyniker mit ihrer Taktik ungestört damit fortfahren, um nur ein Beispiel zu nennen, die „Caritas” und ihre Leistungen als unüberbietbar gut darzustellen und von diesem Fundament aus ein Fortbestehen der altkirchlichen Privilegien in der BRD zu postulieren. Niemand aber sagt offen genug, daß eine genaue und wirklich einsichtige Statistik darüber immer noch aussteht, aus welchen Gründen auch immer. Niemand widerlegt auch den in aller Öffentlichkeit erhobenen Vorwurf, die kirchlichen Sozialleistungen seien so gewaltig nicht, daß sie das gegenwärtige Steuersystem rechtfertigen, ja sie betrügen insgesamt — entgegen dem in der Kirchenpresse immer wieder erweckten Eindruck — ohnehin nur etwa 15 % des gesamten Kirchensteueraufkommens und ließen sich deshalb vom Staat allein schon mit Hilfe der durch eine Streichung der Absetzbarkeit der Kirchensteuer als Sonderausgabe von der Einkommen- und Lohnsteuer gewonnenen Mittel ersetzen. Niemand stellt sich auch der Frage, ob „Caritas” schlechthin das Kriterium der wahren Kirche sei oder ob nicht die Kirche selbst daran interessiert sei, sich — auf dem Umweg über subventionierte Sozialeinrichtungen — ein Monopol in unserer Gesellschaft zu errichten.
Ich meine aber, jeder Demokrat sollte sich auf eben diesem Gebiet mehr als bisher über die kirchliche Tätigkeit informieren. Denn man hört doch gerade auf diesem Ohr immer wieder dasselbe, selbst von Mitgliedern der Bundesregierung: der Staat brauche die Kirche als „Partnerin” für den Dienst am Menschen. Und schon deshalb sei eine Solidarität mit der Kirche selbstverständlich, auch wenn es in Einzelfällen hapere.
Gerade diese Argumentation, so verbreitet und so eingängig sie sein mag, halte ich aber für ausgesprochen uneinsichtigt und kurzschlüssig. Zum einen wird hier wieder „vermengt”: eine (notwendige) Mithilfe auf caritativem Gebiet kann nicht als Fundament für Sonderrechte auf anderen Gebieten dienen. Die Privilegierung der Altkirche darf also nicht von dieser Hilfe einer Einwilligung bzw einer Verweigerung in Sachen „Caritas” erpreßt werden. Andererseits läßt das Wort „Partnerschaft” gefährliche Assoziationen zu: nicht wenige Kirchenvertreter interpretieren die tägliche Partnerschaft mit dem Staat im Sinne einer institutionellen Gleichordnung der beiden „Mächte”, wie sie im Mittelalter üblich war. Von daher gesehen, sollte man, um alle Mißverständnisse schon im Keim zu ersticken, den Begriff meiden.

Die Partner­schaft­s­ideo­logie

Hinzu kommt, daß es unter den Demokraten aller weltanschaulichen Lager noch durchaus keinen Konsens darüber zu geben scheint, ob man die Altkirche wirklich als einen gleichberechtigten Gesprächs- und Aktionspartner akzeptieren könne. Um es gleich vorweg zu sagen, ich selber halte die Solidaritätsfrage in diesem Fall für gar nicht mehr offen: Die Altkirche in der beschriebenen Form ist für wirkliche Demokraten nicht partnerschaftsfähig. Was es mit einer Institution dieser Machart bislang allein geben kann, sind taktische Übereinkünfte. Grundsätzlich aber sollte man sich weigern, mit Leuten zu verhandeln, die in Bezug auf ihre eigene Institution, in welcher sie schalten und walten können, wie sie gerade wollen, ein undemokratisches System aufrechterhalten. Solange also die genannten demokratiefeindlichen Entwicklungen andauern, kann ich mir nicht vorstellen, daß irgendjemand diese Altkirche noch im Ernst eine „Partnerin” nennt — es sei denn aus unumgänglichen diplomatischen Rücksichten.
Solange die Kirche unter Demokraten von heute für sich nicht eben viel mehr ins Feld führen kann als die Tatsache, eine Organisationsform zu favorisieren und diese auch noch detailliert in ihrem eigenen Gesetzbuch festzuschreiben, welche noch nicht einmal der Menschenrechts-Charta der Vereinten Nationen entspricht, darf sie sich nicht schmeicheln, von ihrer Umwelt ernstgenommen zu werden. Vielmehr muß sie sich, schmerzlich genug, damit bescheiden, die eigentlich „christlichen” Chancen verspielt zu haben. Sie wird sich zudem damit abfinden müssen, nach Lage der Dinge, ohne sichtbare Vorleistungen in Sachen Demokratie also, in der Weltfamilie der Demokraten zumindest nur als ein unbestimmbar unzeitgemäßes Etwas toleriert zu werden, auf das man nur aus bestimmten (juristischen!) Gründen vorerst noch nicht ganz verzichten kann.
Von daher gesehen, ist der Status eines „Beobachters”, wie ihn etwa der „Heilige Stuhl” einnimmt, ausgesprochen passend: mehr als dies kann gegenwärtig von der Kirche innerhalb der Vereinten Nationen nicht erwartet werden, mehr leistet sie einfach nicht. Der Begriff „Partnerschaft”, den man heute in der BRD immer noch zu favorisieren scheint, ist demgegenüber einfach zu hoch gegriffen. Er ist, nach Lage der Dinge, ebenso unpassend wie wenn man ihn auf ähnlich totalitäre Systeme anwenden würde. Bevor also nicht dezidiert Schluß gemacht wurde mit all den Amoralitäten der Altkirche in Sachen Demokratie, wird man dieser Kirche allenfalls das Prädikat einer „Wolfsgesellschaft” zuerkennen dürfen — und alle, die mit ihren Vertretern zu tun haben, tun, von Einzel-fällen natürlich abgesehen, gut daran, sich an diese Bezeichnung für die „Lobbyisten der Transzendenz” zu erinnern.
Wem der gebrauchte Ausdruck zu hart erscheint, der möge mit mir, dem Theologen und Priester, daran denken, daß es dieser Altkirche bis zum heutigen Tag noch immer ausgesprochen schwer gefallen ist, öffentlich die eigene Schuld zuzugeben. Die fast völlige Abwesenheit von öffentlicher Demut, von Bekenntnissen, daß man verzögerte Glaubens- und Rechtsentwicklungen (wie etwa in Sachen Geburtenregelung, Mischehe, Laisierung) und das aus diesen resultierende Leid von Millionen von Mitchristen zu verantworten hatte und hat, gehört zu den erschreckendsten Erfahrungen, die eine junge Generation heute mit der Altkirche machen muß. Viel weniger erschreckend ist demgegenüber die Erfahrung mit der interessierten Depression von Amtsträgern, welche um dieses ihr System fürchten.

Demokra­ti­sche Solidarität der Christen gegen die Altkirche

Daß wir trotz dieser Vorgänge uns nicht in die Resignation flüchten, sondern uns zu der Solidarität mit den Demokraten bekennen, liegt mit daran, daß wir der Sache Jesu noch immer eine Chance geben. Und aus eben diesem Grund erheben wir auch die Forderung, das Adjektiv „christlich” nicht mehr wie bisher für Institutionen in Kirche und Staat zu reservieren, sondern es für die Menschen (in allen Kirchen und Parteien) offenzuhalten. Wir werden ja diesen unseren Namen von denen zurückzufordern wissen, die ihn besetzt halten wollen und mit dieser ihrer Beute sogar noch auf Stimmenfang ausziehen. Mehr noch: Nicht wenige der „Christenworte” müssen heute und in Zukunft, und zu Recht auch von Nichtchristen, denen die bisherigen Vorstellungen altkirchlicher
Moral einfach zuwider sind, gegen die herrschenden Christenmentalitäten gebraucht werden.
Die politischen Parteien aber sind vor die Frage gestellt, ob sie sich eher wie bisher mit der institutionalisierten Form des kirchlichen Christentums identifizieren oder ob sie sich den aufgeklärten Menschen der „Sache Jesu” zuwenden wollen. Diese Grundentscheidung ist gerade in der BRD noch kaum gefällt worden. Noch immer lavieren einflußreiche Politiker zwischen taktischem Interesse für die mächtige Institution und ihre Vertreter und einem „Herzensbedürfnis” für die „anderen”. Ich meine nun aber, die geforderte Entscheidung, wer sich mit wem solidarisieren wolle und müsse, könne zumindest dort, wider alles bessere Wissen, nicht mehr so schwer fallen wie bisher, wo es den „anderen” gelingt, in zunehmendem Maße die herrschenden altkirchlichen Autoritäten moralisch zu disqualifizieren und deren „strukturelle Obszönitäten” vor aller Augen offenzulegen. Wer dann noch glaubt, er könne sich mit solchen „Partnern” sehen lassen, der ist selber schuld.

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… Die Christen begegnen in der Welt anderen Menschen, deren sie zur Verwirklichung der Brüderlichkeit bedürfen, die genauso wie sie oder besser als sie Brüderlichkeit verwirklichen. Von ihrem Glaubenssinn her dürfen und können Christen diese Verwirklichung durchaus auch als verwirklichtes Christentum begreifen, obwohl es gerade nicht kirchliches Christsein ist. Aber schon das ist ein weltanschaulicher Aspekt, der zur konkreten Aufgabe nichts hinzutut. Er besagt nur, daß die alte dogmatische Position, es könne nicht zum Heil gelangen, wer nicht zur Kirche gehört, wer also nicht auf irgendeine, wenn auch noch so kasuistisch erweiterte Weise
i d e o l o g i s c h e Zustimmung zur Lehre leistet, längst dahingeschwunden ist. … Sie ist zusammengebrochen vor der Realität, däß Menschen „Christentum” verwirklichen, ohne Christen zu sein, und daß Christen nicht Christentum, sondern nur Egoismus oder auch nur Kirchentum, nur katholische Selbstbehauptung verwirklichen, obwohl sie doch Christen sind. Das Radium des Christentums wird nicht aus dem Depositum der Kirche, sondern aus der Pechblende der Welt gewonnen.
Die Christen werden also in der Welt Menschen begegnen, die Humanität verwirklichen, ohne doch die christlichen Normen anzuerkennen oder auch ohne nach ihnen zu leben. Zwischen dem Menschen, der sie nicht anerkennt, und dem Christen, der sie anerkennt, kann für die gemeinsame gesellschaftliche-humane Aufgabe nicht die weltanschauliche Normenforderung als Trenrrendes stehen. Die Norm ist keine Kategorie des weltlichen Handelns, sondern eine Kategorie der Anschauung der Welt. Anschauungen trennen, die Forderung gemeinsamen menschlichen Handelns aber eint. Und so wird dieser Christ zusammen mit and$ren Menschen unter Umständen gar dafür eintreten, daß nicht seine „christliche” Anschauung einer Sache zur verbindlichen Norm für alle gemacht werde. Das Gesetz in dem Christen und der gestirnte Himmel über ihm sind schon längst nicht mehr Gesetz und Himmel aller Menschen überhaupt. Gesetz aller Menschen aber ist die Ermöglichung von Menschlichkeit,

Gerd Hirschauer, 1966, in: „Der Katholizismus vor dem Risiko der Freiheit. Nachruf auf ein Konzil”, S 289.

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