Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 175: Sterben und Selbstbestimmung

Die Patien­ten­ver­fü­gung ist eine Entschei­dung über sich selbst

Fürsorge darf nicht gegen Autonomie ausgespielt werden. Aus: vorgänge Nr.175, (Heft 2/2006), S.92-99

Gesetz­li­cher Handlungs­be­darf

In der Bundesrepublik Deutschland ist seit Längerem überfällig, Rechtsunsicherheiten zu Fragen der Sterbehilfe durch gesetzliche Klarstellung zu beheben. Der Immobilismus oder Rückstand der Gesetzgebung betrifft auch andere Bereiche der Biomedizin, darunter das Stammzellgesetz, dessen Fortentwicklung – u. a. zum Problem des Stichtags – dringlich ist. Im Blick auf Sterbehilfe und Sterbebegleitung sollen nachfolgend vor allem Patientenverfügungen erörtert werden, weil hierzu in Deutschland wohl am ehesten eine gesetzliche Regelung erreichbar erscheint. In Österreich ist ein Patientenverfügungsgesetz am 1. Juni 2006 in Kraft getreten. Vorab soll ein anderer Aspekt angesprochen werden, der in der öffentlichen und rechtspolitischen Diskussion große Beachtung findet, nämlich die ärztliche Beihilfe zum Suizid. Es geht um Patienten, die angesichts extremer Belastung und auswegloser Krankheitssituation auf eigenen Wunsch nach längerer Überlegung zum Suizid als letztem Ausweg greifen möchten, weil sie für sich keine andere Perspektive mehr sehen.

Der medizinisch assistierte Suizid

Patienten aus Deutschland machen davon Gebrauch, dass im Nachbarland Schweiz zum begleiteten Suizid inzwischen Regelungen geschaffen worden sind. Den Leitlinien der Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften gemäß muss alles getan werden, einen suizidwilligen Patienten mitmenschlich zu begleiten und ihn zu beraten, um ihn von seinem Entschluss abzubringen und zum Weiterleben zu bewegen. Wenn es sich aber tatsächlich um eine dauerhafte eigenverantwortete Entscheidung handelt, sich angesichts des Krankheitsschicksals das Leben zu nehmen, dann darf auch ein Arzt im Ausnahmefall Hilfe leisten. Die Gesichtspunkte, die in der Schweiz entwickelt wurden, tragen neben dem Schutz menschlichen Lebens gleichfalls dem Selbstbestimmungsrecht von Patienten Rechnung. Zugleich verhindern sie die Kommerzialisierung oder missbräuchliche Ausweitungen der Beihilfe zum Suizid Schwerkranker oder Sterbender.
Die deutsche Rechtslage zum assistierten Suizid ist hingegen uneindeutig. Seit dem 19. Jahrhundert ist der Suizid auch in Deutschland straffrei. Anders als frühere patriarchale, obrigkeitliche oder absolutistische Staatsordnungen besitzt der moderne Staat in Bezug auf Leib und Leben seiner Bürger kein Bestimmungs- oder gar Eigentumsrecht mehr. Weil der Suizid straffrei ist, kann auch die Beihilfe, also die Beschaffung eines tödlich wirkenden Medikamentes, nicht bestraft werden. Widersprüchlich ist es, dass das deutsche Recht dann aber eine Garantenstellung und Hilfeleistungspflicht Dritter vorsieht. Ein Arzt oder ein sonstiger Beteiligter, der einem Patienten auf dessen Wunsch ein tödliches Mittel übergeben hat, muss lebensrettend eingreifen, nachdem der Suizidversuch eingesetzt hat. Dies führt zu paradoxen und inhumanen Konsequenzen. Im Jahr 1984 hatte der Mediziner Hackethal Beihilfe zum Suizid verübt, indem er einer 69 Jahre alten Frau, die an einem fortgeschrittenen Tumor im Kiefer- und Gesichtsbereich litt, Kaliumcyanid beschaffte. Eine Lebensrettung ist bei Zyankali nicht möglich; das Gift führt allerdings zu einem qualvollen Sterben. Hätte der Arzt seiner Patientin ein schonenderes Mittel übergeben, wäre eine Verurteilung wegen unterlassener Hilfeleistung realistisch gewesen, da er nach dem Beginn des Suizidversuchs hätte lebensrettend eingreifen müssen.
Dem Gesetzgeber ist wiederholt empfohlen worden, eine Klarstellung vorzunehmen, der zufolge eine Garanten- oder Hilfeleistungspflicht dann nicht besteht, wenn ein Suizidversuch nach längerer Überlegung und aufgrund eines selbstverantworteten Entschlusses zur Beendigung schweren unheilbaren Leidens erfolgte. In diesem Sinn haben sich im Jahr 2004 die beim Mainzer Justizministerium angesiedelte Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, im Jahr 2005 der neue, von Juristen verfasste Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung oder 2006 der Nationale Ethikrat geäußert. Es steht ganz außer Frage, dass der Lebensschutz und das Lebensrecht vorbehaltlos gelten und dass an eine – insbesondere ärztliche – Beihilfe zum Suizid nur in äußersten Grenzfällen zu denken ist. Dabei ist vorauszusetzen, dass der Wunsch eines Patienten, sein Leben zu beenden, nicht auf Depression oder auf einer problematischen Beeinflussung durch Dritte beruht. Andererseits darf aber nicht verdrängt werden, dass ­trotz der Fortschritte in der Schmerztherapie die Schmerzbelastung einzelner Patienten so unerträglich oder ihre Lebenssituation derartig entwürdigend und belastend werden können, dass die Betroffenen auch nach längerer reiflicher Überlegung keinen anderen Ausweg mehr sehen.
Im US-Bundesstaat Oregon ist ärztlich begleiteter Suizid seit 1997 statthaft. Letztlich haben nur relativ wenige Menschen hiervon tatsächlich Gebrauch gemacht (zwischen 1997 und 2005 246 Personen). Über ein Drittel der Patienten haben das ihnen ausgehändigte Rezept gar nicht in Anspruch genommen, da ihnen die Gewissheit reichte, für den schlimmsten Fall ein Medikament überhaupt verfügbar zu haben. Entgegen der Vermutung, der krankheitsbedingte Suizid erfolge vor allem aufgrund finanzieller oder sozialer Notlagen, zeigen die Berichte aus Oregon, dass es in hohem Maß gebildete, finanziell besser gestellte und – für die USA ein wichtiger Punkt – krankenversicherte Patienten waren, die diese Möglichkeit nutzen.1 Auf Dauer wird auch in der Bundesrepublik Deutschland die Rechtspolitik der Herausforderung nicht ausweichen können, sich mit dem assistierten Suizid zu befassen, schon allein weil die geltende Rechtslage in sich widersprüchlich ist, herkömmliche religiöse oder moralische Einwände verblasst sind und suizidwillige Patienten in das Ausland fahren – zurzeit herrscht aber nicht nur zu diesem Thema, sondern sogar zu Patientenverfügungen Rechtsunsicherheit  und dies, obwohl die vorsorgliche Auseinandersetzung mit Krankheit und Sterben, die in einer Patientenverfügung erfolgt, ethisch und menschlich eigentlich nur befürwortet werden kann. Dennoch haben sich die gesellschaftlichen und rechtspolitischen Auseinandersetzungen hierzu neuerdings sehr verschärft.

Patien­ten­ver­fü­gungen in der Kontroverse

In Patientenverfügungen treffen Menschen Entscheidungen über Krankheits- und Sterbeprozesse, die auf sie künftig eventuell zukommen könnten. Eine Patientenverfügung kann Bestimmungen über den Abbruch einer Behandlung oder über das Unterlassen zusätzlicher medizinischer Maßnahmen enthalten (passive Sterbehilfe; Sterbenlassen) und soll für den Fall gelten, dass ihr Verfasser nicht mehr ansprechbar und äußerungsfähig ist. Gegebenenfalls soll das Schicksal seinen Lauf nehmen und das Leben mit medizinisch-technischen Maßnahmen nicht weiter verlängert werden. Seit mehreren Jahrzehnten besteht ethisch und juristisch ein Konsens, dass passive Sterbehilfe zulässig ist. Wenn der Arzt hierbei „aktiv“ tätig wird – z. B. durch den Knopfdruck beim Abschalten einer Herz-Lungen-Maschine –, liegt dem Sinngehalt gemäß ein Unterlassen der Weiterbehandlung, genauer: die Wiederherstellung des Zustandes vor dem ärztlichen Eingriff vor, so dass das Schicksal seinen Lauf nehmen kann. Eine Behandlung oder Weiterbehandlung von Patienten gegen ihren Willen stellt nach deutschem Recht eine strafbare Körperverletzung dar. Das österreichische Strafgesetzbuch § 110 spricht – begrifflich treffsicherer – von einer „eigenmächtigen Heilbehandlung“, die strafbar ist.
Der langjährige Konsens darüber, dass die sog. passive Sterbehilfe statthaft ist, ist in   Deutschland jetzt aber aufgekündigt worden. Insbesondere Mitglieder der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des 2005 aufgelösten Bundestages haben die Auffassung vertreten, passive Sterbehilfe, d. h. das Unterlassen einer Behandlung und das Sterbenlassen, stehe direkter Tötung nahe und sei von verbotener aktiver Euthanasie kaum zu unterscheiden. Der schwerstleidende oder todkranke Patient solle daher auf seinen Tod „warten“. Es sei an der Zeit, sich „unbegrenzter Vorfahrt für Patientenverfügungen grundsätzlich entgegenzustellen und dem Prinzip der ärztlichen Fürsorge und den Pflichten der Betreuung wieder mehr Raum zu verschaffen“.2 Demzufolge soll ein Arzt die Lebensfunktionen sogar gegen den in einer Patientenverfügung dokumentierten Willen des Patienten aufrechterhalten. Diese Sicht hat in dem am 13.09.2004 vorgelegten Bericht der Enquete-Kommission und in anderen Voten, zu denen eine Schrift der Evangelischen Kirche in Deutschland gehört3, ihren Niederschlag gefunden. Das Argument, das zur Begründung herangezogen wird, lautet „Fürsorge“.

Das Argument der Fürsorge

Bei den verschiedenen Formen der Sterbehilfe – auch bei der passiven Sterbehilfe, auf die sich Patientenverfügungen beziehen – liegt ein Normkonflikt vor: zwischen dem Schutz des menschlichen Lebens und der ärztlichen Pflicht zur Lebenserhaltung einerseits, dem Recht des Patienten auf Selbstbestimmung andererseits. In den letzten Jahren wurde nun eine Begriffsbildung ins Spiel gebracht, die diesen Normkonflikt dahingehend umschreibt, es gehe um „Fürsorge“ versus Selbstbestimmung. Dabei wird dann alles Gewicht auf die Fürsorge gelegt. Denn das Prinzip der Selbstbestimmung sei fragwürdig, weil die menschliche Existenz – auch dann, wenn der Einzelne scheinbar frei und selbstbestimmt entscheide – stets von sozialen Kontexten abhängig sei. In Zweifelsfällen solle daher die fürsorgliche Betrachtung anderer den Vorrang besitzen. Dies gelte erst recht für die Situation schwerster Krankheit und des Sterbens. Patientenverfügungen seien eigentlich nichts anderes als ein „Autonomie-Placebo“ – so lautet der schroffe Einwand, den die frühere Vorsitzende der Enquete-Kommission, Margot von Renesse, formuliert hat.
Gegen dieses Leitbild der Fürsorge sind freilich Bedenken zu erheben. Sicherlich ist sehr zu unterstreichen: Sterbende Menschen haben einen Anspruch auf mitmenschliche Unterstützung und Begleitung. So wie der Begriff „Fürsorge“ seit einiger Zeit benutzt wird, führt er aber zu Einseitigkeiten. Er geht von einer Außenperspektive aus, die die Sorge Dritter „für“ einen Betroffenen betont, und enthält eine hierarchische Komponente, der zufolge Dritte – nämlich der Arzt, die Angehörigen oder der Betreuer – „über“ den Betroffenen oder sogar „anstelle“ des Betroffenen entscheiden sollen. Dessen eigene Willenserklärung – konkret: die Patientenverfügung – hat dann dahinter zurückzutreten.
Dieser Logik folgend schlug die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages 2004 vor, die Geltung, Verbindlichkeit und Reichweite von Patientenverfügungen einschneidend einzuschränken. Ein „Konsil“ müsse über ihre Tragkraft entscheiden. Vor allem sollen Patientenverfügungen überhaupt nur noch für die unmittelbare Sterbephase, in der Nähe des Todes oder bei sog. Irreversibilität des Krankheitsverlaufs gelten. Konkret läuft dies darauf hinaus, das Instrument der Patientenverfügung auszuhöhlen und ihm seinen Sinn zu nehmen. Bestimmte Situationen, für die Patientenverfügungen eigentlich gedacht sind, würden nicht mehr erfasst. Zu ihnen gehört das irreversible apallische Syndrom. Nachdem ein sog. Wachkoma sechs bis zwölf Monate andauerte, sinkt die Aussicht, dass der Patient zu einem bewussten Zustand oder zu einer kommunikativen Existenz zurückfindet, gegen null. Dem natürlichen Schicksal gemäß wären die Betroffenen ohnehin bereits gestorben. Dies ist nur deshalb nicht der Fall, weil sie in einer Klinik oder Pflegeeinrichtung mit Hilfe einer PEG-Sonde künstlich ernährt werden. Inzwischen haben viele Menschen in einer Patientenverfügung vorsorglich festgelegt, dass im Fall des irreversiblen langen Wachkomas die PEG-Sonde entfernt werden soll, damit sie sterben können bzw. am Sterben nicht gehindert werden.
Im Gegensatz hierzu besagt die Logik des – überdehnten –­ Fürsorgeargumentes, das Leben solle auf jeden Fall aufrecht erhalten werden; die Fürsorge besitze Vorrang vor der Selbstbestimmung. So gesehen sollen verbindliche Bestimmungen über den Abbruch der künstlichen Ernährung in der Situation des irreversiblen Wachkomas nicht mehr möglich sein. Es wäre dann z. B. auch nicht mehr statthaft, dass ein älterer Mensch verfügt, im Fall eines weiteren, etwa eines dritten Herzinfarkts nicht nochmals reanimiert werden zu wollen. Eine solche Verfügung kann daraus resultieren, dass dem Betroffenen aufgrund von Krankheitserfahrung und medizinischer Information die Gefahr, nach einer Reanimation mit schwersten neurologischen Folgeschäden existieren zu müssen, zu groß erscheint. Stattdessen möchte er den Gang des Schicksals, das natürliche Lebensende, akzeptieren.
Aus der Perspektive eines Betroffenen hat es seinen guten Sinn, in einer Patientenverfügung derartige wohl erwogene Bestimmungen über Behandlungsverzicht bzw. Behandlungsbegrenzung zum Ausdruck zu bringen. Falls sich jedoch das Prinzip der unbedingten Fürsorge durchsetzen würde, wäre diese Option praktisch ausgeschlossen. Das Lebensrecht, das ein jeder Mensch vorbehaltlos besitzt, würde in eine Lebenspflicht umschlagen. Erfahrene Mediziner machen darauf aufmerksam, dass einzelne Patienten sich bei Unverlässlichkeit von Patientenverfügungen u. U. sogar zu einem vorzeitigen Suizid veranlasst sehen könnten. Das Selbstbestimmungsrecht von Menschen wäre in hohem Maß außer Kraft gesetzt – zugunsten einer neuen Form von Heteronomie und eines staatlichen, medizinischen oder klinischen Paternalismus.

Aktuelle Grund­rechts­kon­flikte

Schon heute entzünden sich an Patientenverfügungen in Kliniken oder Pflegeeinrichtungen erhebliche Konflikte, konkret z. B. in Institutionen mit katholischer Trägerschaft. Der Vatikan und deutsche Bischöfe haben erklärt, bei lang andauerndem Wachkoma sei das Leben auch gegen den Willen des Patienten aufrecht zu erhalten. Eine Patientenverfügung, die eventuell vorliegt, droht in katholischen konfessionellen Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen daher unbeachtet zu bleiben. Die korporative Religionsfreiheit, die der (katholische) Träger einer Pflegeeinrichtung für sich in Anspruch nimmt, wird auf diese Weise gegen das individuelle Selbstbestimmungsrecht ausgespielt, auf dem eine Patientenverfügung beruht.
Ethisch, verfassungsrechtlich und im Sinn der Menschenrechte ist jedoch hervorzuheben, dass die individuellen Schutz-, Abwehr- und Freiheitsrechte den Vorrang besitzen. Um jeden Zweifel hieran auszuräumen, sollte daher auf hohem, nämlich auf gesetzlichem Niveau klargestellt werden, dass Patientenverfügungen, die auf einer durchdachten Entscheidung des Betroffenen gründen, rechtsverbindlich sind und respektiert werden müssen. Es wäre kulturgeschichtlich sowie ethisch ein Rückschritt, wenn das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung gegenwärtig angesichts biomedizinischer Fragen ausgehöhlt würde. Um diesem Trend entgegenzuwirken, ist es geboten, das Bewusstsein für den hohen Rang, der diesem individuellen Grundrecht zukommt, im öffentlichen und rechtspolitischen Diskurs wach zu halten.

Das Recht auf Selbst­be­stim­mung: Ausdruck der Menschen­würde

Letztlich ist das Recht jedes Menschen auf Freiheit und Selbstbestimmung aus der Menschenwürde selbst abzuleiten, die von der Moralphilosophie Kants zur Fundamentalnorm neuzeitlichen Denkens erhoben wurde. Kants Argumentationsansatz zufolge erläutern, begründen und stützen Menschenwürde sowie Selbstbestimmung einander wechselseitig. Die Würde der Menschen resultiert daraus, dass sie – anders als nichtmenschliches Sein – zur Ausübung von Vernunft und zur Realisierung von Freiheit prinzipiell in der Lage sind. Dies hat zur Konsequenz, dass der Einzelne, der sein Selbstbestimmungsrecht oder – mit Kant gesagt – seine Autonomie tatsächlich in Anspruch nehmen möchte, dies auch tun darf. Jeder, der hierzu fähig und willens ist, besitzt aufgrund seiner Menschenwürde das Recht, von seiner praktischen Vernunft und Autonomie aktiv Gebrauch zu machen. Dritte haben dies zu respektieren, solange keine Verletzung der Grundrechte anderer Menschen vorliegt. Der Staat und die Rechtsordnung stehen in der Pflicht, das Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Menschen zu schützen, es zu stützen, ihm Geltung zu verschaffen und es gerade nicht einzuschränken.
Im Blick auf Sterbehilfe und Patientenverfügungen ist zugleich zu bedenken, dass sich die Bedingungen des Sterbens in der Moderne verändert haben. Krankheit und Sterben sind medikalisiert worden, da eine medizintechnische Überfremdung des Sterbeprozesses sowie neuerdings auch Ökonomisierung und Rationierung drohen. Angesichts dessen ist zu betonen, dass die Würde des Sterbens integraler Bestandteil der Menschenwürde ist. Es kommt hinzu, dass sich die Würde des einzelnen Menschen nicht gegen dessen eigenen Willen definieren oder schützen lässt. Letztlich gibt die persönliche Perspektive eines Menschen den Ausschlag dafür, was für ihn – auch für sein Sterben – als würdegemäß gelten soll. Daher ist es legitim, wenn Menschen in einer Patientenverfügung über den Verlauf ihres Sterbens entscheiden und lebenserhaltende Eingriffe Dritter oder eine fremdbestimmte Erhaltung oder Verlängerung ihres Lebens vorsorglich ausschließen.
Der hohe Rang des Selbstbestimmungsrechts ist nicht nur juristisch, verfassungsrechtlich oder philosophisch, sondern auch aus der Sicht des Christentums ins Licht zu rücken. „Zur Freiheit hat euch Christus befreit“, schrieb Paulus (Gal. 5,1). Die innere Freiheit des Menschen zu betonen, gehört seit der Reformation zum Kern der protestantischen Theologie. Ein – mit Martin Luther gesagt – von Gott befreites Gewissen oder – säkular  existenzphilosophisch ausgedrückt – die Haltung der persönlichen „Gelassenheit“ (Karl Jaspers, Wilhelm Weischedel) können dazu führen, dass Menschen sich heutzutage vorsorglich auch mit ihrem künftigen Sterben auseinandersetzen und präventiv die Möglichkeit der Therapiebegrenzung, des Verzichts auf Reanimation oder andere Formen der passiven Sterbehilfe durchdenken.
Eine Sonderrolle nimmt das katholische Christentum ein. Zurzeit bringt die römisch-katholische Kirche lehramtliche Vorgaben, die ihre Gläubigen binden sollen, wieder verstärkt zur Geltung, so dass zur Ehe- und Sexualmoral oder zu biomedizinischen Themen innerkirchlich die individuelle Entscheidungsfreiheit eingeengt wird. Eigentlich hatte die katholische Theologie jedoch ein Menschenbild entfaltet, das die Freiheit und sittliche Vernunft der einzelnen Menschen in den Vordergrund rückte. Thomas von Aquin deutete die Gottebenbildlichkeit des Menschen dahingehend, dass der Einzelne mit seiner endlichen Vernunft an der Vorsehungsvernunft Gottes partizipiere. Als Gottes Ebenbild besitze der Mensch einen freien Willen und sei zum Gebrauch der Vernunft im Sinn von Abwägung, Klugheit und Billigkeit befähigt, ja sogar aufgerufen. Mit diesem Gedanken wurde Thomas geradezu zum Vorläufer der neuzeitlichen aufklärungsphilosophischen Idee der Gewissensfreiheit und Autonomie.
Das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung, das die Voraussetzung für Patientenverfügungen bildet, ist also in mehrfacher Hinsicht fundamental: verfassungsrechtlich (Art. 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 des Grundgesetzes), philosophisch und theologisch sowie medizinethisch. Der frühere ärztliche Paternalismus ist heutzutage überwunden worden; stattdessen stehen die Verantwortungspartnerschaft zwischen Arzt und Patient sowie die Entscheidungsrechte der Patienten im Vordergrund. Die hippokratische Tradition aufgreifend und abwandelnd gilt heute medizinethisch die Norm: „salus ex voluntate aegroti suprema lex“ – das Wohl, so wie es sich aus der Sicht und dem Willen des Patienten selbst heraus darstellt, soll für den Arzt leitend sein.
Nimmt man dies ernst, sind es gewichtige normative Grundlagen, auf denen das Instrument der Patientenverfügung beruht. Würden die oben erwähnten Vorschläge der Enquete-Kommission befolgt, die Verbindlichkeit, Geltung und Reichweite von Patientenverfügungen stark einzuschränken, wäre dies letztlich eine Infragestellung der individuellen Grund- und Freiheitsrechte selbst, die für unsere Gesellschaft und Rechtsordnung tragend sind. Es liegt daher am Gesetzgeber klarzustellen, dass Patientenverfügungen Rechtsverbindlichkeit besitzen, und darüber hinaus zu präzisieren, unter welchen Voraussetzungen dies der Fall sein soll.

Kriterien für Patien­ten­ver­fü­gungen

Die Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz hat hierzu bereits 2004 Kriterien genannt. Im Kern geht es darum, dass Patientenverfügungen Dritte – den Arzt, einen Bevollmächtigten oder Betreuer und Angehörige sowie das Vormundschaftsgericht – rechtlich binden, wenn sie schriftlich vorliegen, hinreichend präzis sind und auf der Grundlage von Beratung entstanden sind.
Sofern eine Verfügung schriftlich vorhanden ist, ist die Willensäußerung des Patienten eindeutig und für Zweifelsfälle nachprüfbar dokumentiert. Sicherlich sind auch frühere mündliche Patientenäußerungen relevant und bleiben wirksam. Sie sind als ein – ggf. sehr starkes – Indiz für den sog. mutmaßlichen Willen eines Patienten zu bewerten.
Darüber hinaus sollen Patientenverfügungen hinreichend präzis sein und den medizinischen Sachverhalt, um den es in einer künftigen eventuellen Entscheidungssituation gehen könnte, paradigmatisch umschreiben. Dieses Kriterium ist deshalb wichtig, weil zahlreiche Patientenverfügungsmuster in Umlauf sind, die zu unbestimmt und zu vage bleiben. Eines der unzureichenden Formulare ist die Christliche Patientenverfügung, die von den beiden großen Kirchen stammt und in einer Zahl von ca. 2 Millionen Exemplaren abgerufen worden ist. Für den Arzt oder andere Beteiligte bilden unpräzise Verfügungen gegebenenfalls jedoch keine verlässliche Entscheidungsgrundlage.
Das dritte Kriterium für die Verbindlichkeit einer Patientenverfügung – qualifizierte, insbesondere ärztliche Aufklärung und Beratung – hat die Funktion, sicherzustellen dass sie mehr ist, als nur eine zufällige, spontane oder gar aufgrund von Druck entstandene Willensbekundung. Vielmehr sollte sie im Dialog erarbeitet sein, die authentische Über- zeugung eines Menschen wiedergeben und in dem Bewusstsein unterzeichnet worden sein, dass es durchaus ein persönliches Risiko darstellt und Unwägbarkeiten einschließt, solche Vorab-Festlegungen zu treffen. Davon abgesehen ist eine Patientenverfügung jederzeit widerrufbar, sei es schriftlich oder mündlich, durch schlüssiges Verhalten oder durch nonverbale Gesten.

Der Umgang mit dem Lebensende auf der Basis von Grund­rechten

Weitere Einzelheiten, die zu Patientenverfügungen zu nennen wären, sollen hier ausgeblendet bleiben. Im Fazit ist jedenfalls festzuhalten, dass der Umgang mit dem Lebensende, der unter den Bedingungen der modernen Medizin und des heutigen Gesundheitswesens erfolgt, im Licht der Grundrechte zu durchdenken ist. Vor allem drei Grundrechte sind einschlägig: das Recht auf Leben, das Recht auf Gesundheitsschutz sowie das Selbstbestimmungsrecht. Auch für das verlöschende Leben gilt der Schutz des Lebens. Daher sollte z. B. darauf geachtet werden, dass die Grauzone aktiver Sterbehilfe, die in verdeckter, verheimlichter Form praktiziert wird, nicht noch größer wird, als schon jetzt zu befürchten ist. Das zweite unter den drei relevanten Grundrechten, das Recht auf Gesundheitsschutz und auf gesundheitliche Versorgung, ist in Menschenrechtskonventionen, Grundrechtskatalogen oder im EU-Verfassungsvertragsentwurf verankert. Schwerstkranke und sterbende Menschen können aus ihm den Anspruch ableiten, den aktuellen Einsichten der Schmerztherapie und Palliativmedizin gemäß begleitet zu werden. Die Notwendigkeit des Ausbaus palliativer Medizin wird inzwischen zunehmend anerkannt. Gegenläufig zu der Tendenz, die in der neueren rechts- und gesundheitspolitischen Diskussion zutage getreten ist, ist zurzeit aber vor allem der fundamentale Rang von Freiheit und Selbstbestimmung in Erinnerung zu bringen. Ausgehend von der normativen Basis des Selbstbestimmungsgrundrechts sollten – dem Beispiel Österreichs aus dem Jahr 2006 folgend – nun auch in der Bundesrepublik Deutschland Patientenverfügungen eine gesetzliche Absicherung erhalten.
1    Vgl. Edgar Dahl, Dem Tod zur Hand gehen, Spektrum der Wissenschaft Juli 2006, S. 116-120.
2    Ulrike Riedel, Selbstbestimmung am Lebensende durch Patientenverfügungen, in: Zs. für Biopolitik 2004, S. 211-218, hier 217.
3    Kirchenamt der EKD (Hg.), Sterben hat seine Zeit, EKD-Texte 80, 2005.
 
Literatur  
Hartmut Kreß, Medizinische Ethik, Stuttgart 2003, S. 162 – 191
Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz, Sterbehilfe und Sterbebegleitung, Bericht vom 23. April 2004  (www.justiz.rlp.de → Ministerium → Bioethik)
Nationaler Ethikrat, Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, 13. Juli 2006 (www.ethikrat.org)
Torsten Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung. Gutachten C für den
66. Deutschen Juristentag, München 2006

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