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Krieg der Welten

Niall Ferguson wirft einen imperialen Blick auf das 20. Jahrhundert.

aus vorgänge Nr.175, (Heft 3/2006), S.159-162

Rechtzeitig zum Start einer gleichnamigen Fernsehserie ist im Juni Niall Fergusons neues Opus Magnum in Großbritannien erschienen. Unter dem schmissigen Titel „Welt im Krieg. Was lief schief im 20. Jahrhundert?“ kommt es im Oktober auch auf den deutschen Markt. „War of the World“, so der Autor, sei das Ergebnis einer neunjährigen Arbeit. Thema ist der „fünfzigjährige Krieg“ zwischen 1903 und 1953, also die Zeitspanne zwischen russisch-japanischem Krieg und dem Waffenstillstand in Korea. Dieser Abschnitt, so die zentrale These, bilde eine Einheit, das globale Zeitalter des Hasses.

Niall Ferguson Welt im Krieg  Was lief schief im 20. Jahrhundert? Propyläen Verlag Berlin 2006  960 S.  29,90Euro

Das Grundthema sieht der Autor in H. G. Wells’ kürzlich wiederverfilmten Science -Fiction-Klassiker „Krieg der Welten“ (1898) veranschaulicht und gleichsam vorweggenommen. Die extreme Gewalt, welche zwischen 1903 und 1953 rund um den Globus tobte, habe dem Zeitalter ihren Stempel aufgedrückt und unterscheide sich deutlich vom weitgehend durch Stabilität und kurze Waffengänge gekennzeichneten 19. Jahrhundert.
Ethnische Konflikte, ökonomische Instabilität und untergehende Imperien bilden die drei großen Hintergründe des Hasses. Zwischen den Hauptschauplätzen, dem jüdischen Siedlungsgürtel in Mittel- und Osteuropa und den japanischen Eroberungen in China und Korea hin- und herwechselnd, wird die These von einem globalen Phänomen ethnischen Hasses plausibel gemacht. Zahlreiche Schautafeln und Statistiken belegen, dass nicht etwa nur zu Zeiten wirtschaftlicher Krisen Pogrome und rassistische Übergriffe auftraten, sondern gerade auch in Zeiten ökonomischen Aufschwungs.
Mit der These von den untergehenden Imperien als Brutstätten der schlimmsten Gewaltausbrüche knüpft Ferguson wieder an den Imperiumsdiskurs an, der bereits die beiden Vorgängerwerke „Empire: How Britain made the modern world“ und „Colossus: The Rise and Decline of American Power“ bestimmt hatte. An den Beispielen des russischen Bürgerkrieges oder der Gräuel zwischen Türken und Griechen nach dem Ersten Weltkrieg wird deutlich, wie aufkeimender Nationalismus in einem Umfeld sich auflösender Vielvölkergebilde in extreme Gewalt unter den ehemals friedlich miteinander lebenden Nachbarn münden kann: „When a multi-ethnic empire mutates into a nation state, the result can only be carnage.”
Mit diesem theoretischen Grundgerüst macht sich Ferguson nun auf und versucht, die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts neu zu deuten. Auffallend ist dabei zunächst, dass alle Thesen und Schlüsse bereits im siebzig seitigen Vorwort entfaltet werden, und sich das anschließende Werk zum großen Teil wie deren Ausformulierung liest. Einmal mehr verwendet der Autor dabei seinen originellen Stil der Geschichtserzählung, welcher sich durch einen hohen Grad lebensweltlicher Anschaulichkeit auszeichnet, ohne dabei rein sozialgeschichtlich daher zu kommen. Imperiumsdiskurs und demographisch-evolutionäre Erwägungen komplettieren Fergusons „narrative history“, die ihn in Großbritannien zum „Star-Historiker“ werden ließ. Die Plattentektonik-Metaphorik als Beschreibung der Schnittstellen zwischen den Vielvölkerreichen etwa auf dem Balkan oder in der Mandschurei mitsamt den entsprechenden „Erdbeben“ sei als Beispiel hierfür genannt.
Weiterhin verwendet Ferguson, wie schon in seinen Vorgängerwerken, vor allem Romanausschnitte als Quellen und Belege. So liest sich das Kapitel über den Ersten Weltkrieg eher wie eine Analyse europäischer Weltkriegsliteratur (Remarque, Manning, Barbusse, Lussu) als eine Geschichtsdarstellung. Auch um die Grauen der Moskauer Schauprozesse und des Gulag anschaulich zu machen, greift der Autor auf Romanautoren zurück (Bulgakow und Koestler). Darüber hinaus werden keine Quellen- oder Literaturhinweise gemacht. Die Auseinandersetzung mit Fachkollegen wird äußerst sporadisch und oberflächlich betrieben: Neben dem mittlerweile rituellen Bestreiten von Francis Fukuyamas (so niemals gemeinten) „Ende der Geschichte“ wird etwa Eric Hobsbawms These vom „kurzen 20. Jahrhundert“ (1917-1989) als „unzureichend“ abgekanzelt. Jürgen Habermas wird kurz vorgeworfen, im Historikerstreit eifrig das Dogma aufrechterhalten zu haben, dass „Dritte Reich“ könne nicht legitimer Weise mit Stalins Sowjetunion verglichen werden. Das jedoch hat Habermas seinerzeit nicht getan, sondern vielmehr auf die Singularität des Holocaust (etwa im Vergleich zum Gulag) bestanden. Nichts anderes macht zum Ende des Buches auch Ferguson, indem er feststellt, dass der „qualitative Unterschied“ zu anderen Massenmorden darin bestünde, dass der Holocaust von solch einem „weit entwickelten“ Volk wie den Deutschen mit einem der (zumindest bis 1933) „fortschrittlichsten Bildungssystemen der Welt“ und unter der Führung eines Mannes, der demokratisch zur Macht kam, durchgeführt wurde – „ökonomisch“, „wissenschaftlich“ und „euphemistisch“, kurz: „sehr modern“. Ferguson ist hier in der Sache zunächst also gar nicht weit von Habermas entfernt – wenn sie sich auch bei der anschließenden Beurteilung, welche Schlüsse hieraus für das Konzept der Moderne zu ziehen seien, wieder weit voneinander entfernen. Auch geht es Ferguson, der das Handeln der Westmächte vor und im Weltkrieg äußerst kritisch bewert, nicht etwa um eine Relativierung der Schuld der Deutschen. Vielmehr greift er das Goldhagen-Wort von den „normalen Deutschen“ als „willige Vollstrecker“ auf, wenn die Verbrechen der Einsatzgruppen und Wehrmachtsoldaten im Osten beschrieben werden. 
Kontrovers zu beurteilen ist der Abschnitt über die Ursprünge des Zweiten Weltkriegs. Interessant und lehrreich ist dabei noch die gründliche Untersuchung der strategischen, sozialen und ökonomischen Hintergründe der britischen Appeasement -Politik der Dreißigerjahre. Wie sehr auf englischer Seite schon früh die Erkenntnis mitbestimmend war, dass das Empire einen neuerlichen Weltkrieg wohl nicht überleben würde, wird hier anhand von Zitaten führender Staatsmänner deutlich. Dann aber wird bestritten, dass der Krieg am 1. September in Polen begann. Ferguson kann dies tun, da er die These von Hitler und seinen Bundesgenossen als einzige Väter des Krieges als später vom Militärtribunal in Nürnberg verbreiteten „Mythos“ bezeichnet. Vielmehr sei Hitler sehr spät in den Krieg „eingetreten“, der in Asien 1937 oder schon 1931, in Afrika 1935, in Spanien 1936 oder in Albanien im April 1939 schon begonnen hatte. Schließlich versteigt er sich gar zu der Behauptung, der Krieg, der 1939 zwischen Deutschland, Frankreich und Polen ausbrach, sei „nahezu ebenso sehr der Fehler der Westmächte, und auch Polens gewesen wie Hitlers“. Selbst wenn man die rein feuilletonistische, durch keine wissenschaftlichen Fakten belegbare Behauptung über das Anfangsdatum des Zweiten Weltkrieges einmal außer Acht lässt, so ist es doch allein schon moralisch äußerst problematisch, den Angegriffenen, also Polen, auf eine Stufe mit dem Angreifer zu stellen, selbst wenn Polen und die Westmächte zuvor eine fehlerhafte und unkluge Politik betrieben haben.
Starker Tobak ist das und doch eine altbekannte These des britischen Historikers A.J.P. Taylor, mit der dieser in den Sechzigerjahren Furore machte. Taylor ist auch der einzige Historiker, mir dem Ferguson sich auseinandersetzt. Dieser habe jedoch nur „halb“ recht gehabt. Zwar sei die Inkompetenz der Westmächte von Taylor richtig erkannt worden, doch sei die These, dass Hitlers Politik in klarer Kontinuität zu derjenigen seiner Vorgänger gestanden habe, schlicht falsch: „Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.“ Weder mit Bismarck, der eine Koalition der Großmächte gegen Deutschland immer verhindern wollte und auf eine großdeutsche, Österreich umfassende Lösung verzichtet hatte, noch mit Kaiser Willhelm II. könne man Hitler vergleichen. Auch sei nicht lediglich die Revision von Versailles Hitlers Ziel gewesen. Vielmehr harmonierten Hitlers Ambitionen und dieses einzige alle politischen Kräfte Weimars verbindende Ziel eine Zeit lang, bis Hitler dann weit darüber hinausschoss.
Ebenso urteilsfreudig zeigt sich Ferguson schließlich bei einem weiteren Aspekt der „deutschen Katastrophe“ (die bei weitem den meisten Platz einnimmt), nämlich dem Bombenkrieg über deutschen Städten. „War die Strategie des Flächenbombardements irgendwie zu rechtfertigen?“ Diese Frage stellt der Autor zu Beginn und schildert dann sehr nüchtern was mit welchem Ziel passierte. Ohne namentlich genannt zu werden, wird Jörg Friedrich kritisiert, der in seinem Buch „Der Brand“ bewusst gängigerweise mit den Naziverbrechen assoziierte Begriffe wie „Vernichtung“ und „Einsatzgruppen“ für den Bombenkrieg der Alliierten verwendet hatte. Ferguson bestreitet nicht, dass das Inferno von Hamburg oder Dresden ein willkürliches Morden darstellte. Er stellt jedoch auch zu Recht klar, dass das Bomben niemals Selbstzweck, sondern immer darauf ausgerichtet war, Nazi-Deutschland zu besiegen und den Krieg zu beenden. Der Unterschied zu den Verbrechen der Deutschen („und das haben zuletzt wohl einige deutsche Autoren vergessen“) war, dass der Massenmord an Juden und anderen „Fremdrassigen“ stets Selbstzweck, neben der Eroberung von „Lebensraum“ im Osten das eigentliche Weltkriegsziel der Nazis war. Dennoch vermeidet Ferguson hier jegliche dichotomische Wertungen, indem er den Zweiten Weltkrieg nicht als Kampf „good vs. evil“, sondern als Kampf „evil vs. lesser evil“ begreift.
Danach ist der Rest des fünfzigjährigen „War of the World“ schnell erzählt. Was folgt ist der dreißigjährige „Third World’s War“, jener Epoche der im Schatten des Kalten Krieges ausgetragenen Stellvertreterkriege – wohl ein Ausblick auf das nächste Buchprojekt Fergusons. Der Epilog ist „Der Niedergang des Westens“ genannt, wohl um potentielle künftige Betrachtungen vorwegzunehmen. Einher geht dieser Niedergang mit dem Aufstieg Asiens, namentlich und vor allem Chinas. Hier werden düstere Andeutungen gemacht, etwa dass der eigentliche Nutznießer der berühmten Dreiecksdiplomatie Kissingers und Nixons nicht etwa die USA sondern China war. Mit der Erwähnung der Islamischen Revolution im Iran 1979 als Zeitenwende schafft der Autor schließlich den Anschluss an seine zeitgenössischen Weltpolitik-Kolumnen, die hierzulande regelmäßig in der WELT erscheinen.

Die Frage nach den ursprünglichen Gründen des Hasses kann Ferguson aus der Geschichte heraus nicht beantworten. Neben mehreren reichlich deplaziertren Versuchen, den nachlassenden christlichen Glauben in den westlichen Industriestaaten als Grund zu mobilisieren, verliert der Autor sich schließlich in ausblickhaften Verweisen auf die unabänderliche Conditio Humana. Sich der „dunklen Mächte“ bewusst zu sein, welche durch jene unheilvolle Mischung aus ethnischen Konflikten, imperialen Rivalitäten und ökonomischer Instabilität beschworen werden, biete die beste Gewähr ein weiteres Jahrhundert der Konflikte zu verhindern. Ferguson hat ein episches, trotz seiner vielen Mängel wichtiges Werk vorgelegt

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