Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 175: Sterben und Selbstbestimmung

Last exit Sterbe­hilfe?

Aus: vorgänge Nr.175, (Heft 2/2006), S.87-91

Forsa-Umfrage Ende 2005: 74 Prozent der Befragten beantworten die Frage, ob es Ärzten erlaubt sein sollte, unheilbar kranken Menschen auf deren persönlichen Wunsch hin ein tödliches Mittel zu verabreichen, mit Ja. – Der Ruf nach Sterbehilfe ist nicht neu, sondern erschallt schon seit alters her. Für Ärzte eine schwierige Anfrage, denn ihr Berufsethos verpflichtet sie darauf, Leben zu erhalten und wo möglich zu heilen, und verbietet ihnen, Leben zu beenden. Schon im ärztlichen Eid des Hippokrates heißt es: „Ich werde niemandem, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu raten…“
Dennoch erschallt der Ruf offenbar immer lauter, und er sollte uns zumindest sehr nachdenklich machen. Gleichzeitig reagieren Politik und ein Großteil der öffentlichen Meinungsführer mit einer fast reflexhaften Abwehr – und auch das sollte uns nachdenklich machen. Woher kommt dieses Auseinanderklaffen zwischen Volksvertretern und Bevölkerung? Und woher kommt der Wunsch so vieler Menschen nach der tödlichen Pille oder der Giftspritze – in einer der  reichsten Gesellschaften der Erde mit einem hoch entwickelten Gesundheitssystem, dessen Leistungen doch allen Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung stehen sollten?

Hilflose Anhängsel der Appara­te­me­dizin

Paradoxerweise ist es vor allem der medizinische Fortschritt selbst, der in vielen Menschen den Wunsch weckt, selbst entscheiden zu können, wann sie ihr Leben beenden wollen:
Die Apparatemedizin hat den Prozess des Sterbens verändert. Sie ist Ausfluss eines schulmedizinisch geprägten Gesundheitssystems, in dem der Tod eines Patienten als Versagen gilt mit der Folge, dass alles getan wird, um diesen Tod hinauszuzögern. Viele Ärzte sind überfordert von der Vorstellung, einem Schwerstkranken und seinen Angehörigen zu vermitteln, dass es keine Aussichten auf Heilung mehr gibt. Umgekehrt schrecken auch viele Patienten und Angehörige davor zurück, sich auf den nahenden Tod einzulassen. Ergebnis sind Operationen oder so genannte Therapien, die den Schwerstkranken nur noch quälen, anstatt sein Leiden zu lindern oder gar Heilung zu ermöglichen.
Die Angst, am Lebensende als hilfloses Anhängsel der Apparatemedizin dahin zu vegetieren, wird noch verstärkt durch Berichte über Missstände in vielen deutschen Altersheimen: Das Grausen vor der berüchtigten „Satt und Sauber“-Pflege sitzt tief: Patienten werden entmündigt, es werden ihnen Inkontinenzeinlagen und eine Magensonde verpasst und Bettgitter hochgezogen – weil weder genug Zeit noch Personal zur Verfügung steht, um auf die individuellen Bedürfnisse einzugehen.
Seit die Große Koalition in der Föderalismusreform das Heimrecht den Ländern     überlassen hat, ist zudem die Chance vertan, für einheitlich hohe Pflegestandards in den Heimen zu sorgen. Die Patienten in Alten- und Pflegeheimen drohen jetzt dem Wettbewerb um die niedrigsten Standards anheim zu fallen. Dazu kommt die bereits seit Jahrzehnten fortschreitende Erosion der überkommenen Familienstrukturen. Immer mehr Menschen leben allein, immer mehr Alte vereinsamen. Die meisten Menschen wünschen sich, zu Hause im Kreise der Lieben zu sterben. Realisieren lässt sich dieser Wunsch jedoch für immer weniger Menschen und unter immer größeren Schwierigkeiten. Und es gibt noch eine berechtigte Angst, die allerdings in den Debatten ums Lebensende meist nicht im Blick ist: die Angst vor Unterversorgung anstatt vor Überversorgung. Tatsächlich sind es bei Weitem nicht nur die Auswüchse der Apparatemedizin, die ein selbstbestimmtes Leben am Lebensende verhindern – sondern unangemessene Rationierungen sinnvoller und vom Patienten ausdrücklich erwünschter Leistungen: wenn Patienten beispielsweise nicht nach Hause entlassen werden, weil häusliche Pflege teurer ist als stationäre Pflege und die Kostenträger sich weigern zu zahlen.

Anerkennung oder Autonomie: Worum geht es am Lebensende?

Die Apparatemedizin und der medizinische Fortschritt generell, so viel wir ihm andererseits verdanken, haben das Problem der Menschenwürde am Lebensende nicht geklärt. Apparatemedizin hilft, Leben zu verlängern, sie verhilft aber nicht zu einem menschenwürdigen Sterben.
Erklärt sich die hohe Zustimmung zur Sterbehilfe aber tatsächlich nur aus der Angst vor der Apparatemedizin? Ich glaube, dass die Gründe tiefer liegen. Für viele – gerade für diejenigen, die ein sehr aktives und unabhängiges Leben führen – ist bereits die Vorstellung erschreckend, auf Hilfe angewiesen zu sein, bettlägerig und damit anderen zur Last fallend. Umso unerträglicher erscheint die Aussicht darauf, womöglich eines Tages als Alzheimerpatient oder Demenzkranker keine kommunikationsfähige und rational   agierende Persönlichkeit mehr zu sein – also nicht mehr der Inbegriff des modernen aufgeklärten Subjekts zu sein. Es gibt Textbausteine für Patientenverfügungen, mit deren Hilfe die Verfasser genau festlegen können, dass sie nicht mehr therapiert werden und auch nicht mehr ernährt werden wollen, wenn sie wegen geistigen Verfalls zu „bewusstem Leben“ oder intellektuellen Leistungen nicht mehr in der Lage sind.

Autonomie und Selbstbestimmung – das Grundrecht auf Integrität der Persönlichkeit – sind hohe Werte, die jederzeit gegen Übergriffe des Staates zu verteidigen sind. Und doch ist fraglich, ob „Autonomie“ eine angemessene Kategorie ist, um die Situation am Lebensende zu beurteilen: „Gerade am Lebensende (haben) viele Patienten nicht in erster Linie ein Interesse an der Verwirklichung eines einseitig die individuelle Selbstbestimmung betonenden Lebensentwurfs. Nein, sie wünschen sich vielmehr, anerkannt zu werden, so hilfs- und unterstützungsbedürftig, wie sie sind, und nicht den Eindruck haben zu müssen, anderen zur Last zu fallen.“1
 Die Angst vor Abhängigkeit und vor Verlust an Autonomie ist mehr als verständlich und den meisten von uns sehr vertraut – und doch zeigt sich in ihr noch etwas anderes als nur die Angst vor der Janusköpfigkeit des medizinischen Fortschritts: Es zeigt sich hier auch, dass wir ein Selbstbild entwickelt haben, das Angewiesensein auf andere und körperliche Versehrtheit nicht mehr zulässt.

„Ars moriendi“ wieder entdecken

Es klingt makaber, aber ganz offensichtlich wird die Angst vor dem Sterben bei vielen Menschen verdrängt durch die Angst vor dem Leiden und dem unwürdigen Zustand, als der es empfunden wird, von Pflege abhängig zu sein und anderen womöglich zur Last zu fallen.
Aber: Sterben muss man – die gefürchtete Situation am Lebensende dagegen haben wir selbst geschaffen. Sie ist nicht nur ein Ergebnis des medizinischen Fortschritts, sondern auch der jahrzehntelangen gesellschaftlichen Verdrängung von Altern, Leiden und Tod. Wir haben diese Lebensphase immer stärker in Heime und Krankenhäuser abgeschoben – darum erschreckt uns die Vorstellung jetzt umso mehr, eines Tages selbst dort zu sein, als Anhängsel der Apparate.
Im Mittelalter gab es eine „ars moriendi“ – eine Kunst des guten Sterbens. Sie bestand vor allem darin, den Sinn des Sterbens zu vermitteln: die besondere Sinnhaftigkeit, die der letzten Lebensphase vorbehalten sein kann. Diese ars moriendi war eng verknüpft mit der „ars vivendi“, einer Kunst des guten Lebens. Gutes Leben und gutes Sterben gehören zusammen. Von dieser Einsicht haben wir uns weit entfernt.

Keine Angebote außer dem Tötungs­an­ge­bot?

Deutschland, immer noch eines der reichsten Länder weltweit mit einem der teuersten Gesundheitssysteme, leistet sich erschreckend wenig, um ein menschenwürdiges, schmerzfreies und gutes Sterben zu ermöglichen. Dabei liegt vieles von dem auf der Hand, was zu tun wäre. Auch die Enquetekommission des Bundestages „Ethik und Recht in der modernen Medizin“ aus der letzten Legislaturperiode hat in ihrem fraktionsübergreifend verabschiedeten Bericht zur Verbesserung der Versorgung Schwerstkranker und Sterbender in Deutschland vieles von dem bereits detailliert benannt, was nötig wäre – die große Koalition hat es aber bislang nicht aufgegriffen. Um hier nur die wichtigsten Maßnahmen aufzulisten:
Die Palliativmedizin ist ein multidisziplinärer Begleitungs – , Behandlungs – und Betreuungsansatz, der in der Lage ist, durch Schmerztherapie Leid zu lindern und ein aktives Leben bzw. eine möglichst gute Lebensqualität bis zum Tod zu gewährleisten, wenn Heilung nicht mehr möglich ist. Von 850 000 Menschen, die in Deutschland jährlich sterben, kommen  aber nur rund 2 % in den Genuss  von Palliativversorgung. Wir brauchen daher dringend eine flächendeckende Einführung von sogenannten Palliativ-Care-Teams, um den Menschen auch zu Hause und ambulant ein Lebensende in Würde und ohne Schmerzen zu ermöglichen.
Voraussetzung dafür ist es, den Anspruch des einzelnen Patienten auf bedarfsgerechte Palliativversorgung gesetzlich abzusichern (im Rahmen einer Novellierung des SGB V und des SGB XI). Das impliziert, dass die Kostenträger stationäre und ambulante palliativmedizinische Versorgung angemessen finanzieren. Außerdem muss die Palliativmedizin zum Pflichtbestandteil der Ausbildung von Ärzten und Pflegern gemacht werden – durch eine entsprechende Änderung der Ärztlichen Approbationsordnung sowie der grundständigen Ausbildung für Krankenpflege- und Altenpflegeberufe.
Neue Netzwerke müssen dort etabliert werden, wo keine Familienstrukturen (mehr) vorhanden sind, um die Pflege von Schwerstkranken so zu organisieren, wie sie selbst es sich wünschen. Dazu brauchen wir Case Manager und Sozialarbeiter, die überforderte Angehörige an die Hand nehmen und ein soziales Umfeld organisieren können. Die ehrenamtliche Hospizarbeit muss finanziell besser abgesichert werden, indem die Kostenträger dazu gezwungen werden, mit den Hospizen tatsächlich kostendeckende Bedarfssätze zu  vereinbaren. Wir brauchen eine Freistellungsregelung, die Berufstätigen eine Auszeit zur Sterbebegleitung und Pflege von Angehörigen ermöglicht, inklusive sozialrechtlicher Absicherung und  Kündigungsschutz.
Nicht zuletzt brauchen wir eine ehrliche, nicht moralisierende gesellschaftliche Debatte über Pflege, Altern, Sterben und die Frage nach Menschenwürde und größtmöglicher Autonomie am Lebensende.
Und was ist mit der Legalisierung von Sterbehilfe? Müsste die Politik nicht endlich dem Druck der Umfrageergebnisse nachgeben und gesetzlich ermöglichen, dass Ärzte ihren Patienten zum gewünschten Tod verhelfen? Es gibt andere Umfragen, die mich ziemlich nachdenklich gemacht haben: Die Deutsche Hospizstiftung hat Ende 2005     ebenfalls nach der Zustimmung zu aktiver Sterbehilfe gefragt – hat aber der Frage eine Erläuterung vorausgeschickt, die eine Alternative beschreibt:
„Unter Palliativmedizin und Hospizarbeit versteht man eine moderne Schmerztherapie kombiniert mit seelsorglicher und sozialer Begleitung von Schwerstkranken. Ärztliche Erfahrungen auf diesem Gebiet haben gezeigt, dass so, unter Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten, eine hohe Lebensqualität bis zuletzt gesichert werden kann. Der natürliche Sterbeprozess wird weder künstlich verlängert noch verkürzt. Unter aktiver Sterbehilfe versteht man die Tötung eines Menschen auf dessen Verlangen oder auch ohne dessen Zustimmung. Wenn Sie das wissen, befürworten Sie dann bei Schwerstkranken und Sterbenden den kombinierten Einsatz von Palliativmedizin und Hospizarbeit oder sind Sie eher für aktive Sterbehilfe?“2

Das Ergebnis: Nur 35 Prozent der Befragten sprachen sich für aktive Sterbehilfe aus; 56 Prozent bevorzugten den Einsatz von Palliativmedizin und Hospizarbeit. Selbst wenn man in Betracht zieht, dass die Frage suggestiv gestellt ist, indem sie die Möglichkeiten der Schmerzmedizin in sehr positivem Licht und umgekehrt die Sterbehilfe im Lichte des Verdachts auf Missbrauch erscheinen lässt: Es ist doch erstaunlich, wie sehr der Wunsch nach Sterbehilfe nachlässt, sobald andere Wege aus der befürchteten unwürdigen Situation am Lebensende angeboten werden. – Das entspricht auch den Erfahrungen in den Niederlanden, wo die Euthanasie, also die aktive Sterbehilfe, seit 01. 04. 2002 legalisiert ist. Gleichzeitig wurde in wenigen Jahren eine nahezu flächendeckende Palliativversorgung aufgebaut – und seitdem sinken die gemeldeten Fälle von Sterbehilfe. Das wird in den Niederlanden auch als ein Hinweis darauf gedeutet, „dass die verbesserte Palliativversorgung dazu beigetragen hat, Anträge auf Sterbehilfe in einem gewissen Umfang zu vermeiden“.3
Bevor wir also über die Legalisierung von aktiver Sterbehilfe diskutieren, müssen wir das Dickicht lüften und alles tun, was für ein „gutes Sterben“ getan werden kann. Es wäre ein Armutszeugnis für die Politik, wenn ihr außer dem Tötungsangebot nichts einfiele, um die Situation Schwerstkranker und Sterbender zu verbessern. Was nicht sein darf: dass wir alles andere versäumen und dann Sterbehilfe als vermeintlich einzigen Ausweg anbieten.
 
1    Tolmein, Oliver: Keiner stirbt für sich allein. Sterbehilfe, Pflegenotstand und das Recht auf Selbstbestimmung, S. 228
2     Deutsche Hospizstiftung: Was denken die Deutschen wirklich über Sterbehilfe? Oktober 2005
3   Jahresbericht 2003 der (Niederländischen) Regionalen Kontrollkommission für Sterbehilfe, siehe auch Tolmein S. 207.

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