Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 175: Sterben und Selbstbestimmung

Rechts­si­cher­heit tut not

Plädoyer für eine strafrechtliche Regelung der Sterbehilfe .

Aus: vorgänge Nr.175, (Heft 2/2006), S.72-80

 

1. Status quo: Schweigen des Gesetzes

Die seit vielen Jahren mit wechselnder Intensität geführte, aber nie zur Ruhe gekommene Diskussion über die sog. Sterbehilfe erlebt derzeit wieder einen Höhepunkt. Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH), die international viel beachteten Fälle von Diane Pretty und Terri Schiavo, die Sterbehilfegesetze in den Niederlanden und Belgien, die Eröffnung der ersten deutschen Geschäftsstelle der Schweizer Sterbehilfeorganisation DIGNITAS in Hannover und nicht zuletzt die durch den ehemaligen Hamburger Justizsenator Kusch wieder angefachte und von den Medien dankbar aufgegriffene Debatte über die Legalisierung aktiver Sterbehilfe haben den Druck auf den deutschen Gesetzgeber verstärkt, Vorschriften zu erlassen, aus denen sich die Grenzen der ärztlichen Lebenserhaltungspflicht ergeben. Die Rechtslage ist hierzulande nach wie vor dadurch gekennzeichnet, dass gesetzliche Bestimmungen über die Zulässigkeit von Behandlungsbegrenzungen oder lebensverkürzenden Maßnahmen der Leidensminderung fehlen.
Die im Strafgesetzbuch (StGB) enthaltenen Tötungsdelikte, insbesondere das in § 216 StGB geregelte Verbot der Tötung auf Verlangen, erwecken den Eindruck einer ausnahmslos geltenden Lebenserhaltungspflicht des Arztes. Sie stammen noch aus einer Zeit, in der die heutigen medizinischen Möglichkeiten der Manipulation des Todeszeitpunkts unvorstellbar waren und der Begriff der Patientenautonomie keine Bedeutung hatte. Aus der Systematik des Gesetzes ergibt sich allein die Straflosigkeit des Suizids und demzufolge auch der Beihilfe dazu. Der BGH1 hat diese gesetzgeberische Wertung jedoch durch die Konstruktion einer Rettungspflicht gegenüber dem handlungsunfähig gewordenen Suizidenten umgangen. Im Zivilrecht, namentlich im Betreuungsrecht finden sich keine Regelungen, die ausdrücklich auf die Situation eines todkranken Patienten Bezug nehmen. Weder ist dort das Vorsorgeinstrument der Patientenverfügung abgesichert noch die Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts zur Überprüfung von Behandlungsbegrenzungen bei dauerhaft entscheidungsunfähigen Patienten eindeutig geregelt.
Wie groß das Bedürfnis für eine gesetzliche Klarstellung geworden ist, zeigt die Vielzahl von Stellungnahmen und Gesetzesinitiativen, die mittlerweile von unterschiedlichen Gremien vorgelegt wurden2. Derzeit bestehen gute Aussichten, dass es noch in dieser Legislaturperiode wenigstens zu einer Reform des Betreuungsrechts kommen wird, bei der es um die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen und die Prüfungszuständigkeit der Vormundschaftsgerichte geht. Die strafrechtliche Abteilung des 66. Deutschen Juristentags (DJT), der in diesem Jahr in Stuttgart stattfand, befasste sich mit der Frage, welchen darüber hinaus gehenden Beitrag das Strafrecht zur Entspannung der Sterbehilfediskussion leisten kann. Der Verf. war Gutachter für den 66. DJT3 und ist Mitglied eines Arbeitskreises deutscher, schweizerischer und österreichischer Strafrechtslehrer, die im Oktober 2005 einen Vorschlag zur Reform des StGB, den „Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung“ (AE -StB)4 vorgelegt haben, der im Folgenden näher dargelegt werden soll.

2. Rückblick: Recht­spre­chung und Standes­recht sollen es richten

Derselbe Arbeitskreis hatte bereits anlässlich des 56. DJT im Jahr 1986 seinen viel beachteten „Alternativ-Entwurf-Sterbehilfe“ vorgelegt. Damals war die Mehrheit der Teilnehmer des DJT jedoch der Ansicht, dass Ergänzungen des StGB nicht erforderlich seien, da ein breiter Konsens über die Zulässigkeit sog. passiver und indirekter Sterbehilfe herrsche und es der Strafrechtsprechung, aber auch den ärztlichen Standesregeln gelingen werde, flexible Antworten auf die Herausforderungen durch den medizintechnischen Fortschritt zu geben. Die einzige Regelungsempfehlung, die der 56. DJT seinerzeit ausgesprochen hat, war – und das verdient besondere Beachtung angesichts der Emotionalität, mit der heute über diese Frage diskutiert wird – ein Absehen von Strafe für solche Tötungen auf Verlangen vorzusehen, die der Beendigung eines unerträglichen und nicht anders zu behebenden Leidenszustandes dienen (§ 216 Abs. 2 AE-Sterbehilfe). Aus heutiger Sicht ebenso erstaunlich ist, dass sich auf dem 56. DJT auch und gerade Mediziner gegen weitere gesetzliche Regelung ausgesprochen und vor juristisch normativem Denken im Sterbezimmer gewarnt haben.
Wenn die Bioethik-Kommission Rheinlandpfalz feststellt, dass der seinerzeit gegen eine Änderung des StGB vorgebrachte Einwand einer Verrechtlichung des Arztberufs „heute mehr denn je an den Bedürfnissen der Praxis vorbei (geht)“ und der 12. Zivilsenat des BGH in einer Entscheidung vom 8. Juni 20055 zu der Einschätzung kommt, „die strafrechtlichen Grenzen einer Sterbehilfe im weiteren Sinn“ seien „bislang nicht hinreichend geklärt“, zeigt dies in aller Deutlichkeit, dass sich die Hoffnungen auf Rechtssicherheit ohne eine Reform des StGB nicht erfüllt haben. Es sei dahingestellt, ob die Rechtslage tatsächlich so unklar ist, wie der 12. Zivilsenat meint, der durch seine Entscheidung vom 17. März 20036 selbst viel zur Verwirrung beigetragen hat. Denn die Strafrechtsprechung hat sich durchaus bemüht, die Lückenhaftigkeit des Gesetzes durch Leitentscheidungen über Fälle erlaubter Sterbehilfe zu kompensieren, konnte freilich nicht auf alle Fragen (befriedigende) Antworten geben. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass es offenbar weder der Rechtsprechung noch den erst 1998 von ihrem vormals paternalistischen Geist befreiten Grundsätzen der Bundesärztekammer (BÄK)7 gelungen ist, das Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmungsrecht und Lebenserhaltungspflicht in einer für alle Beteiligten transparenten und widerspruchsfreien Weise aufzulösen. Offenbar haben wir Strafjuristen die Schwierigkeiten unterschätzt, die damit verbunden sind, eine sich nur aus der Kenntnis höchstrichterlicher Entscheidungen ergebende Rechtslage auch außerhalb der Fachkreise verständlich zu machen. Jedenfalls belegen zahlreiche Umfragen, dass allen bisherigen Aufklärungs- und Fortbildungsbemühungen zum Trotz unter Ärzten, ja sogar unter Vormundschaftsrichtern erhebliche Unsicherheit bei der Unterscheidung zwischen erlaubten und verbotenen Formen der Sterbehilfe herrscht8.
Neben der mangelnden Publizität der von der Strafrechtsprechung anerkannten Fälle zulässiger Sterbehilfe, ist dafür die Missverständlichkeit der überkommenen und im Bewusstsein von Ärzten und Juristen fest verankerten terminologischen Differenzierung zwischen verbotener „aktiver“ und erlaubter „passiver“ Sterbehilfe verantwortlich. Sie erweckt den Eindruck, als sei der Arzt nur zu einer Nonintervention befugt, dagegen nicht berechtigt, eine einmal eingeleitete apparative lebenserhaltende Behandlung durch aktives Handeln wieder zu beenden. Die rechtliche Bewertung hängt jedoch nicht von der oftmals zufälligen äußeren Handlungsform ab, sondern richtet sich danach, ob der natürliche Verlauf einer tödlichen Erkrankung nicht länger durch medizinische Maßnahmen aufgehalten wird oder das Leben des Patienten durch einen nicht indizierten Eingriff vorzeitig und insoweit unabhängig vom Krankheitsverlauf beendet wird. Für Verunsicherung sorgt weiterhin die mitunter sogar von Juristen aufgestellte Behauptung, die künstliche Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr sei ein unverzichtbarer Bestandteil der sog. Basisversorgung des Patienten. Diese Ansicht ist jedoch weder mit den bisher von der Rechtsprechung entschiedenen Fällen, in denen es nahezu ausnahmslos um die Voraussetzungen der erlaubten Einstellung künstlicher Ernährung ging, noch mit den aktuellen Grundsätzen der BÄK in Einklang zu bringen.
Schließlich haben neuere Entscheidungen von Zivilgerichten zu Irritationen über die Maßgeblichkeit des Patientenwillens selbst in solchen Fällen geführt, in denen dieser klar zum Ausdruck gekommen ist. Dabei hatten viele ihre Hoffnungen gerade auf das der Privatautonomie verpflichtete Zivilrecht gesetzt, das im Gegensatz zur strafrechtlichen ex post Perspektive vorsorgliche Regelungs- und Kontrollmöglichkeiten eröffnet und nicht auf die repressive Sanktionierung kriminellen Handelns fokussiert ist. Trotz einer entsprechenden Aufforderung durch den 63. DJT, der sich im Jahr 2000 mit der Frage „Empfehlen sich zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens?“ befasste, sah der Gesetzgeber bislang keine Veranlassung, das BGB um Vorschriften zur instrumentellen und prozeduralen Absicherung der Patientenautonomie zu ergänzen.

3. Begrenzte Regelungs­be­reit­schaft: Änderung                        des Betreu­ungs­rechts

Das soll sich nun aber ändern. In ihrem Koalitionsvertrag haben sich die Regierungsparteien zu einer Regelung über Patientenverfügungen verpflichtet, mit der nach Aussagen der Bundesjustizministerin für das Jahr 2007 gerechnet werden kann. Zu erwarten ist weiterhin eine gesetzliche Klärung der Frage, in welchen Fällen eine vormundschaftsgerichtliche Genehmigung von Behandlungsbegrenzungen erforderlich ist. Diese beiden Teilaspekte der Sterbehilfeproblematik stehen auch im Mittelpunkt der meisten Regelungsvorschläge.
a) Patientenverfügungen
Ein wesentlicher Ertrag der bisherigen Reformdiskussion ist die grundsätzliche Anerkennung der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen und die allseits erhobene Forderung nach ihrer gesetzlichen Verankerung. Heute besteht Einigkeit, dass eine eindeutige, die jeweilige Krankheits- und Behandlungssituation betreffende Patientenverfügung verbindlich ist, sofern keine konkreten Anhaltspunkte für eine Willensänderung oder mangelnde Einwilligungsfähigkeit im Zeitpunkt ihrer Abfassung bestehen. Es ist daher nicht länger zulässig, valide Patientenverfügungen mit dem pauschalen Hinweis auf die mangelnde Antizipierbarkeit von Behandlungswünschen abzuwerten.
Die verbliebenden Streitpunkte sind Ausdruck der unterschiedlichen Austarierung des Zielkonflikts zwischen dem Bemühen einerseits, die Ernsthaftigkeit und überlegtheit einer Vorausverfügung zu gewährleisten sowie Fehlinterpretationen und Missbrauch zu verhindern und dem Anliegen andererseits, keine unnötigen Hindernisse für die gewünschte stärkere Verbreitung von Patientenverfügungen zu schaffen. Es geht einmal um die Frage, ob Patientenverfügungen formlos, insbesondere mündlich gültig sind oder (mindestens) Schriftform haben müssen. Unterschiedlich sind auch die Auffassungen darüber, ob eine Patientenverfügung nur unter der Voraussetzung einer vorherigen ärztlichen Aufklärung verbindlich sein soll. Der gewichtigste Streitpunkt ist die von der Enquete-Kommission9 vertretene Begrenzung der Reichweite von Patientenverfügungen auf Fälle, in denen das Grundleiden irreversibel ist und trotz medizinischer Behandlung nach ärztlicher Erkenntnis zum Tode führen wird. Diese Beschränkung zielt darauf ab, vorausverfügte Behandlungsbegrenzungen für den Fall eines Wachkomas oder einer Demenzerkrankung auszuschließen und wird mit neueren Erkenntnissen über das Wachkoma und damit begründet, dass kein gesellschaftliches Klima entstehen dürfe, in dem Druck auf alte und/oder schwerkranke Menschen ausgeübt wird, um Behandlungsbegrenzungen zu bitten.
b) Vormundschaftsgerichtliche Kontrolle
Seit der Entscheidung des BGH vom 17. März 2003 wird nicht mehr darüber gestritten, ob Vormundschaftsgerichte überhaupt für die Überprüfung von Behandlungsbegrenzungen bei entscheidungsunfähigen Patienten zuständig sind, sondern nur noch, in welchem Umfang dies geschehen soll. In Anbetracht begrenzter Justizkapazitäten und der Sorge vor einer unnötigen Bürokratisierung von Behandlungsbegrenzungen wird mehrheitlich ein sog. Konfliktmodell befürwortet. Danach soll das Vormundschaftsgericht nur dann eingeschaltet werden, wenn es zwischen Ärzten und Betreuern zu Zweifeln oder zu einem Dissens bei der Beurteilung des Patientenwillens gekommen ist. Den Gegenpol bilden Stimmen, die eine regelhafte Einschaltung des Vormundschaftsgerichts und, wie etwa die Enquete-Kommission, sogar zusätzlich die vorherige Beratung des Patientenvertreters durch ein Ethikkonzil fordern. Klärungsbedürftig ist weiterhin, ob der vom Patienten durch eine Vorsorgevollmacht eingesetzte Bevollmächtigte im Unterschied zu dem vom Gericht bestellten Betreuer generell von der vormundschaftsgerichtlichen Kontrolle freigestellt werden soll.

4. Erfor­der­li­cher Regelungs­um­fang: Kernpunkte einer Reform des StGB

a) Primäre Regelungszuständigkeit des Strafrechts
Die genannten Ergänzungen des Betreuungsrechts sind zweifellos ein wichtiger Beitrag zur Absicherung des Selbstbestimmungsrechts und zur Rechtsklarheit im Umgang mit Patientenverfügungen. Sie betreffen jedoch nur einen Teilbereich der Sterbehilfe, da bislang nur wenige Patienten valide Patientenverfügung erstellt haben und auch nicht erwartet werden kann, dass sich deren Zahl beliebig steigern lässt.
Eine auf das Betreuungsrecht beschränkte Regelung würde aber vor allem dem Umstand nicht gerecht werden, dass die Furcht vor einem u.U. existenzbedrohenden Strafverfahren und nicht etwa die Sorge vor Verstößen gegen das Betreuungsrecht der Grund dafür ist, warum in der klinischen Praxis Zurückhaltung gegenüber einer vom Patienten (mutmaßlich) gewünschten Therapiebegrenzung besteht. Die Angst vor Strafverfolgung erweist sich neben palliativmedizinischen Ausbildungsdefiziten auch als Hindernis für eine effektive Schmerz- und Symptombehandlung. Betrachtet man allerdings die Kritik, die teilweise an den Vorschlägen geübt wird, die sich schon jetzt aus der Rechtsprechung des BGH ergebenden Möglichkeiten legaler Sterbehilfe im StGB klarzustellen, entsteht der Eindruck, dass manche die Rechtsunsicherheit bei Angehörigen und Ärzten nicht beseitigen wollen, um den eigenen, von der Strafrechtsprechung abweichenden Vorstellungen, über einen viel engeren Rahmen zulässiger Sterbehilfe Geltung zu verschaffen. Damit Ärzten die Angst vor dem „Staatsanwalt im Krankenhaus“ genommen und diese auch nicht weiter zur Durchsetzung bestimmter Therapieentscheidungen instrumentalisiert werden kann, macht der AE-StB den Vorschlag, Vorschriften in das StGB einzufügen, in denen geregelt ist, unter welchen Voraussetzungen Behandlungsbegrenzungen, lebensverkürzende leidensmindernde Maßnahmen und die Mitwirkung am Selbstmord straflos sind.

b) Strikte Beibehaltung des Verbots aktiver Sterbehilfe
In Übereinstimmung mit der wohl überwiegenden Auffassung unter Ärzten und Juristen, aber im Gegensatz zu den Ergebnissen – methodisch fragwürdiger – Bevölkerungsumfragen spricht sich der AE-StB für eine Beibehaltung des § 216 StGB aus und sieht auch kein Bedürfnis dafür, eine Ausnahmeregelung für denkbare Fälle unerträglichen, nicht anders als durch eine gezielte Tötung zu beendenden Leidens in das Gesetz aufzunehmen. Sollten derartige Fälle tatsächlich vorkommen, ist es Aufgabe der Rechtsprechung, eine gerechte Einzelfallentscheidung zu treffen. Der Versuch einer abstrakten gesetzlichen Umschreibung solcher ausnahmsweise straflos bleibenden Fälle gezielter Mitleidstötungen bringt zwangsläufig Abgrenzungs- und Missbrauchsprobleme mit sich und birgt die in den Niederlanden und Belgien bereits sichtbar gewordene Gefahr, einen einmal zugelassenen Einbruch in das Fremdtötungstabu auszuweiten. Die Autoren des AE -StB teilen die Sorge vor einer Aufweichung des Lebensschutzes durch einen auf Kranken und Alten lastenden Erwartungsdruck ebenso wie vor einem Nachlassen der Bemühungen um eine optimale medizinische und pflegerische Versorgung sowie emotionale Unterstützung dieser Menschen.
Sie verbinden ihre Absage an eine Lockerung des § 216 StGB aber mit einem Appell an den Gesetzgeber, der Praxis einen klaren und nicht zu eng bemessenen Rahmen für zulässige Sterbehilfe zur Verfügung zu stellen, in dem sich das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, aber auch ärztliche Ethik und Entscheidungsverantwortlichkeit entfalten und die medizinischen Möglichkeiten einer effektiven Schmerz- und Symptomkontrolle voll ausgeschöpft werden können.

c) Regelung der Fälle erlaubter Behandlungsbegrenzungen
Um das erwähnte Missverständnis über den Umfang erlaubter „passiver“ Sterbehilfe auszuräumen, schlägt der AE-StB eine Vorschrift (§ 214 StGB) vor, die 4 Fälle benennt, in denen das „Beenden, Begrenzen oder Unterlassen lebenserhaltender Maßnahmen“ gerechtfertigt ist.
(1) Da jeder medizinische Eingriff einer Einwilligung des Patienten bedarf, ist eine Behandlungsbegrenzung nicht nur zulässig, sondern sogar geboten, wenn sie dem ausdrücklichen und ernstlichen Verlangen des noch äußerungsfähigen Patienten entspricht.
(2) Das gleiche muss für die in einer validen schriftlichen Patientenverfügung angeordnete Behandlungsbegrenzung gelten. Freilich fällt es in die ärztliche Verantwortlichkeit, die Wirksamkeitsvoraussetzungen der Eindeutigkeit und Situationsbezogenheit sowie das Fehlen von Anhaltspunkten für eine Willensänderung zu prüfen, und ist dem Arzt in Fällen interpretationsbedürftiger Patientenverfügungen ein Beurteilungsspielraum zuzubilligen. Eine ärztliche Aufklärung des Patienten ist zwar wünschenswert, sollte aber keine zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung sein. Mit Nachdruck ist die von der Enquete-Kommission geforderte Begrenzung der Reichweite von Patientenverfügungen auf Grunderkrankungen, die einen irreversibel letalen Verlauf angenommen haben, abzulehnen. Eine solche Einschränkung der Patientenautonomie würde gerade diejenigen Krankheiten und Behandlungssituationen von einer vorsorglichen Regelung ausschließen, vor denen sich heute viele Menschen nachvollziehbar fürchten und die für sie der Grund sind, Patientenverfügungen zu errichten. Werden Patientenverfügungen auf diese Weise, aber auch durch die praxisfremde und großes Misstrauen gegenüber Ärzten und Patientenvertretern offenbarende Forderung nach einer obligatorischen doppelten Überprüfung durch ein Ethikkonsil und das Vormundschaftsgericht entwertet, hat dies unweigerlich lauter werdende Rufe nach einer Freigabe aktiver Sterbehilfe und weiteren Zulauf zu Sterbehilfeorganisationen zur Folge.

(3) Eine mehr oder weniger auf den nahen Tod begrenzte Reichweite von Patientenverfügungen macht schließlich auch deswegen keinen Sinn, weil Ärzte nach bisher ganz überwiegender Ansicht in der unmittelbaren Sterbephase ohnehin berechtigt sind, von sinnlos gewordenen lebenserhaltenden Maßnahmen abzusehen. Schon im Jahr 1984 hat der BGH darauf hingewiesen, dass „es keine Rechtsverpflichtung zur Erhaltung eines erlöschenden Lebens um jeden Preis gibt“ und, dass „nicht die Effizienz der Apparatur, sondern die an der Achtung des Lebens und der Menschenwürde ausgerichtete Einzelfallentscheidung die Grenze ärztlicher Behandlungspflicht (bestimmt)“. Eine ausdrückliche gesetzliche Anerkennung dieser auch als „Hilfe beim Sterben“ bezeichneten Fälle ist geboten, um Ärzten deutlich zu machen, dass ihnen das Strafrecht mitnichten eine generelle Pflicht zur Ausschöpfung ihres intensivmedizinischen Behandlungsarsenals auferlegt, aber auch, um ihnen den Rücken bei der Zurückweisung nicht mehr indizierter Behandlungswünsche von Patienten oder Angehörigen zu stärken, zumal die Grundsätze der BÄK auch in ihrer überarbeiteten Fassung noch immer den Eindruck erwecken, als sei der Arzt schon dann zur Behandlung verpflichtet, wenn der Patient dies verlangt.
(4) Können sich Patienten nicht mehr äußern und liegt keine (wirksame) Patientenverfügung vor, sind Behandlungsbegrenzungen auch im Vorfeld des Sterbeprozesses zulässig, wenn sie dem zuverlässig zu ermittelnden mutmaßlichen Willen des Patienten entsprechen. Die Notwendigkeit einer Regelung dieser besonders praxisrelevanten Fallgruppe ergibt sich aus der immer noch anzutreffenden Fehlvorstellung, die Behandlung des nicht mehr äußerungsfähigen Patienten richte sich nach der ärztlichen Indikation oder gar den Wünschen der Angehörigen. Außerdem muss deutlich werden, dass frühere Willensäußerungen auch dann beachtlich sind, wenn sie nicht die Form schriftlicher Patientenverfügungen haben.
Anders als noch der AE -Sterbehilfe von 1986 sieht der AE-StB keine besondere Regel für den Umgang mit Wachkomapatienten vor, so dass auch hier der mutmaßliche Wille maßgeblich ist. Der AE-StB hat sich nicht in der diskussionsbedürftigen Frage festgelegt, ob eine mutmaßlich gewünschte Behandlungsbegrenzung nur auf Anhaltspunkte für den individuellen Willen des Patienten gestützt werden darf oder, wenn diese fehlen, auf „allgemeine Wertvorstellungen“ gegründet werden kann, wie dies der BGH10 angenommen hat. Nach Ansicht des Verf. sollte dem Eintritt eines nach gesicherter ärztlicher Einschätzung irreversiblen Bewusstseinsverlusts die Bedeutung eines gewichtigen Indizes für einen fehlenden Weiterbehandlungswillen des Patienten zukommen. Um in diesen Fällen Klarheit zu schaffen, ist Patienten die Abfassung einer einschlägigen Patientenverfügung zu empfehlen; Ärzte sollten in geeigneten Fällen mit ihren Patienten rechtzeitig über deren Behandlungswünsche bei Eintritt eines voraussichtlich irreversiblen Bewusstseinsverlustes sprechen.

d) Klarstellung der Straflosigkeit todesbeschleunigender Leidensminderung
Um die nach der Rechtsprechung des BGH11 eigentlich unbegründete Scheu vor einer einverständlichen palliativen Medikation zu beseitigen, die mit dem unvermeidbaren Risiko einer Lebensverkürzung verbunden ist, sollte die Straflosigkeit der früher sog. indirekten Sterbehilfe ausdrücklich im StGB geregelt werden. Zwar gibt es aufgrund der Fortschritte in der Palliativmedizin nur noch wenige Fälle dieser Art. Doch muss auch hierfür eine klare Lösung gefunden und vor allem bedacht werden, dass die Voraussetzungen für eine optimale Schmerzbehandlung keineswegs in allen Einrichtungen bestehen. Der AE -StB hat einen Regelungsvorschlag (§ 214a StGB) gemacht, der zunächst einen weiten Rahmen absteckt, denn erlaubt soll – die nicht nur auf Schmerzen und die Sterbephase begrenzte – lebensverkürzende Leidenslinderung auch dann sein, wenn die Todesfolge vom Arzt sicher vorausgesehen, aber nicht beabsichtigt wurde. Um jedoch Schutzbehauptungen und Schwierigkeiten beim Nachweis einer Tötungsabsicht insbesondere in solchen Fällen zu verhindern, in denen es zu eigenmächtigen Serientötungen von Patienten aufgrund einer (angeblichen) Mitleidsmotivation gekommen ist, will der AE -StB die Straflosigkeit von der objektiven Voraussetzung abhängig machen, dass die Medikation nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft vorgenommen wurde. Zusätzlich soll die Einhaltung der schon jetzt bestehenden Dokumentationspflicht, aus der sich der Therapieverlauf, insbesondere die Art und Dosierung des Medikaments ergeben, durch eine Bußgeldandrohung abgesichert werden.

e) Differenzierte Regelung der (ärztlichen) Suizidbeihilfe
aa) Da der BGH seine im Widerspruch zur gesetzlichen Wertung, dass der Suizid straflos ist, stehende Ansicht, ein Arzt sei gegenüber einem handlungsunfähigen Suizidenten auch im Falle eines freiverantwortlichen Suizidentschlusses rettungspflichtig, bis heute nicht zurückgenommen hat, besteht das Bedürfnis für eine Klarstellung der Straflosigkeit der Nichtverhinderung einer freiverantwortlichen Selbsttötung (§ 215 StGB). Dem berechtigten Anliegen des BGH, die Mehrzahl bloßer Appellsuizide zu verhindern, wird dadurch Rechnung getragen, dass Straffreiheit nur dann eintritt, wenn die Selbsttötung auf einer „frei verantwortlichen und ernstlichen, ausdrücklich erklärten oder aus den Umständen erkennbaren Entscheidung beruht“. Damit wird die Straflosigkeit der unterlassen Rettung eines Suizidenten praktisch auf solche Fälle beschränkt, in denen der mit einem Suizid Konfrontierte genaue Kenntnis von der Person des Suizidenten und der Wohlüberlegtheit seines Selbsttötungsentschlusses hatte. Darüber hinaus stuft der AE-StB Suizidentscheidungen von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren generell als nicht freiverantwortlich ein.
bb) Im Unterschied zur strafrechtlichen Billigung der Suizidbeihilfe bewerten die Grundsätze der BÄK die ärztliche Suizidbeihilfe als ein dem ärztlichen Ethos widersprechendes Verhalten. Das standesrechtliche Verbot der Suizidbeihilfe ist sicherlich berechtigt, soweit Ärzte dadurch angehalten werden sollen, alle Möglichkeiten der Palliativmedizin auszuschöpfen und ihren Patienten Mut zu machen, sich nicht vorschnell aufzugeben. Die Rigidität, mit der das Standesrecht den ärztlich assistierten Suizid verwirft, wird jedoch solchen Fällen nicht gerecht, in denen unerträgliches und unheilbares Leiden mit den zur Verfügung stehenden medizinischen Maßnahmen nicht (mehr) ausreichend gelindert werden kann. Um Verzweiflungstaten solcher Patienten zu vermeiden, mit denen sie sich unnötige Leiden zufügen und auch andere Menschen in Gefahr bringen können, aber auch, um diese Menschen nicht in die Arme unseriöser Sterbehelfer zu treiben, sollte der ärztlich assistierte Suizid als ultima ratio und Alternative zur (verdeckten) aktiven Sterbehilfe auch vom Standesrecht toleriert werden. Für eine Überarbeitung der Grundsätze hat der AE -StB einen Regelungsvorschlag gemacht, der wiederum bußgeldbewehrte Dokumentationspflichten einschließt.
cc) An Art 115 des schweizerischen StGB hat sich der AE -StB bei seinem Vorschlag orientiert, einen neuen Straftatbestand der „Unterstützung einer Selbsttötung aus Gewinnsucht“ (§ 215a StGB) einzuführen. Im Unterschied zu allen anderen Regelungsempfehlungen handelt es sich hier um eine Kriminalisierung von Sterbehilfe. Mit ihr soll verhindert werden, dass die Straflosigkeit der Suizidbeihilfe und die psychische Notlage des Suizidwilligen zur Gewinnerzielung ausgenutzt werden. Die Mitwirkung am Suizid eines Sterbenskranken sollte ausschließlich einem humanitären, am ärztlichen Ethos ausgerichteten Engagement entspringen und darf wegen der nahe liegenden Missbrauchsgefahren nicht zum Gegenstand finanzieller Interessen eines Sterbehelfers werden.

5. Ausblick

 Die Vielzahl der jetzt vorliegenden Reformvorschläge hat zu einer argumentativen Sättigung, aber auch zu einem beachtlichen Maß an grundsätzlicher Übereinstimmung geführt, so dass es dem Gesetzgeber leicht fallen sollte, seine bisherige Regelungsscheu zu überwinden. Ärzte, Pflegekräfte, Patienten und deren Angehörige sowie Stellvertreter haben ein berechtigtes Interesse daran, bereits durch einen Blick in das Strafgesetzbuch und nicht erst nach dem Studium der (kommentierten) Strafrechtsprechung in Verbindung mit partiellen betreuungsrechtlichen Regelungen zu erfahren, welche Maßnahmen der Sterbehilfe zulässig sind. Denn es geht bei der Entscheidung über die Einstellung einer lebenserhaltenden Maßnahme, die Vornahme einer möglicherweise lebensverkürzenden Leidenslinderung und über die Mitwirkung an der Selbsttötung eines Kranken um die alles andere als unbedeutende Frage nach der Strafbarkeit vorsätzlicher oder fahrlässiger Tötung.
 

1    BGHSt 32, 367.
2   Den Anfang machte 2004 die Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz mit dem Bericht „Sterbehilfe und Sterbebegleitung“ (abrufbar unter http://www.justiz.rlp.de), zuletzt hat der Nationale Ethikrat eine Stellungnahme zu „Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“ abgegeben (http://www.ethikrat.org/stellungnahmen/pdf/Stellungnahme_Sterbebegleitung.pdf)
3    Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung. München 2006.
4    Schöch/Verrel, Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung (AE-StB), GA 2005, 553 ff.
5    BGH, NJW 2005, 2385.
6    BGHZ 154, 205.
7    Abgedruckt in DÄBl. 2004, A 1298.
8    S. dazu Janes/Schick, NStZ 2006, 485 f.
9   Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“, BT-Drucks. 15/3700 v. 13.9.2004 (http://www.bundestag.de/btd/15/037/1503700.pdf)
10  BGHSt 40, 257.
11  BGHSt 42, 301.

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