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Zwischen FDP und FR

Wirken und Wirkung des Politikers und Publizisten Karl-Hermann Flach.

Aus: vorgänge Nr.175, (Heft 3/2006), S. 140-147

„Demokratisierung bedeutet immer ein Stück Verflachung, zumindest in einer Übergangszeit. Nicht-Demokratisierung hieße aber Qualität bei einer Minderheit auf Kosten breiter Schichten.“1

Der Satz steht in einem schmalen grünen Bändchen  des Fischer-Verlags. Er ist 35 Jahre alt und stammt von Karl-Hermann Flach, einem Politiker und Publizisten, vielmehr einem Publizisten, der seinen Beruf politisch nutzte.
Er gehörte zu jenem in Deutschland raren Typus eines Intellektuellen, der sich als Journalist einmischte und als Politiker handelte. Ein Grenzgänger also war er zwischen Macht und Medien. Ein Grenzgänger aber mit einem inneren Kompass und mit Charisma. „Jeder muss seinen Weg nach dem Gesetz gehen, nach dem er einmal angetreten ist“, sagte er am 25. Oktober 1971 auf dem Freiburger Parteitag der FDP2, die ihn gerade  zu ihrem ersten Generalsekretär gewählt hatte. Und alle Versuche der Freunde und der Familie, alle Petitionen der Redakteurinnen und Redakteure der Frankfurter Rundschau, deren stellvertretender Chefredakteur er war,  ihn von diesem Schritt abzuhalten, waren gescheitert. Zwei Jahre später war dieser Mann, der sich selbst einen linken Radikal-Demokraten nannte, tot. Er bezahlte den „Preis der Macht“, den er Jahre zuvor (1967) beschrieben hatte. „Er besteht vor allem in ihrer Auslieferung an eine physisch und psychisch ununterbrochen anhaltende Spannungslage“3.

I.

Wer war dieser Mann, dem Hierarchien fremd waren und der eine in sich ruhende Autorität und Menschlichkeit ausstrahlte, die im hektischen Journalismus und im strapaziösen Parteialltag selten war und ist?
Karl-Hermann Flach, am 17. Oktober 1929 in Königsberg als Sohn eines Sägewerksdirektors geboren,  nannte sich selbst einen liberalen Preußen, verpflichtet der Aufklärung, der kritischen Vernunft und der Sittlichkeit. Im letzten Kriegsjahr wurde der 15 jährige zum Volkssturm eingezogen, mit der Mutter und zwei Schwestern flüchtete er von Ostpreußen nach Mecklenburg-Vorpommern, der Vater wurde mutmaßlich von den Sowjets ermordet. Als 17jähriger trat er in Rostock der Liberal-Demokrati-schen Partei bei, versuchte sein Abitur nachzuholen, musste jedoch die Schule abbrechen, weil er schwer an Tuberkulose erkrankte: eine Krankheit, die nie richtig ausheilte und ihn zeichnete. Bei der Parteizeitung der LDP lernte er sein journalistisches Handwerk. In der Partei stieg er 1949 in den Landesvorstand auf. Er gehörte zu dem politischen Freundeskreis um den Mecklenburger Radikal-Liberalen Arno Esch, dem nach Art der Schauprozesse Stalins 1949 in der DDR der Prozess gemacht wurde: Von den 14 Angeklagten wurden acht zum Tode verurteilt; andere erhielten bis zu 20 Jahre Haft, einige in den berüchtigten Lagern Sibiriens. Flach, geschützt und gewarnt durch Freunde, gelang noch gerade die Flucht nach West-Berlin.
Mit knapp zwanzig Jahren hatte Flach zwei Fluchten, eine Vertreibung und eine Verfolgung, hinter sich. Er knüpfte Kontakte zur West-Berliner FDP und studierte an der damaligen Hochschule für Politik, dem späteren Otto -Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin, bis zum Abschluss, ging dann in der Bundeshauptstadt Bonn auf Arbeitssuche und schlug sich publizistisch durch. In der FDP   gehörte er zu den jungen, treibenden Männern, die einen modernen Liberalismus einforderten. Er beschrieb den „dritten Weg“ zwischen dem klerikalen Konservativismus eines Konrad Adenauer und dem marxistischen Sozialismus der SPD, die ihren Godesberger Parteitag (1959) noch vor sich hatte. In seiner ersten „Praxisphase“ versuchte er zwischen 1959 und 1962 als Bundesgeschäftsführer der FDP die Partei zu öffnen, nicht nur für neue Wählergruppen sondern vor allem für eine sozialliberale Koalition mit der SPD eines Willy Brandt. Er scheiterte mit seinem Kurs am Parteivorsitzenden Erich Mende, einer rechts-national angehauchten, schillernden Figur, die weiter auf die Karten Adenauer und CDU/CSU setzte. Mit dieser „Kanzlerdämmerung“ wollte Flach nichts zu tun haben, so wechselte er von der Macht zu den Medien.
Mit 32 Jahren ging er als Ressortleiter Politik zur Frankfurter Rundschau, zwei Jahre später war er stellvertretender Chefredakteur bei einem Blatt, dessen Chefredakteur-Verleger-Herausgeber Karl Gerold  diesen streitbaren linksliberalen Kopf für ein neues politisches und überregionales Image brauchte. Acht, neun Jahre lang war Flach nicht nur der ruhende, intellektuelle Pol der Redaktion, sondern auch der einzige Mensch in der FR, den der gefürchtete, unbeherrschte und schwerkranke Gerold ertrug und respektierte. Von ihm duldete er Widerworte und akzeptierte, dass seine flammen werfenden, teilweise grauslich-emotionalen Rundumschläge von Flach in die lesbare Form eines Leitartikels gebracht wurden: Flach verzog sich dafür oft auf die Herrentoilette, um Gerolds Daueranrufen aus seinem Schweizer Haus zu entgehen.
Der schwierige Verleger und Chefredakteur aber ließ Flach als seinem Stellvertreter jeden publizistischen Freiraum, gab ihm schließlich in der Geschäftsführung Prokura. Hinter Flachs durch die Krankheit massig gewordenem Körper konnte sich eine junge Redaktion erproben, entfalten, austesten. Er schützte widerständige Geister, ermunterte die Jungen zu entschiedenen Kommentaren und verabscheute das Einerseits, Andererseits und Außerdem. Er verteidigte in Redaktionskonferenzen klare, aber begründete Meinungsäußerungen gegenüber allen Angriffen und Anfeindungen von innen und außen. Seine Toleranz gegenüber Andersdenkenden vor allem auch in der Redaktion war eine Herausforderung: für die einen, besonders verantwortungsbewusst und sorgfältig mit den Möglichkeiten des Journalismus umzugehen, schließlich definierte Flach Pressefreiheit als „treuhänderisch wahrgenommene Bürgerfreiheit“4. Für andere lag die Verführung nahe, den gewährten Freiraum für Kampagnen (zum Beispiel gegen die Notstandsgesetze) zu nutzen. Aus der Sicht einer kleinen Gruppe von eher älteren Kollegen  räumte er den Jungen viel zu viele Chancen ein, schickte sie auf Termine, Kongresse und Parteitage, um Politik dicht sehen und erfassen zu lernen.
Für die politische  Reaktion, zu der ich seit dem 1. Mai 1968 gehörte, war er der „Garant für die Unabhängigkeit und das Profil des Blattes“. So schrieben wir es in der Petition, mit der wir ihn zum Bleiben bewegen wollten. Als er am 25. August 1973 nach einer Hirnblutung aus dem Koma nicht mehr aufwachte, saßen wir in den Reaktionen, hackten auf den Schreibmaschinen herum, schnipselten, klebten und redigierten unsere Texte mit Tränen. Ich habe eine solche Trauer und ein solches Gefühl des Verlusts in den 33 Jahren meines aktiven Journalismus nie wieder erlebt.

II.

Wofür stand dieser Karl-Hermann Flach, der mit seinem Beruf Politik gemacht hat? War er Journalist oder Politiker? In seiner berühmten Rede über „Politik als Beruf“ am 25. Januar 1919 sah der Soziologe Max Weber die Antriebskraft eines Berufspolitikers im Machtgefühl. Er band dieses Machtgefühl aber an drei Bedingungen: an die Leidenschaft, an das Verantwortungsgefühl und an das Augenmaß. Flach erfüllte die drei Bedingungen, das Machtgefühl fehlte ihm allerdings. Seine Stärke lag in der Sprache und der Überzeugungskraft, mit der er für einen modernen Liberalismus warb. „Wer sich nicht klar und präzise ausdrücken kann, denkt auch meist verquollen,“5 ist einer seiner Sätze, an denen er sich selbst immer wieder maß. Er war darin so konsequent, dass er auf einen seiner Leitartikel mit einem Leserbrief in der FR antwortete und Punkt für Punkt seine Argumentation auseinander nahm. Der Brief wurde gedruckt und Flach enthüllte sehr vergnügt seine Autorenschaft.
Mit großer Entschiedenheit nutzte er – wie im übrigen zur selben Zeit auch die FDP-Mitglieder Ralf Dahrendorf über die „Zeit“ und Rudolf Augstein mit dem „Spiegel“ – seinen Beruf zur Aufklärung, eher noch zur Klärung, was Liberalismus im 20. Jahrhundert sein könnte und was er auf keinen Fall (mehr) sein dürfte. „Liberalismus“, so schreibt er in der Streitschrift, jenem legendären „grünen Buch“, „heißt Einsatz für größtmögliche Freiheit  des einzelnen Menschen und Wahrung der menschlichen Würde in jeder gegebenen oder sich verändernden gesellschaftlichen Situation.“ Das ist ein Liberalismus, der die Grundrechte des Grundgesetzes allen Menschen einräumt, die unter ihm leben, aufwachsen und arbeiten. „Liberalismus bedeutet demgemäß nicht Freiheit und Würde einer Schicht, sondern persönliche Freiheit und Menschenwürde der größtmöglichen Zahl“. Eine solche Auslegung erforderte eine offene Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus und derjenigen Schicht, die zum Kernmilieu der  FDP gehörte: Dem Besitzbürgertum. Und so spitzte Flach die Feder: „Der Kapitalismus als vermeintliche logische Folge des Liberalismus lastet auf ihm wie eine Hypothek. Die Befreiung des Liberalismus aus seiner Klassengebundenheit und damit vom Kapitalismus  ist daher die Voraussetzung seiner Zukunft“ (S.18).
Zwei weitere Sätze aus seiner Kapitalismuskritik verdienen es, aus der Versenkung geholt zu werden. Der eine lautet: „Das große Wort von der Gleichheit der Chancen blieb lange eine Phrase, hinter der sich extreme Ungleichheit tarnte.“ Und der zweite: „Der Kapitalismus wird nur überleben, wenn er  die Entwicklung zur ständig zunehmenden Ungleichheit stoppt und allmählich umkehrt.“ Auf diese Sätze wird zurückzukommen sein. Sie mögen sich als Widerhaken im Kopf festsetzen.
Wie aber bricht der Journalist Flach die Auslegungen des  Parteitheoretikers Flach herunter auf den politischen Alltag? Womit beginnt er seinen Kampf um die Köpfe der Menschen? „Man muss die Menschen nicht zu ihrem Glück zwingen: man muss mit ihnen diskutieren, um sie werben, sie zu überzeugen versuchen, auf ihre Emotionen Rücksicht nehmen“, schreibt er und räumt gleichzeitig ein: „Überzeugungsarbeit ist die härteste Arbeit, sie setzt Geduld und innere Stärke voraus.“ Und so drehte sich Flachs Kommentierung in den sechziger und frühen siebziger Jahren immer wieder um die Einlösung der Menschen- und Bürgerrechte in der deutschen Innenpolitik. Aus gegebenem aktuellen Anlass ist zu unterstreichen: vor über dreißig Jahren ging es diesem leidenschaftlichen Liberalen um die Verwirklichung von Sozialität und Chancengleichheit in der Gesellschaft, um die Bildungspolitik wie die Humanisierung des Arbeitslebens. Unbestritten war für ihn ein aktiver, selbstbewusster Staat, der seine „Ausgleichsfunktion“ wahrnimmt, „indem er die großen Einkommen und Vermögen stärker heranzieht, um die für alle gleichen sozialen Leistungen weiter zu steigern“. Der Rechtsanspruch auf eine Sozialversicherung war für ihn „wichtigster Besitztitel in der industriellen Massengesellschaft“. Und er leitete daraus für seine Partei ab: „Die Befreiung von der Existenzangst, soweit menschenmöglich, gehört zu den entscheidenden liberalen Aufgaben in der Massengesellschaft“ (S.33). Bürgerrechte am Arbeitsplatz, Mitbestimmung,  Mitwirkung und Mitbeteiligung waren für ihn selbstverständliche Arbeitsfelder der Liberalen „des 20. und 21. Jahrhunderts“: Er wusste, wie dick diese Bretter vor den Köpfen der meisten FDP- Funktionäre waren. Und er überzog sie mit schonungsloser Kritik.
In der Bildungspolitik hat  er für neue durchlässige Bildungssysteme plädiert, den Schulkindergarten, die Gesamtschule und die Gesamthochschule. Ihm ging es nicht um formale Gleichheit, sondern um tatsächliche Startchancen in der Gesellschaft. Die Vorbehalte  und massiven Widerstände in den Reihen seiner Partei, die Rundumschläge der Konservativen und ihrer publizistischen Sprachrohre gegen die angebliche Nivellierung und sozialistische Gleichmacherei  konterte er mit einer schier unglaublichen Gelassenheit und Souveränität: „Dass mehr Gleichheit immer eine gewisse Nivellierung bedeutet, ein Einpendeln auf vergleichsweise mittlerem Niveau, wird nicht zu umgehen sein“.
Dieser Mann hatte keine Angst vor einer Demokratisierung und vor dem Verlust von Privilegien. „Ein Recht, das früher Privileg kleiner Schichten war, verliert an Bedeutung, wenn es demokratisiert wird.“  Seine Kritik an der akademischen Oberschicht, Wissenschaftlern und Richtern, die ihre Privilegien  mit allen Mitteln zu verteidigen suchte, fiel beißend aus. „Es kann nicht darum gehen, elitäre Privilegien ein wenig zu verbreitern, sondern veraltete Institutionen tatsächlich zu demokratisieren, zu rationalisieren und effektiver zu machen“, schrieb er im „grünen Buch“. Scharf rechnete er mit dem „Mummenschanz Roben behafteter Richter“ ab und wandte sich „gegen jene akademische Arroganz, die sich für die Ausgebeuteten der Dritten Welt stark macht, aber nur eigene Privilegien im Sinn hat“.
Von keinem Professor ließ er sich vorhalten, systemkritische Fragen seien unangemessen und ungehörig für einen Journalisten. Die Unruhe an den Hochschulen, die Studentenproteste und die antiautoritäre Bewegung begrüßte er, um die „eingeschläferte Gesellschaft“ zu provozieren und aufzuwecken. Doch zunehmend empfindlich reagierte er Ende der sechziger Jahre auf akademische Linke und den Studentenführer Rudi Dutschke, denen er ideelle Maßlosigkeit, pathologische Unduldsamkeit gegenüber Andersdenkenden und leichtfertiges Gerede von der Revolution vorwarf. „Wer die Massen verschreckt, sich im Grunde über sie erhebt und sich von der hohen Warte des Intellektuellen über sie lustig macht, der hat das Recht verwirkt, sich als Apostel des gesellschaftlichen Fortschritts auszuspielen“, hielt er fest. Klar und entschieden die Abgrenzung zu jeder Form von Gewalt, Krieg und Terror: „Man kann nicht Freiheit predigen und Terror provozieren oder produzieren“. An diesem Widerspruch seien die USA in Vietnam gescheitert, an diesem Widerspruch, so schrieb er bereits 1967 in der FR, könnte auch die außerparlamentarische Opposition in Deutschland scheitern. Und die heraus gebellten Angriffe eines Rudi Dutschke auf die bürgerlichen Schreiberlinge und die „Scheißliberalen“ beantwortete Flach kurz und knapp: „Ich bin jedenfalls lieber ein (linker) Spätliberaler als ein (linker) Frühfaschist“(FR vom 8.9.1967).

III.

Hinterließ der Politiker Flach irgendeine Spur in der Partei, die er auf den „dritten Weg“ bringen und zu einer liberalen Volkspartei machen wollte? Prägte der Publizist Flach mit seinem klaren Kopf und kritischem Verstand einen liberalen Journalismus, der sich der Aufklärung verpflichtet und mit der „treuhänderisch wahrgenommenen Bürgerfreiheit“ verantwortlich umzugehen weiß?
Die Antworten auf die Fragen nach den Wirkungen und Spuren dieses Mannes sind ernüchternd. Die Erinnerung an Flach ist auch eine Erinnerung an die Geschichte eines Scheiterns. Die FDP verlor mit seinem Tod eine charismatische Figur, die die auseinanderstrebenden Flügel der  zunehmend marxistisch-orthodox angehauchten Jungdemokraten, der Bildungsbürgerlichen und der konservativen Mittelständler hätte zusammenhalten können. Spätestens Mitte der siebziger Jahre wurden die Bruchlinien in den FDP/SPD-Regierungsbündnissen auf Bundes- und Landesebene deutlich. Ausgehend von Hessen zeichnete sich das Ende der sozialliberalen Ära ab. Der bildungsbürgerliche Flügel mit der streitbaren Hildegard Hamm -Brücher, die mit der demokratischen Schulreform in Hessen begonnen hatte, wurde Zug um Zug von den Wirtschaftsliberalen an den Rand gedrängt, die Jungdemokraten durch Spaltung geschwächt und schließlich durch die biederen Jungliberalen, die Julis, als Nachwuchsorganisation ersetzt. Nach dem fliegenden Regierungswechsel der FDP von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl verließen prominente Linksliberale wie Ingrid Matthäus-Maier und Günter Verheugen die Partei. Von dem Weg zu einer liberalen Volkspartei der Bürger- und Menschenrechte, der breiten Demokratisierung der Gesellschaft, war die FDP bereits zehn Jahre nach Flachs Tod weit abgekommen. Und den Bogen zurück fand sie bis heute nicht.
Von der intellektuellen Kraft und Leidenschaft eines Karl-Hermann Flach ist im heutigen politischen Liberalismus nichts zu spüren, wer immer sich als Berufspolitiker, als Generalsekretär oder Geschäftsführer darauf beruft. Sie machen ihren Job als brave bis biedere Sachverwalter, fern jeder Intellektualität.
Gescheitert ist auch der kurze Traum eines Peter Glotz,  Flachs linke Liberalität und seine entschiedene bürgerrechtliche Sozialität in der Sozialdemokratie zu verankern. Glotz , wie  Flach ein hochintellektueller Grenzgänger zwischen Politik und Publizistik, versuchte in seiner Zeit als Bundesgeschäftsführer der SPD in Bonn (1981 bis 1987) die Partei auf Flachs dritten Weg zu orientieren und zu öffnen. Glotz setzte auf die SPD-nahen Intellektuellen, die Linksliberalen der FDP und vor allem die Jungen in der Partei, die durch die Bildungsreform und Bildungsexpansion in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an die Hochschulen gekommen, durch die Studentenunruhen politisiert und bewegt worden waren und den „Marsch durch die Institutionen“ angetreten hatten.
Doch Glotz irrte sich grundlegend. Mit der Parteigründung der Grünen und ihren ersten parlamentarischen Erfolgen sprangen viele jungen Wissenschaftler vom alten Tanker SPD ab und hüpften auf die modernen, wendigen grünen Boote. Aber vor allem: Der unaufhaltsame Aufstieg der sozialdemokratischen  Funktionärsschicht in ein akademisch geprägtes, betont bürgerliches Milieu mit Theater-Abonnement und Gymnasialbesuch der Kinder führte keineswegs zu einem Denken, das sich aus dem engstirnigen, kleinbürgerlichen Mief gelöst hätte: zu Offenheit und großer Liberalität, zu bürgerlicher und bürgerrechtlicher Toleranz, zu individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung gegenüber demokratischer Teilhabe von möglichst vielen, auch den Menschen, die aus Europa oder anderen Teilen der Welt nach Deutschland geholt wurden oder eingewandert sind.
Kurz gefasst: die radikal-demokratische Liberalität, die ein Mann wie Flach einforderte, hat heute keine parteipolitische Plattform. Aber hatte sie das in Deutschland wirklich jemals? Die große Herausforderung für einen politischen Liberalismus, der dem Sozialen wie der Demokratie verpflichtet ist,  wäre heute, ein Gesellschaftsbild für eine deutsche Einwanderungsgesellschaft zu entwickeln, in dem sich unterschiedliche Kulturen, aber auch die unterschiedlichen Geschichten der Menschen in Ost und West wiederfinden, und in dem der Spaltung in Gewinner und Verlierer, in Dazugehörige und Ausgegrenzte wieder durch Politik begegnet wird. Erinnert sei noch einmal an die Sätze Flachs mit den Widerhaken: „Liberalismus heißt Einsatz für größtmögliche Freiheit des einzelnen Menschen und Wahrung menschlicher Würde in jeder gegebenen oder sich verändernder gesellschaftlichen Situation“. Und: „Das große Wort von der Gleichheit der Chancen blieb lange eine Phrase, hinter der sich extreme Ungleichheit tarnte“.  Diese Aufträge an eine demokratische Gesellschaft sind noch immer uneingelöst. Im Gegenteil: die  im Sommer vollzogenen Grundgesetzänderungen und der beschlossene  Wettbewerbsföderalismus mit der Spaltung in arme und reiche Bundesländer, mit unterschiedlichen, vom Bundesverfassungsgericht als Element eines Bundesstaates bewusst gewollten, „partiell-differenzierten“ Zugängen zu Bildung und Arbeitsmarkt wird die Ungleichheit noch vertiefen. Und der Kapitalismus schaltet und waltet gegenwärtig, ohne im geringsten „die Entwicklung zur  ständig zunehmenden Ungleichheit“ (Flach) zu stoppen und allmählich umzukehren. Er ist damit zu einer Gefahr für eine demokratische Gesellschaftsordnung geworden. Nur: Wer schreibt darüber noch?
Daher ein kritischer Blick auf die Medien im Allgemeinen und zunächst die Frankfurter Rundschau im Besonderen. Flachs große Liberalität nach Innen und sein Respekt vor der „geistigen Arbeit“ der Journalisten verlangte den Redakteurinnen und Redakteuren ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit und Kompetenz ab. Die Art, wie er mit seiner „inneren Stärke“ die Ebenen von Politik und Publizistik auseinander zu halten verstand, war für uns in der FR eine Herausforderung, immer wieder Distanz und Nähe zu Politikern wie politischen Parteien oder Organisationen von der Kirche bis zu den Gewerkschaften zu überprüfen. Diese Spannung hielten nicht viele aus. Es folgten Debatten über aktiv-einmischenden Journalismus und reaktiv-begleitenden Journalismus, aber auch Debatten über  straffe Führung und Vorgaben durch den Chefredakteur und den Stellenwert des Politischen in der Zeitung insgesamt. So habe ich mit gespannter Neugier den Text von Uwe Vorkötter gelesen, der in diesem Jahr die Ringvorlesung „Macht und Medien“ am Otto -Suhr-Institut eröffnete und nun neuer Chefredakteur der FR ist. Mit zwei Sätzen möchte ich mich auseinander setzen. Zum Beruf des Journalisten sagte er, es sei nicht seine Aufgabe, die Wirklichkeit eins zu eins abzubilden: „Unsere Aufgabe ist es, das Interessante rauszufischen und nicht das Langweilige“.  Die Medien, so führte er weiter aus, seien „Mittler zwischen Politik und Wähler und politische Inhalte, die nicht über die Medien transportiert werden, werden dann im Zweifel gar nicht transportiert oder nur so, dass sie ganz wenige Leute erreichen“. Was aber ist das Langweilige, das aus der Zeitung gestrichen wird? Die Demokratieentwicklung in Deutschland, die alltägliche Missachtung der Bürgerrechte, die fehlende Liberalität und Menschlichkeit in der deutschen Politik? Fallen intellektuelle Analysen, kluges Nachdenken über schwierige politische Zusammenhänge unter den Verdacht des Langweiligen?
Und wieso sind Medien Mittler zwischen Politik und Wähler? Wo sind die treuhänderisch wahrgenommenen Bürgerfreiheiten geblieben: für die Menschen, die nicht wählen – dürfen und können? Uwe Vorkötters Blick reicht so weit nicht. Oder sollte ich mit einem Schuss Optimismus sagen: noch nicht?  Vielleicht aber hat der neue Chefredakteur auch eine völlig andere Aufgabe, nämlich eine ökonomische: Unter Verzicht auf die Überregionalität die FR rentabel zu machen als Regionalzeitung. Dann ist auch in der FR die Erinnerung an Karl-Hermann Flach gelöscht.
Mit großer Sorge beobachtete er bereits zu Beginn der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts den Konzentrationsprozess im Pressewesen. „Wo der Wettbewerb meinungsmäßig unterschiedlicher Organe verschwindet, endet die Informationsfreiheit“, schrieb er 1972. Vehement setzte er sich für die innere Freiheit in den Redaktionen ein, für Mitbestimmung und Mitwirkung, denn: „Journalistische Arbeit ist geistige Arbeit hoher Qualität, man kann sie auf Dauer nicht nach überkommenen hierarchischen Strukturen organisieren.“ Die heutigen inneren und äußeren Bedingungen in den Medien weisen in eine andere Richtung: gefragt ist der rundum flexible Redakteur, der vom Sport bis zur Spätschicht einsetzbar ist  und möglichst keine hohen Ansprüche stellt. Um die Redaktionen herum kreisen (kostenlose) Praktikanten, Ich-AGs  und Pressebüros, in denen sich die so genannten Freien gegenseitig stützen. Für die Ausübung der „geistigen Arbeit“ bleibt wenig Raum.
Aber ist sie überhaupt noch gewollt? Flach setzte seinen Beruf politisch ein, versuchte massiv die politische Meinungsbildung zu beeinflussen, um seiner Vorstellung von einer liberalen und sozialen Demokratie näher zu kommen. Er warb immer wieder neu um die Leser und Leserinnen, eindringlich, klar und unverschnörkelt. Eine profilierte Meinung war ihm wichtiger als eine schöne Feder, auf die heute die Journalistenpreise herabrieseln wie Konfetti in einer Galaparade. Sein politisches und intellektuelles Verständnis vom Beruf des  sich aktiv einmischenden Journalisten teilen die wenigsten Nachfolgerinnen und Nachfolger. Die schön geschriebene Reportage zählt mehr als ein meinungsfreudiger, sachlich kompetenter Leitartikel. Wo sind jenseits der unsäglichen mittelmäßigen Talkshows die intellektuellen Plattformen, auf denen gestritten werden kann? Wo sind die Zeitschriften für die theoretischen Debatten, die für eine lebendige Streitkultur notwendig sind? Sang- und klanglos verschwinden sie ganz vom Markt wie die Gewerkschaftlichen Monatshefte oder „virtuell“ ins Internet.
Wo sind die profilierten Meinungsmacher, die die Sorge über die demokratische Entwicklung in Deutschland umtreibt, die sich trauen, Systemfragen zu stellen und die alltägliche Ungleichheit, an der zum Beispiel das deutsche Bildungswesen maßgeblich beteiligt ist, zu kritisieren? Immer wieder, wachsam, hellhörig und misstrauisch gegenüber falschen Tönen oder Worten?
Es ist doch kein Zufall, dass politische Essays, kritisch zugespitzte Analysen und Kommentare heute in den deutschen Medien in die Feuilletons ausgewandert sind und dort ihr Dasein fristen, ohne von der politischen Klasse überhaupt wahrgenommen zu werden. Einer der wenigen, der durchdringt und sich von der politischen Meinungsseite nicht verdrängen lässt, ist Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung. Doch ein Prantl reicht nicht, um journalistisch das demokratische „Wächteramt“ oder die treuhänderisch wahrgenommene Bürgerfreiheit einzulösen. An diese Aufgabe müssen sich schon mehr Verantwortliche in Politik und Publizistik wagen, wenn der politische Liberalismus noch eine Chance haben soll, persönliche Freiheit und Menschenwürde für eine größtmögliche Zahl zu sichern. 
 
1    Karl-Hermann Flach, Noch eine Chance für die Liberalen. Eine Streitschrift, Frankfurt a.M., 1971, S.82
2     Karl-Hermann Flach, Liberaler aus Leidenschaft, München, Gütersloh, Wien, 1974, S.115
3     a.a.O., S.41
4     a.a.O., S.220
5     a.a.O., S.54
 
 

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