Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 219: Soziale Menschenrechte

Der UN-So­zi­al­pakt und sein Zusatz­pro­to­koll

in: vorgänge Nr. 219 (3/2017), S. 13-21

Die Entwicklung der sozialen Menschenrechte war mit ihrer Niederlegung im sog. UN-Sozialpakt keineswegs abgeschlossen. Michael Krennerich skizziert im folgenden Beitrag, wie die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte im internationalen Menschenrechtsdiskurs seitdem ausdifferenziert wurden, hinsichtlich verschiedener Rechtsansprüche und -dimensionen, aber auch in Bezug darauf, welche Ansprüche unmittelbar und uneingeschränkt gelten (und welche abhängig von verfügbaren Ressourcen zu sehen sind). Diese Differenzierungen waren eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass wsk-Rechte heute im internationalen Raum nicht mehr als bloße programmatische Aussagen gesehen, sondern als verbindliche justiziable Rechtsansprüche anerkannt werden. Abschließend setzt sich Krennerich ausführlich mit den (wechselnden) Begründungen der Bundesregierungen auseinander, die bisher die Ratifikation des Zusatzprotokolls zum UN-Sozialpakt und damit eine wichtige Voraussetzung für die individuelle Einklagbarkeit dieser Rechte verweigert hat.

In den vergangenen 20 Jahren haben die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte erheblich an Bedeutung gewonnen. Schon längst sind die „wsk-Rechte“ oder „sozialen Menschenrechte“, wie sie in der Menschenrechtsszene oft verkürzt genannt werden, im Mainstream des globalen Menschenrechtsdiskurses angekommen. Inzwischen sind sie fester Bestandteil nationaler wie internationaler Menschenrechtspolitik. Zentraler Bezugspunkt ist – neben der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 – nach wie vor der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte (UN-Sozialpakt), der 1966 verabschiedet wurde und 1976 in Kraft trat. Er verankert eine breite Palette wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte, darunter u.a. die Rechte auf Bildung, auf Arbeit, auf menschenwürdige Arbeitsbedingungen, auf Gewerkschaftsfreiheit, auf soziale Sicherheit, auf Gesundheit, auf Nahrung, auf Wohnen und – obwohl nicht ausdrücklich erwähnt – auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung. Weniger Beachtung finden die dort ebenfalls verankerten Rechte auf Teilhabe am kulturellen Leben und an den Errungenschaften des wissenschaftlichen Fortschritts. Auch weitere globale und regionale Menschenrechtsabkommen beinhalten wsk-Rechte. Hinzu kommen ILO-Konventionen, die auf dem Gebiet der Arbeitsbeziehungen und sozialen Sicherheit einen besonderen Beitrag zum sozialen Menschenrechtsschutz leisten. [1]

Rückblick – ein langer Weg

Während die wsk-Rechte von Beginn an fester Bestandteil des in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten internationalen Menschenrechtsschutzes waren, blieben sie im dominanten liberalen Menschenrechtsdiskurs des „Westens“ lange Zeit unterbelichtet. Im Unterschied zu den bürgerlichen und politischen Menschenrechten wurden die wsk-Rechte oft nicht als „echte“, individuelle Menschenrechte angesehen oder allenfalls als teure Leistungsrechte, die weder hinreichend bestimmbar noch einklagbar seien. Zugleich waren sie eingespannt in die ideologischen Auseinandersetzungen westlicher Demokratien mit den Ländern des Ostens und des globalen Südens. Aus rechtsdogmatischen und politischen Gründen blieb daher der UN-Sozialpakt lange Zeit bedeutungslos. Dies änderte sich erst in den 1990er Jahren. Voraussetzung hierfür war nicht zuletzt das Ende des Ost-West-Konfliktes, das zwar nicht zu einer De-Politisierung, wohl aber zu einer De-Ideologisierung des Menschenrechtsdiskurses führte. Dadurch öffneten sich politische Räume, um in internationalen Foren die Diskussion um die wsk-Rechte aufzugreifen und auf soziale Problemlagen weltweit anzuwenden. Die Weltmenschenrechtskonferenz von 1993 bestärkte die Unteilbarkeit der Menschenrechte, die bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte unmissverständlich angelegt ist (s. Riedel 2017): Bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte bilden demnach einen Sinnzusammenhang aufeinander bezogener Rechte, bedingen sich gegenseitig und gehören untrennbar zusammen.
Der Bedeutungsaufschwung der wsk-Rechte lag also weniger in der Verankerung neuer Rechte begründet als darin, dass sich gerade zivilgesellschaftliche Gruppen bestehende Rechte aneigneten und sie politisch nutzten. Gemeinsam mit Sachverständigen an Universitäten und in den Institutionen des globalen und regionalen Menschenrechtsschutzes bemühten sie sich, den wsk-Rechten ein klares inhaltliches Profil und eine stärkere politische wie völkerrechtliche Verbindlichkeit zu verleihen. Vor allem der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und einzelne UN-Sonderberichterstatter_innen trugen erheblich zur Konkretisierung des Inhalts der wsk-Rechte und der sich daraus ergebenden Staatenpflichten bei. Als hilfreich für die Auslegung des inhaltlichen Gehalts vieler sozialer Menschenrechte erwiesen sich die Kategorien der Verfügbarkeit, des offenen Zugangs, der Annehmbarkeit und der Angepasstheit, welche die ehemalige UN-Sonderberichterstatterin zum Recht auf Bildung, Katarina Tomaševski, um die Jahrtausendwende populär machte. Der UN-Ausschuss wandte diese oder ähnliche Kategorien auch auf andere Rechte an.

Drei Beispiele: Das Recht auf Bildung umfasst die Verfügbarkeit grundlegender und weiterführender Bildungseinrichtungen; den diskriminierungsfreien, offenen und erschwinglichen Zugang zur Bildung; sowie menschenrechtskonforme, qualitativ angemessene Inhalte und Formate der Bildung, die an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet sind. Das Recht auf Wohnen wiederum fordert die hinreichende Verfügbarkeit und den Schutz angemessenen Wohnraums; einen offenen, diskriminierungsfreien und bezahlbaren Zugang zu Wohnraum; sowie eine menschenwürdige Wohnqualität. Angesichts tagtäglicher Zwangsvertreibungen und Zwangsumsiedlungen von unzähligen Menschen weltweit ist die Schutzfunktion nochmals eigens zu betonen. Auch beim Recht auf Gesundheit ist der Schutz wichtig. Auf eine Kurzformel gebracht, besagt es, dass der Staat die Gesundheit der Menschen nicht beeinträchtigen darf, diese vor Eingriffen zu schützen hat und Maßnahmen ergreifen muss, damit die Menschen gesunde Arbeits- und Lebensbedingungen vorfinden und sie vor allem Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung haben.

Die wsk-Rechte stellen nicht nur teure Leistungsrechte dar, sondern ihnen sind auch freiheitliche Abwehr- und Schutzdimensionen eigen. Gewiss müssen aktive Maßnahmen etwa gegen extreme Armut, Bildungsnotstände, Arbeitslosigkeit, Krankheiten, Wohnelend und soziale Ausgrenzung ergriffen werden, die viele Ressourcen binden. Doch schützen die wsk-Rechte die Menschen eben auch vor unzulässigen Eingriffen in ihr Leben und eine selbstverantwortliche Lebensgestaltung. So dienen die wsk-Rechte dem Schutz der einzelnen Menschen davor, ausgebeutet zu werden, unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen zu arbeiten, in ihrer Gesundheit geschädigt zu werden – oder daran gehindert zu werden, sich selbstständig zu ernähren, ein sicheres Wohnumfeld zu bewahren, sich angemessen zu bilden oder am kulturellen Leben teilzuhaben. Soziale Menschenrechte sind daher im besten Sinne des Wortes „Freiheitsrechte“.

Völkerrechtlich ist inzwischen anerkannt, dass die sozialen Menschenrechte Abwehr-, Schutz- und Leistungsdimensionen umfassen. Damit korrespondieren staatliche Achtungs-, Schutz- und Gewährleistungspflichten. Demnach sind die Staaten verpflichtet, die einzelnen Menschen nicht an der Ausübung ihrer Rechte zu hindern (Achtungspflichten), den Einzelnen vor Eingriffen Dritter in seine Rechte zu schützen (Schutzpflichten) und die Ausübung der Menschenrechte durch aktives Handeln zu ermöglichen (Gewährleistungspflichten). Diese von Asbjørn Eide geprägte Pflichtentrias – Achten, Schützen, Gewährleisten –  wurde vom UN-Ausschuss konsequent aufgegriffen, angewandt und verbreitet; sie gehört inzwischen zum ABC des Menschenrechtswissens.

Die inhaltliche Bestimmung der sozialen Menschenrechte zeigt ein weiteres: Zum einen erlaubt der UN-Sozialpakt den Vertragsparteien, ihre Verpflichtungen fortschreitend („progressively“) umzusetzen. Angesichts knapper Ressourcen und nur schwer überwindbarer sozialer Missstände lassen sich tatsächlich viele Aspekte der sozialen Menschenrechte nicht von heute auf morgen verwirklichen. Zum anderen betont der Ausschuss aber, dass die Staaten umgehend aktiv werden müssen, um die wsk-Rechte umzusetzen, und dass bestimmte Aspekte dieser Rechte nicht fortschreitend, sondern unmittelbar zu verwirklichen sind. Gerade Unterlassungspflichten, Diskriminierungsverbote und die Gewährleistung der „minimum core obligations“ zählen dazu. Auch gelten die sozialen Menschenrechte inzwischen als hinreichend bestimmbar und grundsätzlich geeignet, um sie in Beschwerde- oder Gerichtsverfahren überprüfen zu lassen. Die Auffassung, dass wsk-Rechte der Sache nach, also materiell, justiziabel seien, ging mit Bemühungen einher, auch die prozedurale Justiziabilität dieser Rechte zu stärken. Dies führte auf der Ebene der Vereinten Nationen letztlich zur Ausarbeitung und Verabschiedung des Zusatzprotokolls zum UN-Sozialpakt.

Der UN-So­zi­al­pakt im nationalen Recht

Ein wichtiges Kriterium für die Umsetzung von Menschenrechtsabkommen ist die Frage, wie diese in nationales Recht übersetzt werden und welchen Stellenwert sie dort einnehmen. Wie andere Völkerrechtsverträge auch wird der UN-Sozialpakt in Deutschland per Zustimmungsgesetz in die innerstaatliche Rechtsordnung integriert, und zwar im Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Menschenrechtsabkommen nehmen also hierzulande keinen Verfassungsrang ein, wie dies beispielsweise in einigen lateinamerikanischen Staaten – zumindest auf dem Papier, mitunter aber auch in der Rechtspraxis – der Fall ist.

Nun stellt sich die Frage, ob bzw. inwiefern die im Sozialpakt verankerten Rechte auf dem innerstaatlichen Rechtsweg durch Einzelne zur Geltung gebracht werden können. Ist in Deutschland die „unmittelbare Anwendbarkeit“ der völkerrechtlichen Menschenrechte gegeben? Voraussetzung hierfür ist, dass die Menschenrechtsnormen zum einen hinreichend klar und bestimmbar sind, so dass sie sich mit den Mitteln juristischer Subsumtion auf einen Fall anwenden und daraus Rechtsfolgen ableiten lassen. Zum anderen muss die Menschenrechtsnorm „unbedingt“ sein, also keine weiteren staatlichen Umsetzungsakte erforderlich machen (vgl. Krajewski 2017). Für bürgerliche und politische Menschenrechte ist beides – zumindest grundsätzlich – in Deutschland unbestritten. Hingegen wurde und wird teilweise noch die unmittelbare Anwendbarkeit wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte angezweifelt (ebd.). Erst allmählich setzt sich auch hierzulande die Erkenntnis durch, dass beispielsweise abwehrrechtliche und diskriminierungsbezogene Dimensionen der wsk-Rechte dazu geeignet sind, auch unmittelbar vor Gerichten geltend gemacht zu werden.

Bislang nehmen die deutschen Gerichte kaum Bezug auf den UN-Sozialpakt. Die Ausnahme bilden allenfalls die Gerichtsverfahren zur Rechtmäßigkeit von Studiengebühren in den Jahren 2006 bis 2010, bei denen mitunter sogar ausführlich geprüft wurde, inwieweit Bestimmungen des Sozialpaktes unmittelbar zur Anwendung kommen. [2] Insgesamt aber lassen sich, wie Markus Krajewski (2017) nachgewiesen hat, nur wenige Verfahren finden, in denen – sei es beim Parteienvortrag oder bei der Urteilsbegründung – auf den UN-Sozialpakt Bezug genommen wird. Für die Bundesregierung stellt die fehlende unmittelbare Geltendmachung der Paktvorschriften vor deutschen Gerichten oder deren fehlende Nennung in den Begründungen deutscher Gerichtsurteile kein Problem dar; daraus könnten keinerlei (negative) Schlüsse auf die Berücksichtigung des Paktes in der deutschen Rechtsanwendung gezogen werden, behauptet sie im jüngsten Staatenbericht zum UN-Sozialpakt (Bundesregierung 2016: 6). [3] Der UN-Ausschuss, der den Bericht 2018 behandeln wird, hat dies bisher anders gesehen. Er beanstandete bei früheren Staatenberichten, dass die Rechte des UN-Sozialpaktes vor innerstaatlichen Gerichten in Deutschland (ebenso wie in vielen anderen europäischen Ländern) nicht hinreichend geltend gemacht werden könnten. Eine solche Kritik wird gerade auch von Menschenrechtsorganisationen geteilt und findet sich in „Schattenberichten“ zum UN-Sozialpakt wieder.

Zugegeben: Die geringe Zahl an Gerichtsverfahren ist zum guten Teil auf das ausgebaute Arbeits- und Sozialrecht in Deutschland zurückzuführen, das eine Bezugnahme auf den UN-Sozialpakt zumeist nicht notwendig erscheinen lässt. Zurückzuführen ist sie aber auch auf die geringe Vertrautheit von Richter_innen und Anwält_innen mit den Bestimmungen des UN-Sozialpaktes sowie mit den „Allgemeinen Kommentaren“ (General Comments) und den „Abschließenden Bemerkungen“ (Concluding Observations) des UN-Ausschusses für wsk-Rechte. Die Behauptung der Bundesregierung, dass eine „hinreichende Sensibilisierung der Akteure im deutschen Gerichtsverfahren für menschenrechtliche Vorgaben wie die des Paktes“ durch ein entsprechendes Aus- und Fortbildungsangebot gesichert sei (vgl. Bundesregierung 2016: 6), entbehrt der Selbstkritik und einer soliden Erfahrungsgrundlage. Sofern Gerichte in ihren Urteilsbegründungen überhaupt auf den UN-Sozialpakt Bezug nehmen, sind sie bezeichnenderweise nicht immer auf dem Stand der gegenwärtigen völkerrechtlichen Diskussion.[4]

Widerstand gegen das Zusatz­pro­to­koll

Nicht unwesentlich ist auch die Frage, inwieweit die Staaten internationale Kontrollverfahren eines Menschenrechtsabkommens akzeptieren. Die Bundesregierung kommt zwar ihren Berichtspflichten nach, legt also in Berichten an den UN-Ausschuss regelmäßig Rechenschaft darüber ab, wie Deutschland den UN-Sozialpakt umsetzt. Bisher hat Deutschland aber noch nicht das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt ratifiziert. Es würde einzelnen Personen die Möglichkeit einräumen, nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges eine Beschwerde beim UN-Ausschuss einzureichen, wenn sie sich in ihren Paktrechten verletzt sehen.

Die deutschen Regierungen gleich welcher Coleur haben in den vergangen 15 Jahren stets Klärungs- und Prüfungsbedarf angemeldet, sowohl bei der Ausarbeitung (2003-2008), nach der Verabschiedung (2008) wie nach dem Inkrafttreten (2013) des Zusatzprotokolls. Deutlich ablesen lässt sich dies an den Menschenrechtsberichten und den Menschenrechtsaktionsplänen der Bundesregierung, in denen mit schöner Regelmäßigkeit eine (intensive) Prüfung der Ratifizierung versprochen wird (vgl. Krennerich 2014). Auch in der 18. Wahlperiode versprach die Ministerin im federführenden Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Andrea Nahles, die Ratifizierung des Zusatzprotokolls ernsthaft prüfen zu lassen; doch verhedderte sich die angekündigte Ratifizierungsinitiative des BMAS in den Endlosschleifen der Prüfung. Bislang fehlt es am politischen Willen, eine Ratifizierung gegen Widerstände durchzusetzen.

Angesichts des klaren Bekenntnisses der Bundesregierungen zur Unteilbarkeit der Menschenrechte ist weniger die Ratifizierung als die Nicht-Ratifizierung des Fakultativprotokolls zum UN-Sozialpakt erklärungsbedürftig. Es ist das einzige Kontrollverfahren der von Deutschland ratifizierten UN-Menschenrechtsabkommen, das Deutschland bislang nicht akzeptiert hat. Was spricht dagegen? Der grundsätzliche – auch von deutscher Regierungsseite in den 2000er Jahren vorgetragene – Einwand, wsk-Rechte seien zu vage und nicht justiziabel genug, um in quasi-gerichtlichen Beschwerdeverfahren geprüft zu werden, lässt sich heute nicht mehr halten. Mittlerweile sind die Kommentierungen dieser Rechte durch den UN-Ausschuss weit vorangeschritten, und es liegen viele Entscheidungen regionaler Menschenrechtsgerichtshöfe und nationaler Gerichte anderer Länder zu diesen Rechten vor – mit vollem Verständnis dafür, dass den Staaten ein weiter Ermessens- und Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung dieser Rechte zukommt.

Allerdings könnten im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens Differenzen bei der Auslegung der Paktrechte zwischen Regierung und UN-Ausschuss zu Tage treten. Bereits im Rahmen des Staatenberichtsverfahrens wiesen verschiedene Bundesregierungen die Ausschusskritik als nicht immer sachgerecht zurück. Auf Regierungsseite bildete sich daher eine Haltung heraus, erst die weitere Kommentierungen einzelner Paktrechte und die Spruchpraxis in den Beschwerdeverfahren abzuwarten, bevor über die Ratifizierung des Zusatzprotokolls entschieden wird. Dabei böten gerade Beschwerden die Möglichkeit, sich über rechtliche Auslegungsfragen zu verständigen, zumal sie den UN-Ausschuss disziplinieren, seine Entscheidungen auf justiziable Weise zu begründen. Im Unterschied zu einem allgemeinen Staatenberichtsverfahren ermöglicht das Beschwerdeverfahren, einzelfallbezogen Rechtsverletzungen zu identifizieren – und darüber in den Dialog zu treten. Einen solchen Dialog scheuen aber bislang die Bundesregierungen – vor allem in jenen Ressorts, die für die innenpolitische Umsetzung des UN-Sozialpaktes zuständig sind, finden sich Bedenkenträger.

Eine Beschwerdeflut wäre übrigens nicht zu erwarten (vgl. auch Mahler 2015). Eine Reihe möglicher Streitpunkte, etwa Studiengebühren und Mindestlohn, wurden inzwischen politisch entschieden. Das vielkritisierte generelle Streikverbot von Beamten in Deutschland wird, wenn überhaupt, eher in einer Klage vor dem durchsetzungskräftigeren Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte münden, da es auch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention kollidiert. Möglich wären (nach Ausschöpfung des nationalen Rechtsweges) etwa Beschwerden von Personen, die nur eine eingeschränkte Gesundheitsversorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten; dies verstößt mutmaßlich gegen das Diskriminierungsverbot des UN-Sozialpaktes. [5]

Überbor­dende Verrecht­li­chung oder Korrektiv der Politik?

Unabhängig von der Frage der Einklagbarkeit bzw. Beschwerdefähigkeit stellen soziale Menschenrechte nicht nur unverbindliche Handlungsaufforderungen dar. Sie gehen mit völkerrechtlich verbindlichen Staatenpflichten einher, welche die Vertragsparteien (etwa des UN-Sozialpaktes) umsetzen müssen. Ergibt sich also durch eine Aufwertung der wsk-Rechte die Gefahr einer Inflation menschenrechtlicher Ansprüche und eine überbordende Verrechtlichung der Politik, welche die politischen Entscheidungsspielräume demokratisch legitimierter Politiker_innen über Gebühr einschränkt? Eher nicht! Die Verrechtlichung sozialer Ansprüche verlief in Deutschland vollkommen unabhängig von etwaigen Staatenpflichten, die sich aus internationalen Menschenrechtsabkommen ergeben. Sie war der politischen Dynamik des demokratischen Sozialstaates geschuldet, der über Jahrzehnte hinweg von den politischen Parteien mit Hilfe des Rechts ausgebaut wurde. Richtig verstanden beschneiden die wks-Rechte auch nicht über Gebühr die Gestaltungsfreiheit demokratisch legitimierter Politik, sondern belassen den Regierungen und Parlamenten erhebliche Ermessens- und Handlungsspielräume, wie sie die sozialen Menschenrechte am besten umsetzen.

Gleichwohl nehmen die wsk-Rechte potenziell eine wichtige Orientierungs- und Korrektivfunktion ein. Auch in ausgebauten Wohlfahrtsstaaten können menschenrechtliche Schutzlücken und Gefährdungslagen bestehen, die einen Handlungs- und Regulierungsbedarf begründen. Selbst eine weit vorangeschrittene Verrechtlichung garantiert nicht zwangsläufig, dass das nationale Recht den menschenrechtlichen Anforderungen vollends genügt. Auch gewinnen die sozialen Menschenrechte dann an Bedeutung, wenn empfindliche Einschnitte in die sozialen Netze vorgenommen werden. Ein politisch erwirkter und begründeter Sozialabbau hat eben nicht nur verfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten, sondern auch völkerrechtliche Staatenpflichten, die sich aus internationalen Menschenrechtsabkommen wie dem UN-Sozialpakt ergeben. An seine Grenzen stößt er dort, wo den Menschen grundlegende, menschenrechtlich verbürgte Freiheits-, Gleichheits- und Teilhabeansprüche verwehrt oder nicht mehr gewährt werden.

Die Orientierungs- und Korrektivfunktion der wsk-Rechte ist gerade auch dann wichtig, wenn nationale Verfassungen keine oder kaum soziale Grundrechte enthalten, welche die demokratische Herrschaftsausübung kontrollieren. Ganz ohne verfassungsmäßigen Schutz sind zwar in Deutschland die sozialen Menschenrechte nicht. Dafür sorgen bereits die Menschenwürdegarantie und das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes. Insgesamt aber waren die Väter und Mütter des Grundgesetzes zurückhaltend mit Vorgaben für die Ausgestaltung des Sozialstaatsprinzips (s. dazu die Beiträge von Baer und Kutscha in diesem Heft). Auch Forderungen aus den 1970er Jahren und der Zeit nach der Wiedervereinigung, soziale Grundrechte oder zumindest konkrete soziale Staatsziele ins GG aufzunehmen, blieben letztlich erfolglos.[6]

Spätere parlamentarische Gesetzesinitiativen für die Aufnahme sozialer Grundrechte ins GG[7] waren und sind bislang nicht mehrheitsfähig. Immerhin können solche Initiativen dazu beitragen, soziale Menschenrechte politisch stärker zur Geltung zu bringen. Die Menschenrechte werden eben nicht nur gerichtlich, sondern auch und vor allem gesellschaftspolitisch erstritten.

Die menschenrechtliche Perspektive schärft dabei den Blick für soziale Problemlagen und für besonders benachteiligte Gruppen. Armut, prekäre Arbeitsverhältnisse und Wohnungslosigkeit[8] sind beispielsweise menschenrechtliche Herausforderungen, welche die Politik auch hierzulande noch weit energischer angehen muss. Das Gleiche gilt – trotz des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes – etwa für Diskriminierungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt oder auch für strukturelle Benachteiligungen von Schüler_innen aus einkommensschwachen Familien. Wie schwierig es sein kann, menschenrechtliche Vorgaben umzusetzen, zeigen nicht zuletzt die teils unbeholfenen politischen Bemühungen, dem Recht auf inklusive Bildung Geltung zu verleihen.[9] Politischer Handlungsbedarf besteht zudem bei der Umsetzung „extraterritorialer Staatenpflichten“ aus dem UN-Sozialpakt, also bei der Frage, wie deutsche Politik soziale Menschenrechte auch im Ausland achtet, schützt und fördert. Entsprechende Forderungen finden sich in den „Schattenberichten“ von NGOs zum UN-Sozialpakt.[10] Man darf gespannt sein, inwieweit der UN-Ausschuss für wsk-Rechte diese aufgreift, wenn er 2018 den deutschen Staatenbericht behandelt – und wie die Regierung darauf reagieren wird.

MICHAEL KRENNERICH   PD Dr. phil., geb. 1965, arbeitet als habilitierter Hochschullehrer am Lehrstuhl für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik der Universität Erlangen-Nürnberg und ist einer der Programmdirektoren des dortigen „Master of Arts Human Rights“. Er ist leitender Herausgeber der Zeitschrift für Menschenrechte (zfmr), Vorsitzender des Nürnberger Menschenrechtszentrums (NMRZ), Mitglied des Koordinierungskreises des bundesweiten Netzwerkes Forum Menschenrechte sowie Kuratoriumsmitglied des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Er verfasste u.a. die Monographie „Soziale Menschenrechte – zwischen Recht und Politik“ (2013).

Literatur:

Bielefeldt, Heiner 2017: Inklusion als Menschenrechtsprinzip. Grundsätzliche Überlegungen aus gebotenem Anlass, in: Zeitschrift für Menschenrechte, Jg. 11, Nr. 1.

Bundesregierung 2016: Sechster Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 16 und 17 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 2016, Berlin.

Eichenhofer, Eberhard 2013: Gesundheitsleistungen für Flüchtlinge, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, Jg. 33, Nr. 5-6, 169-175.

Kaltenborn, Markus 2015: Die Neufassung des Asylbewerberleistungsgesetzes und das Recht auf Gesundheit, in: Neue Zeitschrift für Sozialrecht, Jg. 24, Nr. 5, 161-166.

Krajewski, Markus 2017: Schmückendes Beiwerk oder echte Ergänzung? Zur Wirkung der Menschenrechte im innerstaatlichen Recht, in: Zeitschrift für Menschenrechte, Jg. 11, Nr. 1.

Krennerich, Michael 2013: Soziale Menschenrechte – zwischen Recht und Politik, Schwalbach/Ts.

Krennerich, Michael 2014: Wie lange grüßt das Murmeltier? Deutscher Prüfbedarf und das Beschwerdeverfahren für den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, in: Zeitschrift für Menschenrechte, Jg. 8, Nr. 2, 158-167.

Krennerich, Michael 2016: Internationale soziale Menschenrechte als Maßstab für den Umgang mit Asylsuchenden, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Jg. 26, H. 1, 95-103.

Mahler, Claudia 2013: Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind einklagbar, in: AnwBl 4/2013, 245-248.

Mahler, Claudia 2015: Das Fakultativprotokoll zum UN-Sozialpakt endlich annehmen, aktuell 05/2015, Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin.

Riedel, Eibe 2017: “Best of UN“ – Narrationen aus dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, in: Zeitschrift für Menschenrechte, Jg. 11, Nr. 1.

Anmerkungen:

1 Detailliert zur völkerrechtlichen Verankerung sozialer Menschenrechte siehe: Krennerich 2013.

2 Vgl. hier beispielhaft den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 16.2.2009 – 2 S 1855/07 – sowie VG Köln, Urteil vom 25.11.2010 – 6 K 2405/07.

3 Die englische Fassung des Staatenberichts Deutschlands ging im Februar 2017 dem UN-Ausschuss zu.

4 Beispielhaft sei etwa das Urteil des Bundessozialgericht vom 15.10.2014 – B 12 KR 17/12 R – genannt, das selbst beim Diskriminierungsverbot pauschal von einer Nicht-Anwendbarkeit des UN-Sozialpaktes ausgeht; oder ein Urteil des VG München vom 21.1.2016 – M 10 K 15.5366 –, in dem weiterhin die Auffassung vertreten wird, dass der Sozialpakt im Wesentlichen nur Programmsätze enthalte, ohne subjektive Rechte zu vermitteln. Siehe stattdessen etwa das Urteil des VG Hamburg vom 22.12.2008 – 15 K 656/07 -, das in Bezug auf schulische Lernmittelkosten die Anwendbarkeit des UN-Sozialpaktes nicht bestritt. Eine spätere Entscheidung des VG Hamburgs knüpfte daran an; ihr zufolge fielen allerdings die Schulbeförderungskosten – im Unterschied zu Lernmitteln – nicht in den Schutzbereich des Rechts auf Bildung des UN-Sozialpaktes (Urteil vom 19.3.2012 – 15 K 1191/11).

5 Vgl. Eichenhofer 2013, Kaltenkamp 2015, Krennerich 2016.

6 Lesenswert ist der Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission des Deutschen Bundestages, BT-Drs. 12/6000 vom 5.11.1993.

7 Wie bereits 2009 legte die Fraktion „Die Linke“ im Jahre 2017 einen Gesetzesentwurf vor, um soziale Menschenrechte ins Grundgesetz aufzunehmen (BT-Drs. 18/10860).

8 Nach wie vor besteht keine bundesweite amtliche Statistik zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt, dass 2018 etwa 540.000 Menschen in Deutschland über keinen eigentums- oder mietrechtlich abgesicherten Wohnraum verfügen – Tendenz steigend, siehe www.bagw.de

9 Zu den Maßstäben für eine sinnvolle Umsetzung des Inklusions-Prinzips der Behindertenrechtskonvention siehe Bielefeldt 2017.

10 Das Forum Menschenrechte schickte für den aktuellen Berichtszeitraum dem UN-Ausschuss entsprechende Lists of Issues zu territorialen und zu extraterritorialen Staatenpflichten. Auch andere NGOs und Netzwerke beteiligen sich an der „Schattenberichterstattung“.

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