Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 224: Der Osten als Vorreiter? Rechtspopulismus im Gefolge wirtschaftlicher und politischer Umbrüche

Die Geschichte eines Staats­ver­sa­gens

In: vorgänge Nr. 224 (4/2018), S. 99/100

Tanjev Schultz: NSU – Der Terror von rechts und das Versagen des Staates. Droemer, München 2018. 560 S., 26,99 Euro. ISBN 978-3-426-27628-0

Die Geschichte des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) und das vollständige Versagen des Staates bei der Jagd nach dieser Terrorgruppe ist noch nicht erzählt worden. Zwar gab es seit der Selbstenttarnung der Gruppe im November 2011 viele Bücher und Reportagen. Sie reflektierten den jeweils aktuellen Wissensstand oder vertieften bestimmte Aspekte.

Nach dem Ende des Prozesses am 11. Juli 2018 gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, Carsten Schultze, Holger Gerlach und André Eminger erscheint nun eine neue Welle an NSU-Literatur, die sich mit verschiedenen Aspekten des Verfahrens und der Gruppe beschäftigen, darunter politische Analysen, ein Sammelband der Plädoyers der Nebenklage-Anwälte oder die von den SZ-Journalisten Annette Ramelsberger, Tanjev Schultz und Rainer Stadler erstellten Mitschriften von den Verhandlungstagen. Manche dieser Bücher dürften eher fürs Protokoll bzw. von (zeit)historischem Interesse sein. Das gilt nicht für das hier zu besprechende Buch von Tanjev Schultz: „NSU – Der Terror von rechts und das Versagen des Staates“. Auf 560 eng bedruckten Seiten (wobei 100 Seiten auf den Anhang  entfallen) erzählt es die Geschichte der aus Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe bestehenden Terrorgruppe, ihrer Helfer und den Ermittlungen der Sicherheitsbehörden.

In seinem Sachbuch setzt Schultz Schwerpunkte bei der Zeit unmittelbar nach dem Untertauchen von Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos und vor ihrem ersten Mord. Bereits dort macht er massive Fehler in der Polizeiarbeit aus. Bei den Ermittlungen nach dem ersten Mord blockierten sich verschiedene Länderpolizeien, das Bundeskriminalamt und Verfassungsschutzämter gegenseitig und betrieben die Ermittlungen mit beachtlicher Energie in eine falsche Richtung (hin zu Organisierter Kriminalität und Ausländerkriminalität). Diese gravierenden Ermittlungsfehler setzten sich fort nach dem Mord an Halit Yozgat in seinem Internetcafé in Kassel (wo ein Verfassungsschützer ungefähr während der Tatzeit am Tatort war), beim Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn, bis hin zur Schredder-Affäre beim Bundesamt für Verfassungsschutz nach der Selbstenttarnung von Beate Zschäpe. Tanjev untersucht diese Fehlleistungen im Detail und räumt mit einigen beliebten Verschwörungstheorien und Rätseln auf.

Wenn Schultz die erschreckend ineffektive Arbeit der Polizei schildert, wird deutlich, wie stark der im Sicherheitsapparat innewohnende Rassismus ist. Für die Beamten war es, auch wenn immer wieder auf Täter aus dem rechtsextremen Milieu hingewiesen wurde, undenkbar, dass die Morde an Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik und Halit Yozgat einen ausländerfeindlichen Hintergrund haben könnten.

Diese Erkenntnis ist letztendlich erschreckender als eine groß angelegte Verschwörung. Für eine Verschwörung gibt es, so Schultz, keine Beweise. Für die Unfähigkeit, Ignoranz, Dummheit, Betriebsblindheit und das Schubladendenken findet er dagegen zahlreiche Belege.

Für sein Buch wertete Schultz, der für die Süddeutsche Zeitung lange Zeit den Münchner Prozess beobachtete und inzwischen Professor für Journalismus an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz ist, die Berichte der zahlreichen parlamentarischen Untersuchungsausschüsse aus, saß im Gericht, las weitere Akten und führte Hintergrundgespräche. Das alles verdichtet er zu einer chronologisch erzählten Geschichte, die den aktuellen Sachstand widerspiegelt. Es dürfte, nach Jahren journalistischer Arbeit von ihm und anderen Journalisten, Wissenschaftlern, Untersuchungsausschüssen und einer 437 Verhandlungstage dauernden Gerichtsverhandlung, auch die konzentrierteste Geschichte des NSU sein.

Schultz‘ Kondensat seiner langjährigen Arbeit ist kein Buch über die Ideologie von Zschäpe, Böhnhardt, Mundlos und ihrer bekannten oder unbekannten Helfer. Es ist auch keine Analyse des Rechtsterrorismus, so wenig wie es eine Analyse struktureller Fehler im Sicherheitsapparat leisten. Folglich gibt es von ihm auch keine seitenlangen Vorschläge zur Verbesserung. Das alles überlässt Schultz anderen Autoren.

Dafür bietet „NSU“ die Geschichte eines jahrelangen Versagens des Staates beim Erkennen und Verfolgen einer Terrorgruppe in lesbarer Form. Schultz erzählt das gut strukturiert und mit vernünftigen Schwerpunktsetzungen entlang der bekannten Tatsachen.

Axel Bußmer studierte Politologie, Soziologie und Philosophie in Konstanz. Er ist Geschäftsführer des Landesverbandes Berlin-Brandenburg der Humanistischen Union.

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