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Die Versammlung als demokra­ti­scher Normalfall

in: vorgänge Nr. 231/232 (3-4/2020), S. 161-163

Helmut Ridder, Michael Breitbach & Dieter Deiseroth (Hrsg.): Versammlungsrecht des Bundes und der Länder – Kommentar, 2. Auflage, Baden-Baden: Nomos 2020, 1.699 S., 178,- €; ISBN: 978-3-8487-0538-2

Nach 28 Jahren erscheint eine neue und 2. Auflage des Versammlungsrechts-Kommentars „Ridder/ Breitbach/ Deiseroth“. Mit Ausnahme der Herausgeber präsentiert sich der Kommentar mit komplett neuer Autorenschaft. Und er hat nach fast drei Jahrzehnten einiges an Umfang zugelegt. Viel hat sich seitdem im Versammlungsrecht getan: Die Novellierung des Bundesversammlungsgesetzes, die Gräber-, Gedenkstätten- und Bannmeilengesetzgebung, die Föderalismusreform sowie nicht zuletzt die zahlreiche Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte und der Strafjustiz sowie mehr und mehr auch der Landesverfassungsgerichte und der völker- und europarechtlichen Rechtsprechung. Insbesondere haben aber die zahlreichen Protest- und Bürgerbewegungen der vergangenen drei Jahrzehnte zu einer „Motorisierung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ geführt.

Der (nach dem Tod von Ridder und Deiseroth noch verbliebene) Herausgeber Michael Breitbach hebt in seinem Vorwort kritisch hervor, dass sich die Versammlungsfreiheit weiterhin verschiedenster Angriffe ausgesetzt sieht. „Nach wie vor gibt es aus Sicht der grundrechtlichen Freiheit aber auch Desiderate gegenwärtiger Versammlungsrechtspraxis, die der besonderen Aufmerksamkeit bedürfen: dazu rechnen insbesondere der Ausbau des staatlichen Überwachungsregimes samt dem Einsatz moderner Überwachungstechniken, v.a. auch die damit verbundene Herabsetzung von Gefahrenschwellen für staatliches Eingriffshandeln im Namen von Terrorabwehr, der Angriff auf das Vorfeld von Versammlungen, ferner Polizeitaktiken, die nicht dem Grundsatz der Deeskalation verpflichtet sind.“ Damit macht Breitbach klar: auch die neue Auflage verfolgt einen bürgerrechtlichen Ansatz.

Nicht ausdrücklich im Vorwort benannt werden die Corona-Verordnungen der Bundesländer als neueste Herausforderung für die Versammlungsfreiheit, die Problematik findet jedoch beachtenswerter Weise trotz der Kurzfristigkeit umfangreicheren Einschlag in der Kommentierung zu § 15 VersammlG. Zu Recht mahnt hier der Richter Phillipp Wittmann, dass gewährleistet sein muss, „dass die Versammlungsfreiheit ihre Funktion als grundlegende demokratische Freiheit auch in epidemiebedingten Krisenzeiten effektiv verwirklichen kann“. Die, gerade in der Anfangsphase der Pandemie, eingeführten Totalverbote und Erlaubnisvorbehalte sind wohl die tiefgreifendsten Eingriffe in die Versammlungsfreiheit seit Gründung der Bundesrepublik. Wittmann ist zuzustimmen, dass bereits die Notwendigkeit der eingeführten Erlaubnisvorbehalte fraglich ist, da – so Wittmann – auch im Falle eines Erlaubnisvorbehaltes grundsätzlich ein Anspruch auf Erlaubniserteilung bestehe. Naheliegender seien daher Anmeldevorbehalte auch für Versammlungen in geschlossenen Räumen oder der Erlass abstrakt-genereller Versammlungsauflagen, z.B. in Form von Abstandsgeboten. Verbotsregelungen könnten „nur – insbesondere im Hinblick auf sonst kaum infektionsschutzrechtlich kontrollierbare Eil- und Spontanversammlungen – dem Zweck dienen (…), eine individuelle Risiko- und Auflagenprüfung zu ermöglichen“. Letzterem ist jedoch insoweit zu widersprechen, als die gewünschte Kontrollierbarkeit von Spontan- und Eilversammlungen nun einmal nicht einer für alle Versammlungen geltenden Verbotsregelung bedarf.

Wie sich in den letzten Monaten gezeigt hat, ist die vielleicht größte Herausforderung, vor die die Corona-Pandemie den Rechtsstaat stellt, die Schwierigkeit, Grundrechtsschutz zu gewährleisten, wenn schwerwiegende völlig neuartige Grundrechtseingriffe massenhaft gleichzeitig eingeführt werden und die Gerichte schlicht an Kapazitätsgrenzen stoßen. Nach Wittmann haben die Gerichte diese Herausforderung nicht gemeistert. Er attestiert der bis Drucklegung des Kommentars ergangenen Rechtsprechung, dass es dieser „weit überwiegend nicht gelungen“ sei, die „allgemeinen polizeirechtlichen, versammlungsrechtlichen und infektionsschutzrechtlichen Grundsätze sachgerecht auf den Einzelfall zu übertragen“.

Fehlende Sensibilität gegenüber der Versammlungsfreiheit zeigen jedoch auch andere Entwicklungen der letzten Jahre; insbesondere die Tendenz, die Gefahrenschwelle für Eingriffe in die Versammlungsfreiheit zu umgehen, z.B. durch Vorfeldmaßnahmen. Die Praxis der Vorfeldmaßnahmen wird an zwei Stellen kommentiert und an beiden als gesetzeswidrig erachtet. Sowohl Dieter Deiseroth und Martin Kutscha in ihrer  Kommentierung des Art. 8 GG als auch Wittmann in seiner Kommentierung zu § 15 VersammlG sehen für Vorfeldmaßnahmen aus vielerlei Gründen keine gesetzliche Grundlage. Hierbei sind sich die Autoren zwar uneins, ob das Versammlungsgesetz eine abschließende Regelung für Eingriffe in die Versammlungsfreiheit darstellt. Im Ergebnis lehnen jedoch beide Kommentierungen überzeugend sowohl den Rückgriff auf die Polizeigesetze als auch auf § 15 VersammlG ab.

Aufgezeigt wird im Kommentar auch die Absenkung von Eingriffsschwellen bei der Anfertigung von Übersichtsaufnahmen. Clemens Arzt vollzieht die Entwicklung der Übersichtsaufnahmen von der jahrelang ohne Rechtsgrundlage erfolgenden Anwendung in der Praxis bis zur Legalisierung durch neue Regelungen in den Landesversammlungsgesetzen nach und konstatiert: „Die kaum noch zu bestreitende Bejahung der Eingriffsqualität einer lange Jahre rechtswidrig betriebenen Maßnahme führte damit nicht zu deren Unterlassung, sondern einer ausdrücklich gesetzlichen Zulassung.“

Arzts Ausführungen zu den Übersichtsaufnahmen stehen beispielhaft dafür, dass die Föderalismusreform wenig dazu beigetragen hat, der Versammlungsfreiheit einen neuen freiheitlicheren Geist einzuhauchen. Die wegweisende – teils gar pathetische – Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Versammlungsfreiheit hätte dem Gesetzgeber Impulse zu neuen Konzepten geben können. Friederike Wapler fasst in der lesenswerten Einführung zu den Kommentierungen der Landesversammlungsgesetze den derzeitigen Stand zutreffend zusammen: „Betrachtet man die zwischenzeitlich erlassenen Landesversammlungsgesetze, so finden sich erstaunlich wenig grundsätzlich neue Konzepte. Wo Landesgesetzgeber, wie in Bayern, Eingriffs- und Kontrollbefugnisse im Versammlungsbereich ausdrücklich ausweiten wollten, hat das BVerfG diesen Bestrebungen schnell ein Ende bereitet. Doch auch eine Liberalisierung des Versammlungsrechts wird in keinem der Landesgesetze mehr als nur in Ansätzen versucht.“ Die neuen Gesetze übernehmen damit das alte Konzept, dass Wapler treffend wie folgt beschreibt: Das Versammlungsgesetz „atmet (…) den Geist eines besonderen Gefahrenabwehrrechts, das demonstrierende Bürger als sicherheitsrechtlich relevantes Problem, nicht aber als demokratischen Normalfall betrachtet.“

Weniger Leidenschaft für eines der Funktionselemente unseres demokratischen Gemeinwesens transportiert dagegen die Kommentierung des Richters Sebastian Brinsa zum Straftatbestand bei Verstößen gegen das Vermummungsverbot. Durchaus umfassend beschreibt er die verschiedenen Positionen zur Auslegung des Straftatbestandes. Sämtliche, die Weite des Tatbestandes einschränkende, Auslegungsvorschläge lehnt er jedoch ab. Die Frage, ob Bürgerinnen und Bürger aus verschiedensten Gründen nicht ein berechtigtes Interesse an einer anonymen Teilnahme an einer Versammlung haben können, wird nicht einmal angeschnitten. Auch der Umstand, dass die Pönalisierung der Vermummung die Polizei bei jedem Anfangsverdacht eines Verstoßes zum Einschreiten zwingt und dadurch zur Eskalation von Versammlungen beitragen kann, findet keine Erwähnung. Kritisch betrachtet er lediglich den einheitlichen Strafrahmen mit den anderen Tatvarianten des Straftatbestandes, wie dem Waffenführen. Er hält daher eine Anpassung für angezeigt, „sei es durch Erweiterung des Strafrahmens für Bewaffnungstaten (nach Vorbild des BayVersG und des NVersG), sei es (wie im VersFG SH) durch Herabstufung der Schutzbewaffnung- und Vermummungshandlungen zur Ordnungswidrigkeit.“ Dagegen macht  Ulrike Lembke in ihrer Kommentierung zum Vermummungsverbot des Versammlungsfreiheitsgesetzes für das Land Schleswig-Holstein deutlich, dass eine Liberalisierung durchaus geboten erscheint.

Insgesamt atmet der Kommentar einen freiheitlichen Geist und erfüllt die im Vorwort geweckten Erwartungen. Der Gedanke Waplers, die Versammlung als demokratischen Normalfall zu werten, liegt den meisten Kommentierungen zugrunde. Dort wo sich Ansichten widersprechen, erfüllt er den im Vorwort formulierten Anspruch des „offenen (…) gelegentlich kontroversen Dialogs“; wobei hier Verweise auf im Kommentar enthaltene gegensätzliche Positionen leider nicht immer vorhanden sind. In jedem Fall liefert der Kommentar einen soliden, sowohl in die Breite als auch in die Tiefe gehenden Einblick sowie einen wesentlichen Beitrag zum rechtspolitischen Diskurs.

Anja Heinrich

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