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Ein vornehmes Menschen­recht

in: vorgänge Nr. 227 (3/2019), S. 165-168

Jasper Prigge: Versammlungsfreiheit – Ein Praxisleitfaden. Düsseldorf: felix halle verlag, März 2019.

Dürfen Demonstrationsteilnehmende campen? Darf eine Versammlungsbehörde die Demonstrierenden auf eine andere Route als die gewünschte lenken? Darf die Polizei anreisende Demonstranten*innen in Kontrollstellen kontrollieren? Diese Fragen haben zuletzt Aktivisten*innen, Behörden und Gerichte im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Rodung des Hambacher Forsts beschäftigt. Diesen und anderen versammlungstypischen Fragen geht Jasper Prigge in seinem im März 2019 erschienenen Taschenbuch „Versammlungsfreiheit – Ein Leitfaden“ nach.

Der Düsseldorfer Rechtsanwalt Prigge schreibt laut Einleitung sein Buch ausdrücklich aus der Praxis für die Praxis (S. 10) und will – so die Aussage auf dem Buchdeckel – Aktive aus sozialen Bewegungen, Initiativen, Gewerkschaften, Verbänden, Parteien sowie Journalisten* innen ansprechen. Allerdings fokussiert Prigge – ohne dass er das ausdrücklich schreibt – wohl eher auf Demonstrierende aus einem Mitte-Links-Spektrum. Für Rechte enthält das Buch vermutlich nicht die entscheidenden Infos (zum Beispiel welches Hakenkreuz-ähnliche Zeichen noch erlaubt und welches verboten ist); im Gegenteil: Prigge zeigt im Anhang mit Mustertexten auf, wie Veranstalter einer Versammlung in geschlossenen Räumen bereits in der Versammlungseinladung deutlich machen können, dass der rechten Szene angehörige Menschen nicht erwünscht sind. Aber auch für andere Gruppen wie die Kurden*innen dürfte das Buch nicht die entscheidenden praxisrelevanten Informationen zu zulässigen Inhalten von Transparenten liefern. Für einen Teil der Demonstrierenden im Hambacher Forst ist der Ratgeber möglicherweise nicht radikal genug, weil er zum Beispiel keine Informationen dazu enthält, inwieweit im Zusammenhang mit Versammlungen Festgehaltene die Angabe ihrer Personalien verweigern dürfen. Dazu gibt es aber aus anderen Quellen einschlägigere Rechtsratgeber, etwa von „Ende Gelände“.[2]

Für die breite Masse von Demonstrierenden wird Prigge jedoch dem Praxistauglichkeitsanspruch mit Form und Inhalt gerecht: Das Buch ist von handlichem Format, übersichtlich gegliedert, erklärt die häufigsten Abkürzungen und enthält im Anhang Muster für häufig im Rahmen von Versammlungen benötigte Texte, wie die Anmeldung einer Versammlung oder den Antrag auf Übersendung des Protokolls eines Kooperationsgespräches mit der Polizei. Hier fehlt allerdings der Hinweis, dass Versammlungsbehörden in der Regel im Netz Formulare zum Anmelden einer Versammlung anbieten.[3] Ebenso wäre wünschenswert gewesen, dass Prigge die im Laufe des Buches vorgestellten Checklisten (beispielsweise zum „Kooperationsgespräch“, S. 56) am Ende gebündelt wiederholt hätte.

Im ersten Kapitel zeigt Prigge die vier Phasen einer Versammlung kurz auf: Vorbereitungs-, Verhandlungs-, Durchführungs- und Nachbereitungsphase. Sodann gibt er eine Übersicht über die Grundlagen der Versammlungsfreiheit aus Artikel 8 Grundgesetz und die Regelungen des Versammlungsgesetzes: Versammlungen im Sinne des Artikel 8 Grundgesetz sind örtliche Zusammenkünfte von mindestens zwei Personen zwecks gemeinschaftlicher Erörterung und Kundgebung mit dem Ziel der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung.[4] Auch Konzerte sowie Veranstaltungen mit kommerziellem Anteil können Versammlungen sein, solange der Schwerpunkt der Veranstaltung bei der Meinungsäußerung liegt (S. 26f.). Versammlungen sind allerdings nur dann von Artikel 8 Grundgesetz geschützt, wenn die Teilnehmenden friedlich und ohne Waffen sind. Eine Versammlung ist jedoch erst dann unfriedlich, wenn Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen stattfinden (S. 29). Sollten nur einzelne Teilnehmende gewalttätig sein, muss die Polizei zunächst nur gegen diese vorgehen (S. 30). Sitzblockaden machen eine Versammlung nicht unfriedlich, auch wenn sie strafrechtlich teilweise als Nötigung gewertet werden können (S. 30 f.). Entgegen dem Wortlaut des Versammlungsgesetzes führt die Nichtanmeldung einer Versammlung nicht zu deren Verbot. Versammlungen müssen ebenso wenig genehmigt werden (S. 21). Unterschieden wird zwischen Versammlungen unter freiem Himmel und solchen in geschlossenen Räumen, für die weniger strenge Vorgaben gelten, weil von ihnen in der Regel weniger Gefahren ausgehen. Versammlungen unter freiem Himmel sind solche, zu denen der Zugang seitlich nicht begrenzt ist, auch wenn die Versammlung in der Abfertigungshalle eines Flughafens stattfindet (S. 33). Was in diesem Grundlagen-Kapitel allerdings fehlt ist die mittlerweile diskutierte Frage, ob virtuelle Versammlungen den Schutz der Versammlungsfreiheit genießen.

Auf die Struktur des Versammlungsgesetzes geht der Autor im dritten Kapitel zu kurz ein. Hier fehlen erstens kurze Ausführungen zum Verhältnis von Versammlungsfreiheit und Versammlungsgesetz; zweitens wären zumindest einige wenige rechtspolitische Äußerungen dazu, warum die Länder seit 2006 nur so spärlich Gebrauch von der Gesetzgebungsbefugnis im Versammlungsrecht gemacht haben, wünschenswert gewesen. Insbesondere fehlt aber, dass der Autor im gesamten Text, wann immer er Normen aus dem Bundesversammlungsgesetz nennt, die entsprechenden Normen aus den Versammlungsgesetzen Bayerns, Niedersachsens, Sachsens, Sachsen-Anhalts und Schleswig-Holsteins nennt, um das Buch auch für Aktive aus diesen Ländern möglichst praxistauglich zu machen. 

Im vierten Kapitel über die Anmeldung einer Versammlung (S. 39 ff.) führt Prigge an, dass Versammlungen zwar nicht zwingend angemeldet werden müssen, aber grundsätzlich angemeldet werden sollten, weil sie sonst leichter verboten werden können, weil die Polizei ohne Vorbereitung möglicherweise nicht schnell genug auf die von einer Versammlung ausgehenden Gefahren, etwa die Beeinträchtigungen des Straßenverkehrs, eingehen kann. Er zeigt die Unterschiede zwischen Eil- und Spontanversammlungen und Flashmobs hinsichtlich der „Anmeldepflicht“ auf. Sehr erfreulich ist bereits in diesem Kapitel, aber insbesondere im Nachfolgekapitel „Das Kooperationsgespräch“ (S. 49 ff.), dass Prigge einerseits deutlich macht, dass eine gute Kooperation zwischen Versammlungsbehörde und Veranstaltern* innen eine gelingende Durchführung der Versammlung erleichtern kann, andererseits aber herausstellt, dass die Veranstalter*innen keine Bittsteller gegenüber der Behörde sind, sondern ein „Selbstbestimmungsrecht“ über ihre Versammlung haben (S. 57 f.). Hilfreich sind praxisbezogene Tipps, wie dass die Veranstalter nicht alleine zum Kooperationsgespräch gehen sollen, weil sie meistens mehreren Behördenvertretern*innen gegenübersitzen (S. 51) und dass sie das Kooperationsgespräch protokollieren sollen. Wünschenswert wäre allerdings gewesen, dass Prigge noch stärker herausgestellt hätte, dass angesichts der Anmeldefreiheit des Grundgesetzes, die immer noch im Versammlungsgesetz enthaltene Strafsanktion für Veranstalter, die eine Versammlung nicht angemeldet haben (§ 26 Nr. 2 Bundes-Versammlungsgesetz), dringend abgeschafft werden muss.

Im sechsten Kapitel über „Verbot, Auflagen und Rechtsschutz“ stellt Prigge sauber dar, welch hohe Anforderungen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an das Verbot oder die Auflösung einer Versammlung geknüpft sind. Auch Auflagen, die den Zeitpunkt oder den Streckenverlauf einer Versammlung, aber auch den Alkoholkonsum oder das Mitführen von Transparenten betreffen können, sind nur zulässig zur Abwehr einer von der Versammlung ausgehenden Gefahr, für die die Versammlungsbehörde eine nachvollziehbare Prognose aufstellen muss (S. 79).

Im siebten Kapitel „Durchführung einer Versammlung“ sind insbesondere die Hinweise zur Stellung der Versammlungsleitung und deren Rechten und Pflichten besonders hilfreich für die Praxis. Allerdings fehlen Informationen zu gängigen polizeilichen Maßnahmen, die im Kontext von Versammlungen durchgeführt werden: So geht der Autor nicht auf den Präventivgewahrsam ein, obwohl die Polizei immer wieder im Vorfeld von oder während der Versammlungen Menschen in Gewahrsam nimmt, von denen sie eine Gewaltausübung erwartet oder die sie als Störer aus einer Versammlung herausgefiltert hat. Im Zusammenhang mit der polizeilichen Kameraüberwachung während Versammlungen (S. 127 ff.) fehlt eine Auseinandersetzung mit Bodycams, die bereits in mehreren Bundesländern von der Polizei in geschlossenen Einsätzen bei Versammlungen verwendet werden. Zudem fehlt ein Hinweis darauf, dass nicht nur Journalisten*innen die Polizei im Einsatz grundsätzlich filmen und fotografieren dürfen (S. 133f.), sondern auch die Demonstranten*innen selbst, wenn sie eine Demobeobachtung organisieren.

Prigge wünscht sich, dass mehr Menschen durch das Buch dazu befähigt werden, von ihrer Versammlungsfreiheit Gebrauch zu machen (S. 11). Sein Buch ermuntert Menschen in der Tat dazu, dass sie ihre Gegenmeinungen zu politischen und gesellschaftlichen Tatsachen mit anderen gemeinsam auf der Straße zum Ausdruck bringen, ohne dass sie den bürokratischen Aufwand und Konflikte mit der Versammlungsbehörde und der Polizei zu stark fürchten müssen.

Anmerkungen:

2 S. https://www.ende-gelaende.org/wp-content/uploads/2017/07/legalteam_broschuere-3.pdf.

3 S. zur Übersicht: https://demonstrare.de/demonstration-anmelden/.

4 S. 25 mit dem Verweis auf Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.7.2001 – 1 BvQ 28/01 – Loveparade / Fuckparade.

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