Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 219: Soziale Menschenrechte

Wieviel Sozialstaat braucht die Gesell­schaft im Kapita­lismus mit mensch­li­chem Antlitz?*

in: vorgänge Nr. 219 (3/2017), S. 55-60

Dass soziale Sicherheit eine Grundvoraussetzung für die Wahrnehmung von Freiheitsrechten ist, gilt heute als Allgemeingut. Was aber wäre, wenn soziale Sicherungssysteme dazu beitragen, dass Menschen die Verantwortung für ihre Lebensumstände an den Staat delegieren, sprich: sich in Unfreiheit begeben? Im folgenden Essay skizziert Thomas Flint diese Gefahr einer Entmündigung durch den immer stärker geforderten Sozialstaat und plädiert für eine Beschränkung auf basale Risiken.

Mein Thema ist die Bedeutung von Freiheit und Verantwortung hier und heute. Es geht mir um das Verhältnis von sozialstaatlichen Leistungen und gesellschaftlicher Vitalität.

I

Durch sozialstaatliche Leistungen werden nicht nur Lebensrisiken wie Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Arbeitslosigkeit abgesichert, eine Einkommenssicherung im Alter und bei Invalidität bewirkt und bei Hilfebedürftigkeit eine Existenzsicherung gewährleistet. Den sozialstaatlichen Leistungen kommt darüber hinaus die Funktion zu, die sich in einer auf Freiheit setzenden Gesellschaft immer wieder von neuem bildende soziale Ungleichheit durch Leistungen des Sozialstaats zu relativieren, damit die rechtlich gleichen Menschen die Chance zur Realisierung ihrer Freiheit haben – auch zum Wohle von Gesellschaft und Staat.

Diese Zusammenhänge zwischen rechtlicher Freiheit und sozialer Ungleichheit, zwischen Hilfe zur Ermöglichung von Freiheit durch sozialstaatliche Ordnung und deren gesellschaftliche Wirkungen hat insbesondere Böckenförde vielfach und eindringlich beschrieben.[1] Beschrieben hat er dabei auch, dass bei ihrer Entstehung unerlässliche Systeme der sozialen Sicherung und Hilfe zur Ermöglichung von Freiheit aufgrund der weiteren Entwicklung oder veränderter Gegebenheiten ihre Rechtfertigung ganz oder teilweise verlieren können, ihr Abbau oder Umbau erforderlich ist, dieser aber mit dem Besitzstandsdenken kollidiert, das Böckenförde als gegenwärtige Grundgestimmtheit unserer Gesellschaft über alle Schichten hinweg bezeichnet. „Dieses Besitzstandsdenken geht davon aus, daß das, was einmal an sozialer Sicherung und Hilfe staatlich ins Werk gesetzt ist, als eigenes Recht anwächst; es kann daher nicht beseitigt oder nachhaltig verändert, sondern allenfalls fortentwickelt werden.“[2]

Diesem Befund kann ich mit meinen Erfahrungen als Richter in der Sozialgerichtsbarkeit nur zustimmen.

II

Dabei meine ich nicht nur meine Erfahrungen aus den vielgestaltigen Einzelfällen. Und ich weiß auch, dass es Systembrüche im Sozialrecht gibt, rechtswidriges Verwaltungshandeln und Herausforderungen, auf die der Gesetzgeber nicht reagiert hat. Es ist nicht alles gut.

Doch mir geht es um meinen Eindruck über die Jahre und Fälle und Textstufen des geltenden Rechts hinweg. Dieser ist geprägt durch meine Wahrnehmung einer beständigen und fordernden Erwartungshaltung der Leistungen beanspruchenden Personen und einer ebenso beständigen und nicht zu beseitigenden Unzufriedenheit der Leistungen erhaltenden Personen. Ich beobachte, dass mehr Geld in sozialen Leistungssystemen, deren Ausdehnung in weitere Lebensbereiche und enorme Ausdifferenzierung nicht zur gesellschaftlichen Erkenntnis führt, dass es gut steht um den Sozialstaat in Deutschland. Vielmehr ist es nie genug: Es muss auch aus einer Risikoabsicherung mit Solidarprinzip mindestens herausgeholt werden, was hineingegeben worden ist; es darf nie weniger werden, als es derzeit ist; es soll nie beim Erreichten bleiben, sondern muss immer mehr werden. Entsprechend ist es üblich und wird gesellschaftlich akzeptiert, über die soziale Kälte und die soziale Schere in der Bundesrepublik Deutschland zu klagen.

Es gehört auch zu meinen Erfahrungen als Richter in der Sozialgerichtsbarkeit, dass sich den Beteiligten im Sozialgerichtsverfahren das geltende Recht, trotz der enormen sozialen Sicherung und gesellschaftlichen Umverteilung, die es leistet, kaum als einfach erkennbar und in der Sache gerecht erklären lässt. Das Sozialrecht enthält sich häufig ändernde, kleinteilige, komplizierte Regelungen, und es überzeugt nicht von seiner Gerechtigkeit, weil seine Regelungen nur selten aus sich heraus einleuchten und weil gesellschaftliche Haltungen und Erwartungen entstanden sind, die durch staatliches Recht nur enttäuscht werden können. Erklärungen und Entscheidungen durch Gerichte führen deshalb nur selten zu Befriedungen.

III

Dies passt zu der Grundgestimmtheit, die Böckenförde beschreibt. Diese gesellschaftliche Grundgestimmtheit – die natürlich Ausnahmen kennt – ist für mich Ausdruck eines Verzichts auf Freiheit durch die Gesellschaft im Tausch gegen die soziale Versorgung durch den Staat, eines Handels, auf den die Gesellschaft und der Staat sich eingelassen haben. Mit dem erreichten Stand sozialer Leistungen ist in Deutschland weit über die Absicherung von Lebensrisiken und die Relativierung sozialer Ungleichheit zur Ermöglichung von gesellschaftlicher Freiheit durch staatliche Ordnung hinausgegangen worden. Es werden nicht mehr nur die potentiell alle Menschen betreffenden Lebensrisiken ausgeglichen, nicht mehr nur Auswüchse des grundsätzlich freigesetzten wirtschaftlich-sozialen Prozesses in einer freien kapitalistischen Gesellschaft, die auf Eigentumserwerb und dessen Perpetuierung durch das Erbrecht setzt, verhindert oder dessen Auswirkungen im Einzelfall abgemildert.

Gewiss sind diese sozialstaatlichen Rahmenbedingungen nötig und bedarf es sozialstaatlicher Interventionen, weil der Kapitalismus als Gesellschaftsform aus sich heraus nicht auf sozialen Ausgleich angelegt ist. Auch dies findet sich bei Böckenförde ebenso klar wie mahnend beschrieben.[3] Doch geht es bei dem erreichten Stand sozialer Sicherung nicht mehr nur um Freiheitsermöglichung in der kapitalistischen Gesellschaft durch sozialstaatliche Leistungen, um ein Gegenmodell zum Kapitalismus in seinem inhumanen Charakter. Denn Freiheitsermöglichung in diesem Sinne ist etwas anderes als soziale Versorgung. Jene setzt frei, diese aber zur Ruhe. Ein menschliches Antlitz gewinnt der Kapitalismus hieraus nicht, so, wie es schon für den Sozialismus nicht durch die Überbetonung des Sozialen zulasten der Freiheit zu erreichen war.
Doch die Leiche ist bunter.

IV

Heiner Müller
NACHTZUG BERLINFRIEDRICHSTRASSE
FRANKFURTMAIN

Nach der Fahrt durch die lichtlose Heimat
der Haß auf die Lampen
Daß die Leiche so bunt ist!
ICH BIN DER TOD KOMM AUS ASIEN

V

Es sind heute in Deutschland nicht durch sozialstaatliche Leistungen die Menschen so frei geworden, dass sie sich in der Gesellschaft als Persönlichkeiten frei entfalten wollen, auch wenn sie es können. Vielmehr haben sich Gesellschaft und Staat darauf eingelassen, dass der Staat die Gesellschaft sozial versorgt und sich so Frieden in der Gesellschaft kauft. Das hat gewiss Vorteile für alle. In tiefem Frieden lässt sich ganz gut leben.

Das Gefühl aber, gekauft worden zu sein, scheint die Gekauften zu dem Gefühl zu berechtigen, unzufrieden sein zu dürfen und berechtigt zu sein, den Preis immer weiter nach oben zu treiben. Sie halten sich auch für berechtigt, den Staat für alles das verantwortlich zu machen, was in eigenen oder familiären, beruflichen oder sonstigen gesellschaftlichen Lebensverhältnissen doch allererst ihre eigene Verantwortung ist. So hat der Handel zwischen Sozialstaat und Gesellschaft zwar zu Frieden im Sinne von  friedlichen Verhältnissen, aber nicht zur Zufriedenheit der Einzelnen wie der Gesellschaft geführt.

Hierfür steht die weit verbreitete gesellschaftliche Stimmungslage, die den Eindruck vermittelt, es stehe schlecht um den Sozialstaat in Deutschland. Unsere Probleme aber hätten andere gern.

Dabei verschließe ich nicht die Augen vor den Problemen und Unzulänglichkeiten, die wir auch im Bereich des Sozialen haben. Ich lasse mir von diesen aber nicht den vergleichenden und bewertenden Blick dafür trüben, auf welchem hohen Niveau diese auftreten und wie sehr sie auch mit der Zuweisung aller Verantwortung für ihre Lösung durch die Gesellschaft an den Staat zu tun haben.

VI

Die beschriebene gesellschaftliche Stimmungslage ist weder für die Gesellschaft noch den Staat folgenlos. Sie führt nicht nur zur Forderung aus der Gesellschaft nach immer weiterer Verrechtlichung und Vergerechtlichung im Bereich des Sozialen und zu dem Ruf nach der Verantwortung des Staates sowie zu dem Aufgreifen der Forderung und zur Annahme des Rufes durch den immer komplizierteren und teureren, in Gerechtigkeitsdifferenzierungen verstrickten, immer weitere Lebensbereiche regulierenden Sozialstaat. Vielmehr betreffen der Freiheitsverzicht und die Verantwortungsentledigung der Gesellschaft gegen soziale Versorgung durch den Staat das Verhältnis von Gesellschaft und Staat in seinem Kern.

Soziale Errungenschaften für die Gesellschaft allein bewahren einen Staat nicht vor der Implosion. Es braucht auch die Freiheit und Verantwortungsübernahme der Ge-sellschaftsmitglieder. Die soziale Versorgung gegen Freiheitsverzicht dagegen führt zur Freiheit nur der Wenigen, die einer sozialen Sicherung zur Freiheitsermöglichung von vornherein nicht bedürfen und sich aus der Gesellschaft und aus ihrer Verantwortung für die Gesellschaft – auch unter Freizeichnung von den für sie geltenden staatlichen Regeln in einer globalisierten Welt – verabschieden können.

Die für die staatliche Freiheitsordnung unverzichtbare vitale Gesellschaft der Vielen braucht das erst durch Freiheit ermöglichte eigenverantwortliche, kreative, auch verrückte Element, das auf der Grundlage einer diese Freiheit ermöglichenden sozialen Sicherung die Gesellschaft und den Staat durch Freiheitsausübung und Verantwortungsübernahme belebt und bestätigt. Die sozialstaatlich unterhaltene gesellschaftliche Versorgungsmentalität kann dies nicht leisten. Freiheiten, die sich durch Einzelne von der sozialen Versorgung genommen werden können oder gegen sie genommen werden, beleben und bestätigen weder die freiheitliche Gesellschaft noch die staatliche Freiheitsordnung, sondern steigen aus beiden aus.

Es braucht einen breiten Korridor zwischen Ausstieg und Versorgung, in dem individuelle Freiheit durch sozialstaatliche Sicherung ermöglicht ist, sonst gibt es keine Gesellschaft, in der sich die Menschen als Persönlichkeiten frei entfalten und in der in Freiheit und Eigenverantwortung mit anderen Menschen zusammen zu leben und Verantwortung zu übernehmen Spaß macht. Soziale Versorgung durch den Staat und Freiheitsverzicht sowie Verantwortungsentledigung der Gesellschaft, deren Wirklichkeitswahrnehmung zudem weithin aus Medien gespeist ist, die den durch Ruhe und Frieden leer gewordenen Raum mit Unterhaltung besetzen, geben der Gesellschaft mehr Sozialstaat, als die freiheitliche Gesellschaft und der freiheitliche Staat brauchen, und als gut für beide ist.

An der Spirale sozialstaatlicher Versorgung gegen gesellschaftlichen Freiheitsverzicht kann zwar durch mehr – nicht nur beitrags- oder steuer-, sondern auch schuldenfinanziertes – Geld noch weiter gedreht werden. Innerhalb ihrer Logik gibt es keinen Punkt, von dem aus es nicht mehr weiter geht. Aber auch das hat einen Preis. Dafür, dass die sozial versorgte Gesellschaft, die sich mit ihrem Freiheitsverzicht arrangiert hat, ihre Ketten weniger spürt, hat sie sich von ihrer Verantwortung verabschiedet. Die mit dem Verzicht auf Freiheit einhergehende Entledigung von Verantwortung, die von der Gesellschaft an den Staat auch in allererst individuellen und gesellschaftlichen Angelegenheiten weitergereicht wird, höhlt die Gesellschaft aus und überfordert den Staat.

Die Zukunft der Verantwortung, ohne die es ein menschliches Antlitz auch der Gesellschaft im Kapitalismus nicht geben kann, ist unter diesen Bedingungen ungewiss.

VII

Das alles ist nicht neu, sondern von anderen andernorts beschrieben.[4]) Doch es kann nicht oft genug gesagt werden, damit es angesichts der Stabilität der gesellschaftlichen Stimmungslage eine Chance auf Gehör geben kann.
Fazit meiner Erfahrungen und Überlegungen ist, dass es mehr Freiheit und Eigenverantwortung braucht, soll es eine vitale Freiheitsordnung sein, in der wir leben wollen; eine Gesellschaft, die eine Eigenverantwortung der Einzelnen für sich und eine Kultur der Verantwortung aller für das, was die Gesellschaft zusammen hält, kennt und schafft; eine Gesellschaft, die den Staat eben nur so weit fordert, dass er die Ausübung von Freiheit und Übernahme von Verantwortung durch alle auch in sozialer Hinsicht ermöglicht und sich im Übrigen auf die Deckung besonderer sozialer Hilfebedarfe Einzelner beschränken kann.

VIII

Ja, ich weiß, dass die Dinge komplizierter liegen. Und ich habe auch nicht resigniert.

THOMAS FLINT   Dr. iur., geboren 1966, studierte 1989 bis 1993 Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin (HUB); von 1994 bis 1999 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HUB bei Prof. Dr. Bernhard Schlink; von 1999 bis 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei Prof. Dr. Jutta Limbach; seit 2001 Richter in der Sozialgerichtsbarkeit; seit 2013 Richter am Bundessozialgericht. Flint ist zugleich Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg.

Anmerkungen:

1 Zuletzt Böckenförde, Wieviel Staat die Gesellschaft braucht, in Böckenförde/Gosewinkel, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, 2011, S. 53–63.

2 Böckenförde, a. a. O., S. 61.

3 Zuletzt Böckenförde, Woran der Kapitalismus krankt, a. a. O., S. 64–71.

4 Wichtig für mich Schlink, Der Preis der Gerechtigkeit, Merkur 2004, S. 983; ders., Die Zukunft der Verantwortung, Merkur 2010, S. 1047.

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