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Notstands­ver­fas­sung und Wissen­schafts­frei­heit. Eine Stellung­nahme der Universität Frankfurt

Aus: vorgänge Heft 2/1965, S. 70-72

(vg) Der Akademische Senat der Johann Wolfgang Goethe-Universität hat sich in seiner Sitzung vom 14. Oktober 1964 mit der Frage befaßt, ob der Regierungsentwurf einer Notstandsverfassung (Bundestags-Drucksache IV/891 vom 11. 1. 1963) die Wissenschaftsfreiheit in ungerechtfertigter Weise beschränke. Der Senat hat eine Stellungnahme beschlossen, die wir mit Kürzungen veröffentlichen.

Der Regierungsentwurf einer Notstandsverfassung setzt die Freiheit der Wissenschaft der Gefahr einschneidender Beschränkungen aus. Die vorgesehenen Grundrechtseinschränkungen verletzen zum großen Teil das Verfassungsgebot konkret spezifizierter Eingriffsermächtigungen, den unantastbaren Kernbereich der Wissenschaftsfreiheit und das verfassungsrechtliche Übermaßverbot. Es ist deshalb dringend geboten, auf eine Änderung des Entwurfs hinzuwirken, die sich im Rahmen der auch dem Verfassungsgesetzgeber der Bundesrepublik gesteckten Verfassungsschranken hält und die Notstandsbeschränkungen der Wissenschaftsfreiheit in der erforderlichen Weise konkretisiert . . .

Im einzelnen ist zu dem Entwurf folgendes zu bemerken:

I. Die Bedeutung des Entwurfs für die Wissen­schafts­frei­heit

Der Entwurf läßt tief eingreifende Beschränkungen der Wissenschaftsfreiheit im Zustand der äußeren Gefahr und der durch Einwirkung von außen bewirkten inneren Gefahr zu, begrenztere Maßnahmen in den anderen Fällen der inneren Gefahr und im Katastrophenfall.

1. Ist der Eintritt des Zustandes der äußeren Gefahr festgestellt oder liegt ein Zustand der inneren Gefahr durch Einwirkung von außen vor, zu dessen Bekämpfung der Bund zuständig ist, können, erforderlichenfalls durch Notverordnung der Bundesregierung, u. a. „die Grundrechte aus Art. 5… über das sonst zulässige Maß hinaus eingeschränkt werden” (Art. 115 b Abs. 2 a, Art. 115 1 Abs. 1 b Satz 2). Dadurch werden die zuständigen Organe zu Regelungen ermächtigt, welche die in Art. 5 Abs. 3 GG garantierte Wissenschaftsfreiheit in allen ihren Ausprägungen betreffen: die Freiheit der Forschung und Lehre, die freie wissenschaftliche Kommunikation und Information, das Recht des Wissenschaftlers, Forschungsergebnisse nicht zu publizieren (Geheimhaltungsfreiheit), sowie die Freiheitsgarantie für die wissenschaftlichen Hochschulen.

Nach dem Regierungsentwurf sind insbesondere folgende Eingriffe möglich:

a) Einschränkungen der wissenschaftlichen Kommunikation, etwa durch Einführung einer (in den Schutzbereich sowohl des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 als auch des Art. 5 Abs. 3 GG eingreifenden) Vorzensur für wissenschaftliche Buchpublikationen, Zeitschriften und Rundfunksendungen, entweder im Rahmen einer allgemeinen, auch Tageszeitungen usw. betreffenden Zensurregelung, oder nur für wissenschaftliche Publikationen usw., und zwar auf allen oder bloß auf einigen Gebieten, z. B. Naturwissenschaft und Technik; ferner z. B. durch generelle oder partielle Veröffentlichungsverbote oder durch ein sonstiges „Einschreiten gegen bestimmte ihre Rechte mißbrauchende Publikationsorgane” . . .

b) Eingriffe in den grundrechtlichen Status der wissenschaftlichen Hochschulen und ihrer Lehrer, z. B. durch zeitweilige Einschränkung oder Aufhebung der akademischen Selbstverwaltung, durch Einsetzung von Staatskommissaren zur Leitung der Hochschulverwaltung oder zur Kontrolle des Lehr- und Forschungsbetriebes, dies u. U. begrenzt auf Institute und Lehrveranstaltungen bestimmter, als besonders wichtig oder gefährlich erachteter Fächer.

c) Sicherstellung und zwangsweise Nutzung von Forschungsergebnissen, die von den Forschern nicht freiwillig zur Verfügung gestellt werden, deren Auswertung aber als notwendig für die Überwindung der Gefahr angesehen wird. Derartige Sicherstellungsgesetze oder -notverordnungen würden über die als einfache Notstandsgesetze geplanten Sicherstellungsgesetze für Wirtschaft, Verkehr usw. noch hinausreichen und in die Geheimhaltungsfreiheit eingreifen.

2. In Notstandssituationen kann ein Bedürfnis zur Indienststellung nicht nur wissenschaftlicher Arbeitsergebnisse, sondern auch der wissenschaftlichen Arbeiter selbst auftreten oder empfunden werden, so vor allem, wenn die betreffenden Wissenschaftler sich nicht freiwillig für Leistungen auf ihrem Arbeitsgebiet zur Verfügung stellen, die der Gefahrenabwehr dienen. Hier greifen, als wichtige Ergänzung der zuvor geschilderten Notstandsermächtigung, die Vorschriften des Regierungsentwurfs über die Dienstverpflichtung ein. Danach können im Zustand der äußeren Gefahr „die Bewohner der Bundesrepublik Deutschland (also auch die Wissenschaftler) über das nach Art. 12 Abs. 2 Satz 1 zulässige Maß hinaus … zu Dienst- und Werkleistungen verpflichtet werden.” … Auch zu Dienstleistungen, die mit ihrem Fach oder überhaupt mit wissenschaftlicher Arbeit nichts zu tun haben, können Wissenschaftler gezwungen werden.

Diese Ermächtigungen im Regierungsentwurf einer Notstandsverfassung sind eng verknüpft mit der „einfachen”, nach Meinung ihrer Verfasser im Rahmen des Art. 12 Abs. 2 Satz 1 GG sich haltenden Notstandsregelung, insbesondere dem Zivildienstgesetz, nach dem „alle Arbeitsfähigen zu bestimmten Arbeiten in bestimmten Berufen an bestimmten Arbeitsplätzen gezwungen werden und dafür zwangsweise unter Ausschaltung jeder Wahlmöglichkeit ausgebildet werden” können… Die verfassungsändernde und die einfache Notstandsregelung ermöglichen insgesamt eine umfassende Inpflichtnahrne der Wissenschaftler und Reglementierung ihrer Arbeit …

II. Der Prüfungs­maß­stab

Nach Art. 79 Abs. 3 GG sind Grundgesetzänderungen, welche die Grundsätze der Artikel 1 und 20 GG berühren, unzulässig. „Alle staatliche Gewalt”, auch der die Verfassung ändernde Gesetzgeber und die durch ihn eingesetzte Notstandsgewalt, ist verpflichtet, die „Würde des Menschen… zu achten und zu schützen”, den unantastbaren Menschenrechts- und Freiheitsgehalt der Grundrechte zu respektieren (Art. 1) und die Grundprinzipien der rechtsstaatlichen Demokratie zu wahren (Art. 20). Auch eine Notstandsverfassung muß sich im Rahmen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung halten. Das heißt nicht, daß sie auf außergewöhnliche Maßnahmen und Eingriffe, besonders im Kriegsfalle, völlig verzichten müßte und jegliche Erwägungen der „Staatsräson” von vornherein auszuscheiden hätten. Aber die Staatsautorität und ihre „Räson” dürfen nicht isoliert verstanden, zum Selbstzweck verabsolutiert und der Notstandsregelung als entscheidende Norm aufgeprägt werden. Legitim sind sie nur, wenn und soweit sie der Entfaltung und dem Schutz der freiheitlichen Lebens-und Gesellschaftsordnung dienen. Nicht aus ihnen, vielmehr aus der Verfassungsentscheidung für die freiheitliche Demokratie ergeben sich die obersten verbindlichen Maßstäbe. Die Notstandsordnung soll nicht den Staat schlechthin, nicht Staatsautorität, -organisation und -apparat um ihrer selbst willen, sondern den freiheitlich-demokratisch verfaßten Staat schützen. Sie muß ein Maximum an Freiheitlichkeit aufrechterhalten, wozu vor allem auch gehört, daß sie sich zur Bekämpfung von Krisen in erster Linie auf die freiwilligen Abwehrkräfte der Bürger und ihrer Gruppen stützt und sie mobilisiert. Zwangsmaßnahmen und Freiheitsbeschränkungen darf sie nur da verhängen, wo es unerläßlich, und nur so lange, wie es zur Wiederherstellung normaler Verhältnisse unbedingt nötig ist.

Daraus folgt, daß eine Änderung des Art. 5 Abs. 3 GG nur in engen Grenzen zulässig sein kann. Die Regelung des Verhältnisses von Staat und Wissenschaft, die diese Vorschrift enthält, ist eine, und zwar eine strukturwesentliche Konkretisierung der Verfassungsentscheidung für die freiheitliche Demokratie. Dies gilt auch für Satz 2 der Vorschrift, wonach die Freiheit der Lehre nicht von der „Treue zur Verfassung” entbindet: mit der „Verfassung” ist nichts anderes als eben die freiheitliche demokratische Grundordnung gemeint. Notstandsregelungen, welche die Freiheit der Wissenschaft aufheben oder auf ihre, wenn auch nur partielle, Aufhebung praktisch hinauslaufen, sind, jedenfalls in der Regel, unzulässig.

Der unantastbare Kern des Rechtsstaatsprinzips umfaßt das Übermaßverbot, das somit auch den Verfassungsgesetzgeber bindet. Im Zusammenhang damit steht der weitere rechtsstaatliche Grundsatz, daß gesetzliche Ermächtigungen hinreichend bestimmt und begrenzt sein müssen, damit Eingriffe in Grundrechte meßbar und für die Betroffenen möglichst voraussehbar werden. Globale Ermächtigungen, die nur durch — ebenfalls weitgefaßte — Übermaßklauseln eingeschränkt werden, sind damit, wenn überhaupt, so nur dann vereinbar, falls konkrete, spezifizierte Eingriffsermächtigungen nicht möglich sind. Die Verwendung von Generalklauseln und unbestimmten Gesetzesbegriffen in Notstandsregelungen auf das unvermeidbare Mindestmaß zu beschränken, ist eine Forderung auch der politischen Vernunft: es sollte jeder Anschein vermieden werden, als ob der Versuch unternommen würde, neben die normale freiheitlich-demokratische Verfassung oder womöglich über sie eine autoritäre Notstandsverfassung zu stellen.

Dies alles muß besonders intensiv bei der Beurteilung von Notstandsregelungen berücksichtigt werden, die auch oder nur in Friedenszeiten Anwendung finden sollen. Bei ihnen, mindestens soweit sie nicht unmittelbar der militärischen Verteidigung und dem Schutz der Bevölkerung vor Kriegseinwirkungen dienen, besteht in gesteigertem Maße die Gefahr, daß sie Maßnahmen ermöglichen, die in die Freiheit, die sie doch schützen sollen, eingreifen, bevor sie ernsthaft gefährdet ist, und die Bürger ohne zwingende Not als Vollzugsinstrumente in den Dienst der Staatsautorität stellen. An freiheitsbeschränkende Notstandsermächtigungen und -maßnahmen, die zur Abwehr „innerer Gefahren” bestimmt sind, ist daher ein besonders strenger Maßstab anzulegen.

III. Beurteilung des Entwurfs

Mißt man den Entwurf an diesen Maßstäben, so gelangt man zu folgenden Ergebnissen:

1. Die in dem Entwurf vorgesehenen Grundrechtseinschränkungen verstoßen zum großen Teil, insbesondere soweit sie Art. 5 Abs. 3 GG betreffen, gegen das Verfassungsgebot konkret spezifizierter Eingriffsermächtigungen.

a) Die Vorschriften des Entwurfs, wonach unter bestimmten Umständen „die Grundrechte des Art. 5 … über das sonst zulässige Maß hinaus eingeschränkt werden” dürfen, sind … zu allgemein gehalten, um rechtsstaatlichen Anforderungen zu genügen. Der verfassungsändernde Notstandsgesetzgeber muß ausdrücklich festlegen, ob und gegebenenfalls in welchen Beziehungen und in welchem Umfang die Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG einschränkbar sein soll. Er muß also — unter Berücksichtigung des Übermaßverbots und der sonstigen Verfassungsschranken (dazu unten 2) — möglichst konkret normieren, unter welchen Voraussetzungen und inwieweit in die wissenschaftliche Kommunikationsfreiheit eingegriffen werden darf, wissenschaftliche Erkenntnisse zwangsweise sichergestellt werden dürfen, usw. .. .

b) Was speziell den Nachrichtenverkehr angeht, so ist einzuräumen, daß hier der Bereich der Wissenschaft von den anderen Bereichen, insbesondere dem der Politik, nicht mit absoluter Schärfe abgegrenzt werden kann. Die Grenze zwischen wissenschaftlichen und politischen Nachrichten ist fließend … Insoweit werden also Generalklauseln nicht ganz vermeidlich sein. Sie können und müssen aber sehr viel begrenzter, die Eingriffsermächtigungen sehr viel spezialisierter sein als in der vorliegenden Entwurfsfassung…

c) Dagegen dürften sich die Vorschriften, die Dienstverpflichtungen über das nach Art. 12 Abs. 2 Satz 1 GG zulässige Maß hinaus vorsehen (oben I 2), einer genaueren, scharf abgrenzenden Spezifizierung in der Weise, daß näher bestimmt würde, ob und wie die Wissenschaft davon betroffen werden darf, entziehen…

2. Die Grundrechtsbeschränkungen verletzen, insbesondere soweit sie im Zustand der inneren Gefahr gelten sollen, zum erheblichen Teil den unantastbaren Kernbereich der Wissenschaftsfreiheit und das verfassungsrechtliche Ubermaßverbot.

a) Zu den Beschränkungen der wissenschafllichen Kommunikation … Allgemeine Einschränkungen, welche die wissenschaftliche Kommunikationsfreiheit unmittelbar treffen und auf ihre Aufhebung hinauslaufen, etwa die Einführung einer Vorzensur für alle, auch die wissenschaftlichen Publikationen, sind im Zustand der inneren Gefahr unzulässig, ebenso, erst recht, entsprechende Maßnahmen, die nur die Wissenschaft oder spezielle Wissenschaftszweige betreffen, z. B. Zensur oder Veröffentlichungsverbote für technische Buchpublikationen und Zeitschriften. Wären solche einschneidenden Eingriffe im Zustand der inneren Gefahr, der ja keiner formellen Feststellung bedarf und dessen Tatbestandsvoraussetzungen nicht scharf umrissen sind, zulässig, könnten die Wissenschaft oder auch bestimmte wissenschaftliche Richtungen allzu leicht ohne zwingenden Grund mundtot gemacht werden… Auch im Zustand der äußeren Gefahr sind derartige Einschränkungen problematisch, zumal wenn sie nur oder doch in erster Linie die wissenschaftliche Kommunikation betreffen…

b) Zur Einschränkbarkeit der Hochschulfreiheit: Eingriffe wie z. B. die Einschränkung der akademischen Selbstverwaltung, die Einsetzung von Staatskommissaren an den Hochschulen werden wohl in keinem Notstandsfalle notwendig sein. Zur Abstellung gefährlicher, vor allem verfassungsfeindlicher Mißbräuche der Hochschul- und Lehrfreiheit genügen die normalen Vorschriften, insbesondere Art. 5 Abs. 3 Satz 2 GG sowie das Aufsichts- und Disziplinarrecht. Das sollte bei einer Neufassung der Notstandsermächtigung berücksichtigt werden.

c) Zur Sicherstellung von Forschungsergebnissen: Im Falle der äußeren Gefahr können die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Technikern, in geringerem Maße auch die von Naturwissenschaftlern und Medizinern von entscheidender Bedeutung sein. Die Auffassung, der Notstandsgesetzgeber müsse zu der Regelung befugt sein, daß kriegswichtige Forschungsergebnisse auch gegen den Willen ihres Urhebers sichergestellt und ausgewertet werden können, ist deshalb gewiß nicht unverständlich, wenn auch die entgegengesetzte Ansicht, dem Wissenschaftler stehe das Geheimhaltungsrecht in jeder Situation zu, ebenso vertretbar erscheint. Grundsätzlich anders verhält es sich bei der Abwehr innerer Gefahren, auch soweit sie durch Einwirkung von außen verursacht sind. Hier müssen Erwägungen der Staatsräson hinter der Gewissensentscheidung des individuellen Forschers zurücktreten. Es ist auch kein Fall ersichtlich, in dem die staatliche Zwangsnutzung von Forschungsergebnissen zur Überwindung einer inneren Gefahr, die durch „subversive” Einwirkung u. dgl. entstanden ist, notwendig wäre.

d) Zur Dienstverpflichtung von Wissenschaftlern: Die Heranziehung zu Dienstleistungen kann vor allem für Techniker praktisch werden. Die Ansicht, daß für solche Dienstverpflichtungen im Notstand ein Bedürfnis bestehen kann, ist zwar nicht unproblematisch, aber doch wohl vertretbar. Einem Gewissenskonflikt wird der Wissenschaftler hier nicht in dem Maße ausgesetzt wie in dem zu c) erörterten Fall: niemand kann den Dienstverpflichteten zu wissenschaftlichen Leistungen zwingen. Gegen Mißbräuche dürften das Übermaßverbot und der gerichtliche Rechtsschutz hinreichend schützen.

Im Zusammenhang mit diesen Hinweisen auf die Gefahren, die der Wissenschaftsfreiheit durch den Regierungsentwurf einer Notstandsverfassung drohen, müssen ernste Bedenken gegen die Beschränkung geltend gemacht werden, der die wissenschaftliche Kommunikationsfreiheit schon heute infolge des übermäßig weiten und unscharfen Staatsgeheimnisbegriffs des § 99 des Strafgesetzbuchs (StGB) unterliegt. Zu den Staatsgeheimnissen im Sinne des § 99 StGB gehören auch „Erkenntnisse” und Nachrichten darüber, „deren Geheimhaltung vor einer fremden Regierung für das Wohl der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder erforderlich ist”. Es gilt somit bereits als „Normal“-Regelung ein Geheimhaltungsgebot für neue wissenschaftliche Erkenntnisse, deren Veröffentlichung oder Mitteilung an einen „Unbefugten” (S 99 Abs. 2 StGB) dem „Wohl”, d. h. den politischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Interessen des Bundes oder eines Landes unmittelbar oder mittelbar abträglich ist.

Daß bisher in der Bundesrepublik wohl noch kein Wissenschaftler wegen der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen bestraft worden ist, ist der Zurückhaltung der Strafverfolgungsbehörden, nicht aber dem Strafgesetzbuch zu danken. Sollten die Strafverfolgungsbehörden dazu übergehen, die Möglichkeiten des § 99 voll auszuschöpfen, müßten nicht wenige Wissenschaftler damit rechnen, in ein Strafverfahren wegen vorsätzlichen oder fahrlässigen Landesverrats (100, 100 c StGB) verwickelt zu werden. Es darf in Zukunft nicht der Strafrechtspraxis überlassen bleiben, ob die Wissenschaft ihre Aufgaben in Forschung und Lehre, zu denen auch die für die freiheitliche Demokratie und die kulturelle Entwicklung lebenswichtige Aufgabe der allgemeinen Belehrung und Aufklärung gehört, frei erfüllen kann oder dabei tief eingreifenden unangemessenen Beschränkungen und unerträglichen Diskriminierungen ausgesetzt ist. Vielmehr ist dringend zu fordern, daß der Bundesgesetzgeber durch eine dem Grundrecht der freien Wissenschaft angemessene Reform der Landesverratsbestimmungen, besonders des § 99 StGB, den Mißstand behebt.

Damit ist natürlich nicht einer Lehrfreiheit ohne alle Schranken das Wort geredet. Nach Art. 5 Abs. 3 Satz 2 GG entbindet die Freiheit der Lehre nicht von der Treue zur Verfassung: Die Lehrfreiheit endet stets da (aber auch nur da), wo sie zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht wird.

Für den Akademischen Senat der Johann Wolfgang Goethe-Universität: Prof. Dr. W. Franz, Rektor

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