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Zeitfra­gen/­Kom­men­tare

Aus: vorgänge Nr.26, (Heft 2/1977), S.1-2

Liebe Vorgänge-Leser,

im Herbst des vergangenen Jahres verbreiteten sich Bundeskanzler Schmidt, Bundes-innenminister Maihofer und der CD U-Vorsitzende Kohl in der Katholischen Akademie Hamburg über den demokratischen Staat und die „Grundwerte”. Andere erlauchte Persönlichkeiten traten in ihre Fußstapfen. Christian Graf von Krockow hat im Hinblick auf diese „Grundwerte“-Diskussion im Heft 24 der Vorgänge konstatiert: „Wer redet eigentlich noch von Grund  r e c h t e n ? Radikale natürlich, die – gottlob vergeblich – auf sie sich berufen . . . „Der Herr von Welt trägt Grundwerte.“
Der Bonner Abhörskandal demonstriert, ein halbes Jahr später, wie berechtigt diese bittersarkastische Feststellung war. Wissen wir doch nun ziemlich genau was unsere „Herren von Welt” von den Grund r e c h t e n halten!
Der Verfall der Verfassungsmoral und der Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik vollzieht sich mit wahrhaft erschreckender Folgerichtigkeit, Etappe um Etappe. Das Schlimmste – und gewiß auch das Folgenschwerste – an diesem Abhörskandal scheint uns, daß er offensichtlich nicht wirklich auf gedeckt wird, nicht in Bonn, nicht in Stuttgart, nicht an all den anderen Orten, wo „gewanzt” wurde, „ein bißchen außerhalb der Legalität”. Spitzenpolitiker aller Parteien gebärden sich wie ertappte Komplizen – und sind es. Vorerst sprich vieles dafür, daß der Skandal „staatstragend unter den Teppich gekehrt” wer den soll, wie ein CSU-Bundestagsabgeordneter nach dem Spitzengespräch zwischen Schmidt und Kohl meinte.
Zu befürchten ist sodann, auf längere Sicht, daß legalisiert wird, was bisher zwar schon (wie wir nun wissen) ausgiebig praktiziert wurde, aber eben doch allen Rechtfertigungsversuchen zum Trotz, außerhalb der Legalität war. Man wird, wie es so schön heißt, Konsequenzen ziehen. Aber von diesen Konsequenzen ist, nach Lage der Dinge, eher Schlimmes als Gutes, eher eine weiten Gefährdung der Grundrechte und Grundfreiheiten als eine Rückkehr zur strikten Rechtsstaatlichkeit zu erwarten.
Und wo bleibt die große, die unüberhörbare Protestbewegung in der deutscher Öffentlichkeit, die man angesichts all dessen wohl erwarten müßte? Daß Politiker aller Couleur und Machtapparate (wie der Verfassungsschutz) über die rechtsstaatlichen Stränge schlagen, ist in der Demokratie nichts Ungewöhnliches; man muß stets damit rechnen. Das demokratische System schließt solche Fehltritte nicht von vornherein aus, sondern es schafft Mittel und Wege sie zu begrenzen, aufzudecken und zu ahnden. Die Demokratie lebt nicht vor der Machtlosigkeit der Exekutive, sondern von der Kontrolle ihrer Machtausübung, und zwar auf allen Ebenen derselben. Das demokratische System ist nicht mehr wirklich funktionsfähig, wo diese Kontrolle – durch Öffentlichkeit, Parlament, Justiz – nicht mehr gewährleistet ist; wo die Staatsmacht, unter Berufung auf vermeintliche akute „Notstände”, wider. Recht und Gesetz, wider die Grundrechte und Grundfreiheiten der Bürger handelt, ohne daß die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Gerade an diesem Punkt aber stehen wir heute.
Was die Sozialliberale Koalition betrifft, so mag sie das moralische Debakel dank des „Unter-den-Teppich-kehrens” zunächst überleben. Indes, sie hat eben damit ein für allemal ihre Lebenslüge, und an dieser Lebenslüge wird sie politisch über kurz oder lang zerbrechen. Man tröste sich nicht länger mit dem so bequemen wie trügerischen Dauertrost: diese Koalition sei eben doch, trotz allem, das „kleinere Übel”. Mag sie es noch sein – so, wie sie sich jetzt präsentiert, wird sie je länger desto mehr zum Wegbe-reiter des größeren! CDU/CSU, Dregger und Strauß, brauchen nur weiterzumachen, wo Sozialliberale begonnen haben. Und aufs „Wanzen” dürften sie sich gewiß noch weit besser verstehen, wenn das „Wanzen” erst einmal skrupellos-selbstverständliche Alltagspraxis sogenannter „Verfassungsschützer” geworden ist.
Doch geht es nicht mehr allein um die Sozialliberale Koalition und ihre Parteien oder um CDU und CSU: sondern um die rechtsstaatliche und demokratische Glaubwürdigkeit dieser Republik. Und diese Glaubwürdigkeit ist jetzt in einer Weise erschüttert wie nie zuvor seit 1949. Der freiheitlich-demokratische Verfassungsstaat wird an der Wurzel bedroht von der großen Koalition der Pfuscher, Kuscher und Vertuscher, quer durch alle Parteien.
Der Abhörskandal zeigt mit brutaler Deutlichkeit, daß der sogenannte „Verfassungsschutz” längst ein Staat im Staate geworden ist; er kontrolliert heute schon jene, die ihn kontrollieren sollten. Und er wird alsbald omnipotent und allgegenwärtig sein, wenn es nicht gelingt, ihn jetzt, keinen Augenblick später, in die Schranken zu weisen. (Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die beiden materialreichen Aufsätze von Dietheim Damm über „Die Praktiken des Verfassungsschutzes” in den Vorgänge-Heften 19 und 20.)
Es wird (im nächsten Heft) auf den Abhörskandal, seine Hintergründe und seine Folgen, noch zurückzukommen sein. Im Kommentarteil des vorliegenden Heftes geht Jürgen Seifert (,‚Rechtsstaat mit Grauzonen“) auf den schrittweisen Abbau der Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik ein; dieser Aufsatz ist der Sache nach auch ein Kommentar zum Abhörskandal, erhellt er doch die Zusammenhänge, in denen dieser gesehen werden muß. Peter Bender nimmt Stellung zu den Ereignissen in und um Brokdorf und zur Situation im Ostblock. Jürgen Kellermeier setzt sich mit der Kampagne der Ärzte und ihrer Lobby auseinander, die, unter Vortäuschung falscher Tatsachen, die Privilegien dieses Berufsstandes quasi zum „unverzichtbaren” Essential unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung erklären. Der Bericht von Charlotte Maack über das große Stern-Symposium zum Thema „Lebenslänglich” ist über den unmittelbaren Anlaß hinaus von besonderer Aktualität: wird doch seit Mitte März vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe die Vereinbarkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe mit dem Grundgesetz geprüft.
Das Thema des nächsten Heftes (27) heißt: Bürgerinitiativen.

Ihr Achim v. Borries

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