Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 167: Politik und Lüge

"In der Geschichte ist nichts für immer"

Herbert Marcuses Verhältnis zu den 68ern in einer vorzüglichen Edition.

In: vorgänge Nr. 167 (Heft 3/2004 ), S. 117-118

Als einflussreichster philosophischer Mentor der 68er-Bewegung gilt Herbert Marcuse. Er lieferte die Stichworte der Bewegung: „repressive Gesellschaft”, „repressive Toleranz” oder den „eindimensionalen Menschen”. Dem 1898 geborenen Philosophen war, darauf hat Axel Honneth jüngst erneut hingewiesen, im Gegensatz etwa zu Adorno ein Hang zur politischen Tat eigen (Honneth 2003: 497). Umso verdienstvoller ist es, dass im kleinen Verlag zuKlampen die Texte Marcuses zu politischen Ereignissen der 1960er und 1970er Jahre, speziell zur Studentenbewegung, als vierter Band seiner Nachgelassenen Schriften erscheint:

Herbert Marcuse: Nachgelassene Schriften Band 4: Die Studentenbewegung und ihre Folgen, hg, von Peter-Erwin Jansen, eingel. von Wolfgang Kraushaar, aus dem Amerikanischen von Thomas Laugstien, zuKlampen: Springe 2004, 253 S., ISBN 3-924245-86-X; 24,- Euro

Einige der Vorträge, Reden, Interviews und Briefe aus den Jahren 1961 bis zu Marcuses Tod 1979 liest man zum ersten Mal auf deutsch; jeweils kurz eingeführt durch den Herausgeber, was den jeweiligen politischen Kontext verdeutlicht.

Die tour d’horizon durch Marcuses politisches Denken beginnt, nach einem klugen

Vorwort des Herausgebers Jansen und Kraushaars instruktiver Einleitung, mit Statements zu Kuba und zur Kuba-Krise 1961. Marcuse gestand Fidel Castro zu, in einer Übergangs-zeit während des Bürgerkriegs die Bürger-rechte einschränken zu können —auch wenn er klarstellte, dass eine solche Einschränkung sich generell nicht rechtfertigen lässt. In einem späteren Text aus dem Jahr 1969 war es für Marcuse noch nicht entschieden, wohin Kuba sich bewegt. Sozialismus war Marcuses Fixpunkt; ob dieser jedoch in Kuba aufgebaut werde, blieb offen. „Vielleicht” lautete seine Diagnose, ebenso wie im Falle Chinas. Ein Grundzug aller Interventionen Marcuses wird bereits in diesem Kontext sichtbar: die alles überwölbende Kritik an der Politik der USA und am als „aggressiv” interpretierten Kapitalismus. So habe die USA Kuba selbstverschuldet in die Arme der Sowjetunion getrieben. Am Beispiel des amerikanischen Krieges in Indochina erneuerte Marcuse seine Kritik. In Vietnam kämpfe der Sozialismus, so der Philosoph, der die undifferenzierte Kommunismuskritik wiederum der Kritik unterzieht. Es gäbe viele Formen des Kommunismus, so sein oft gehörtes Argument; diese müssten „mit dem Ziel einer freien Gesellschaft nicht allesamt unvereinbar sein”. Mit allerlei Theorien versuchte er, der „inneren Logik der amerikanischen Politik in Vietnam” auf die Spur zu kommen: Seiner Triebtheorie mischte er die Theorie vom Monopolkapitalismus bei, wodurch der Systemgegensatz Sozialismus/Kapitalismus deutlich werden sollte. Die Politik der Sowjetunion sei defensiv ausgerichtet. Selbst eine Volte hin zur Technikkritik fehlt an dieser Stelle nicht: Die Aggressivität des Kapitalismus käme im „technischen Repressionsapparat” zum Ausdruck, Keimzelle für einen „nicht-terroristischen Totalitarismus” der ökonomisch-technischen Gleichschaltung.

Zu plausibleren Einsichten gelangte Marcuse angesichts des israelisch-palästinensischen Konflikts in den 1970er Jahren. Er plädierte für ein Existenzrecht Israels, wobei er einem jüdischen Auserwähltheitsglauben scharf entgegen trat und diesen rassistisch nannte. Seine Sicht auf den Streit um Jerusalem ist hochaktuell und mutet geradezu visionär an; in diesem Konflikt sah Marcuse eines der größten Hindernisse für einen Ausgleichsprozess mit den Palästinensern. Für Marcuse war das, was den Palästinensern bei der Gründung des Staates Israel widerfuhr, „Unrecht”.

Zwei politischen Aktivisten jener Jahre widmete er ausführlichere Einlassungen: Angela Davis und Rudi Dutschke. Vorbehaltlos stellte sich Marcuse hinter Davis, der bekannten schwarzen Bürgerrechtlerin und Aktivistin der amerikanischen Studentenbewegung: Sie sei das „ideale Opfer”, „schwarz, politisch aktiv, Kommunistin, hochintelligent” und sähe gut aus – und wäre damit für das „System” nicht zu „tolerieren”. Nach dem Freispruch von Angela Davis, die der Beihilfe an einer Gefangenenbefreiung dreier Mitglieder der Black Panther 1972 angeklagt war, kam es zu Verwicklungen: Sie unternahm eine Dankesreise zu den sie unterstützenden Regierungen Osteuropas. Tschechische Dissidenten wandten sich scharf gegen Davis‘ freundliche Haltung gegenüber den östlichen Diktaturen und baten Marcuse um Unterstützung. Marcuses offener Brief an Davis fiel dem Autor schwer. Er diskutierte hier das zentrale Dilemma der westlichen Linken: die öffentliche Distanzierung vom Stalinismus bei gleichzeitiger innenpolitischer Stellung gegen den Antikommunismus im eigenen Land. Marcuse löste dieses Problem, wie Wolfgang Kraushaar überzeugend nachweist, durch eine klare Frontstellung gegen Nationalsozialismus/Faschismus und Stalinismus.

Den größten Raum in diesem Band nehmen Marcuses Stellungnahmen zu 1968 sowie sein Briefwechsel mit Dutschke ein. Marcuses Schriften blieben von Paradoxien durchzogen: Auf der einen Seite wollte er den „Totalitarismus” des wohlfahrtsstaatlich organisierten Kapitalismus entlarven, auf der anderen Seite vertrat er eine trieb theoretisch begründete Hoffnung auf Emanzipation. Insbesondere in der 68er-Bewegung sah er diese am Werk. Er ging so weit, sich in einem Brief an Dutschke mit dessen in rebus politicis zu identifizieren – für Adorno unvorstellbar. Allerdings äußerte er sich später kritisch zu den allerorten entstehenden K-Gruppen, in denen er Wiedergänger „bolschewistischer Kaderparteien” ausmachte. Positiv bewertete Marcuse dagegen Frauengruppen und Kinderladenbewegung: Getreu seiner Randgruppentheorie erhoffte er sich von hier – und nicht von der klassischen Arbeiterbewegung – Emanzipation und eine Umwälzung der Verhältnisse.

Die einstigen Träume blieben weitgehend unerfüllt. Einige der damaligen Rebellen gelangten an die Macht. Und um Marcuse wurde es still. Ein Klassiker der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts? Wie auch immer man das sehen mag: Seine Hinterlassenschaft, vorzüglich ediert, kann man nunmehr in Ruhe besichtigen.

Literatur

Honneth, Axel 2003: Herbert Marcuse und die Frankfurter Schule; in: Leviathan, 31. Jg., Heft 4, S. 496-504

nach oben