Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 171/172: Die Zukunft der Linken

Kritische Gesell­schafts­the­orie, Gewerk­schaften und emanzi­pa­to­ri­sche Praxis

Eine Suche nach alten und neuen Berührungspunkten*

aus: Vorgänge Nr. 171/172 (Heft 3-4/2005), S. 103-15

I.

Dass die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis prekär sind, ist eine uralte Erkenntnis. Plato hatte leidvolle Erfahrungen damit. Kant hat das für die moderne Zeit noch einmal auf die leicht eingängige Form gebracht: „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.” Gemeinspruch nennt er das. Er selber widerlegt diesen Gemeinplatz und wagt sogar die Behauptung, dass nichts praktischer sei als eine gute Theorie. Als eine gute Theorie kann im Kantischen Sinne jener Begründungszusammenhang verstanden werden, der das Herumtappen im Empirischen beendet und pragmatischem wie technisch-praktischem Handeln als Wegweiser und Orientierungsnorm dient. Was im Erkennen nicht nur die Realität verdoppelt, sondern aus ihren eigenen Potentialen Veränderungen oder bessere Möglichkeiten zu entwickeln hilft, ist auf überschreitende und eingreifende Theoriearbeit angewiesen.

Für gesellschaftliche Handlungszusammenhänge, die ohne den emanzipatorischen Willen zur Humanisierung menschlicher Existenzweise Zweck und Sinn verlieren würden, hat die Herstellung von theoriegeleiteten Vorgaben eine zentrale Bedeutung. Das ist für solche mit Emanzipationsinteressen versetzten Handlungsfelder umso wichtiger, je unübersichtlicher und zerfaserter die gesellschaftliche Situation ist, auf die sich bestehende Herrschaftsstrategien stützen können.

Nun muss das Thema „Kritische Theorie und emanzipatorische Politik” keineswegs von Grund auf neu behandelt werden. In der Nachkriegszeit hat es enge Berührungsflächen z.B. zwischen Gewerkschaften und Theorie gegeben. Es ist gar keine Frage, dass gesellschaftstheoretische Überlegungen im Verlauf der Geschichte nicht nur in das gewerkschaftliche Selbstverständnis eingegangen sind, sondern in vielfacher Hinsicht auch den Alltag der politischen Bildung bestimmt haben. Große Gewerkschafter wie Otto Brenner sind geprägt gewesen durch eine theoretische Sozialisation, die in seinem Falle aus Traditionszusammenhängen der Kantischen Philosophie kommen. Leonhard Nelson war der Ziehvater vieler ethischer Sozialisten. Selbstverständlich galt dieses Theorieerbe auch für die marxistischen Gewerkschaftspolitiker, die sich – teilweise im Selbststudium – ein faszinierendes Wissen erarbeitet haben. Es zeigt sich aber, dass in den letzten Jahren in dem Maße, wie die Gewerkschaften selber institutionell und ihrem Selbstverständnis nach in kritische Zerreiß-Situationen geraten sind, die Abwehr gegen (scheinbar unpraktische) theoretische Spekulationen gewachsen ist.

Diese zunehmende Distanz ist weniger spürbar in dem nachlassenden Bedürfnis, Gesellschaftstheoretiker, politische Ökonomen oder Sozialforscher in der Gewerkschaftsöffentlichkeit auftreten zu lassen. Ich selbst habe nie so viele Einladungen zu Vorträgen auf Gewerkschaftsforen bekommen, die gesellschaftliche Zusammenhänge zum Thema hatten, wie in den letzten zehn Jahren. Ich bin aber nie den Eindruck los-geworden, dass solche Präsentationen eher als Ersatz oder als Kompensation eines tief empfundenen Orientierungsmangels dienen.

Wolle ich die Folgen meiner eigenen gesellschaftstheoretischen Öffentlichkeitspräsenz einschätzen, so käme eine pessimistische Bilanz heraus. Genau kann man das natürlich nicht sagen, aber es ist ein bestimmendes Gefühl. Ich meine, es ist eine Situation entstanden, die auf der einen Seite zusammenhängende Theoriebildung dringlicher macht als je zuvor, auf der anderen Seite aber einen durch Orientierungsschwierigkeiten zusätzlich zementierten Pragmatismus der etablierten Institutionen in den Vordergrund treten lässt, der auch die gewerkschaftsfreundlichen Gesellschaftstheoretiker mutlos macht und in eine schwierige Zurückhaltung drängt.

Ich finde es deshalb höchst aktuell und im Grunde überfällig, dass aus dem Traditionsfundus des Frankfurter Instituts für Sozialforschung geschöpft wird, um abgerissene Fäden zur Gesellschaftspolitik wieder zu knüpfen. Denn Kritische Gesellschaftstheorie und gewerkschaftliche Organisationspraxis gehören zusammen. Es zählt zu den historischen Glücksmomenten der Begegnungen von Repräsentanten der Arbeiterbewegung und Philosophen, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind, als Adorno in kleiner Begleitung auf dem Höhepunkt der Notstandsopposition ins Frankfurter Vorstandsgebäude marschierte und den IG-Metall-Vorstandsmitgliedern in seinen Worten erörterte, wie notwendig der gewerkschaftliche Massenwiderstand gegen die Notstandsgesetze ist. Ein glücklicher Moment der Verbindung von Theorie und Praxis, weil hier nichts an den spezifischen Logiken verwischt wurde; das Handlungsfeld des Philosophen und das des Gewerkschafters musste nicht im jeweiligen Eigengewicht reduziert werden, um Übersetzungen zugänglich zu sein. Adorno redete wahrscheinlich in demselben Argumentationsduktus wie in seiner Kant-Vorlesung. Alle verstanden die Ernsthaftigkeit seiner Begriffsarbeit zum Notstandsproblem.

Wenn wir heute an diese Traditionen anzuknüpfen versuchen, dann bedeutet das gleichzeitig, dass wir über ganz neue Krisenzusammenhänge nachdenken müssen. Gesellschaftspolitische Reflexion gewinnt dabei unmittelbar praktische Bedeutung. Den Gewerkschaften sind in dieser Gesellschaft kultureller Erosionen neue Funktionen in der Verteidigung unterdrückter und vielfach zerfaserter Interessen zugewachsen. Siemüssen sich, wie ich meine, mit der Umstrukturierung der betrieblichen Realität und der Vertretung in dieser Realitätsdimension gleichzeitig darauf einstellen, dass die Interessen der außerbetrieblichen Lebenszusammenhänge ihr gesellschaftlich-politisches Mandat erheblich erweitern werden. Auf keiner dieser Ebenen, ob es nun betriebsnahe Tarifpolitik ist, politische Bildungsarbeit oder die Mitbestimmungsproblematik, wird künftig eine strategische Lösung möglich sein, die den Blick vom gesellschaftlichen Ganzen abziehen und auf das isolierte Besondere konzentrieren kann. Damit meine ich auch: Gesellschaftstheoretische Reflexionszusammenhänge berühren das gewerkschaftliche Existenzinteresse. Die Annahme, dies wäre nur störend für eine rationale Praxis, führt in ruinöse Abwege. Kein Einzeltatbestand, kein pragmatischer Vorschlag, keine kurzfristige Lösung ist benennbar, die nicht bereits ausprobiert worden wäre, meistens mit dem Erfolg des Scheiterns. Ich plädiere also dafür, das theoretische Reflexionsfeld möglichst weit zu öffnen. Meine eigenen Erfahrungen mit gewerkschaftlicher Bildungsarbeit zeigen, wie stark wir heute darauf angewiesen sind, wieder in Zusammenhängen zu denken, die auch kulturelle Dimensionen in die Interessenvertretungen mit einbeziehen.

Es gibt zahlreiche neuere Arbeiten, welche diese Voraussetzungen erfüllen. Ich nenne nur die Arbeiten des Instituts für Sozialforschung, aber auch die arbeitssoziologische Forschung des Göttinger Sozialwissenschaftlichen Instituts unter Michael Schuman und Horst Kern, die Milieustudien über Angestellte und Arbeiter in Bremen von Rainer Zoll und Thomas Leithäuser oder die aus dem Frankfurter Zusammenhang kommenden Untersuchungen zur Geschlechterproblematik von Regina Becker-Schmidt und Christine Morgenroth. Das alles wäre fortzusetzen und in die gewerkschaftliche Bildungsarbeit einzubeziehen, die ja heute von existentieller Bedeutung für die Stabilität unserer demokratischen Verhältnisse ist. Die Bekämpfung von Vorurteilen, sozialen und erkenntnismäßigen Verengungen ist eine Alltagsnotwendigkeit geworden; wissenschaftliche Aufklärungshilfe dafür ist unerlässlich. Wahrscheinlich gewinnt Wissenschaft Attraktivität in dem Maße, wie wir die Reflexionsfähigkeit der Menschen höher einschätzen, aber sie nicht einfach mit Informationen abspeisen, die sie sowieso durch die Medien haufenweise bekommen.

II.

Die Erinnerung an die Traditionsbestände und konkreten Berührungsflächen, die es zwischen der Kritischen Theorie und den Gewerkschaften in empirischen Untersuchungsfeldern und in der Bildungsarbeit gegeben hat, ist notwendig, um Orientierungsmaßstäbe zu gewinnen, die sinnvolle Übersetzungstätigkeit ermöglichen. Ich habe bereits am Anfang betont, dass die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis strukturell mit Spannungen aufgeladen sind; selten sind die Handelnden in den jeweiligen Feldern bereit, den anderen ohne Vorbehalte in ihrem eigensinnigen Tun anzuerkennen. Das wäre aber nötig, um auch den Blick auf den geschichtlichen Funktionswandel von Theorie und Praxis zu richten und in den Beziehuneen zwischen beiden einen lebendigen Austausch organisieren zu können. Ich will im Folgenden versuchen, auf der Grundlage des erörterten Traditionsbestandes einige Akzente neu zu setzen und für die Theorie, die wesentlich auf Zusammenhang geht, einen erweiterten Arbeitshorizont zu eröffnen.

Einer der missverständlichsten und berühmtesten Sätze Adornos lautet: Das Ganze ist das Unwahre. Missverständlich ist er deshalb, weil sich dieser Satz ausdrücklich gegen Hegel richtet, in dessen idealistischer Systemkonstruktion am Ende das Prozess-denken zum Stillstand kommt und der absolute Geist seine fertige Gestalt angenommen hat. Was er nicht damit in Zweifel ziehen wollte, ist der Begriff des dialektischen Ganzen, das in prozesshafter Spannung zum Besonderen steht. Nimmt man diese Vorstellung von einem Ganzen, wie es heute begeifbar wäre, dann wird man sofort auf das Globalisierungsgeschehen gelenkt. Von einer Weltgesellschaft, wie sie sein soll und wie sie auf empirischer Ebene gedacht werden kann, hat man seit dem Zeitalter der Entdekkungen immer wieder gesprochen; aber dieser Weltbegriff unterscheidet sich doch grundlegend von dem, was heute unter Globalisierung verstanden wird. Man kann davon sprechen, dass die Weltgesellschaft zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte zu einer Kategorie der Realität geworden ist. Eine Art Gleichzeitigkeit von Ereignis und Übermittlung des Ereignisses auf dem ganzen Globus ist hergestellt. Auch sind die Gefährdungen durch ökologische Balancestörungen und andere Katastrophenherde weder in staatliche noch kulturelle Grenzen einzuschränken. All das erweckt den Eindruck, dass unsere Welt zu einer lebendigen, von gegenseitigem Austausch bestimmten Welt geworden ist.

Aber viele empirisch konstatierbare und für Menschen erfahrbare Erscheinungen passen nur schlecht zu diesem Einheitsbild. Um die Brüche, Verwerfungen, täuschenden und betrügerischen Elemente in dieser Weltvorstellung erkennbar zu machen und auf Begriffe zu bringen, reicht Einzelforschung nicht aus; um dieses Dickicht zu durchdringen, ist der Rückgriff auf Kritische Gesellschaftstheorie unabdingbar. Wem Begriffe wie Realabstraktion, Ideologie, erkenntnisleitende Interessen und andere absolut nichts sagen, der wird mit seiner ökonomischen, politischen oder auch kulturellen Kompetenz wenig ausrichten.

Die Frankfurter Schule lebt von dieser lebendigen Spannung zwischen empirischer Sozialforschung und philosophischer Theoriebildung. Ideologiekritik ist ja ein wesentlicher Bestandteil Kritischer Theorie. Ihr bestimmendes Motiv ist die Aufdeckung des Verdrehten, der Unwahrheit in den Freiheitsillusionen, der Ungerechtigkeit im Äquivalententausch. Keineswegs ist Ideologiekritik nur darauf gerichtet, den Verschleierungsproduzenten auf die Schliche zu kommen. Es ist bemerkenswert, wie wenig diese im klassischen Ideologiebegriff enthaltene Verschränkung von Wahrem und Falschem das sozialwissenschaftliche Geschehen in der gegenwärtigen Gesellschaft bestimmt. Die Globalisierungspatrioten nehmen alles wörtlich, wenn über die eine Welt gesprochen wird und sie sich als eine Wirklichkeit darstellt. Es ist aber ein Reflexionsschritt notwendig, der aus der Kraft des Unterscheidungsvermögens schöpft. Was bedeutet im Globalisierungszusammenhang Wirklichkeit? Die ökonomischen Antriebskräfte dieser Wirklichkeit können wir ziemlich exakt benennen, es ist die kapitalistische Produktionsweise mit allen Wirkungen, die sich daraus ergeben. Aber eine solche Sichtweise reicht nicht aus, die ineinander verschachtelten Wirklichkeitsschichten der Globalisierung zu begreifen und in ihrer Bedeutung für den Weltbegriff einzuschätzen.‘ Es ist notwendig den Substanzbegriff Globalisierung in Relationsbegriffe aufzulösen. So gewinnen wir eine Sichtweise, die Wirklichkeitsschichten unterscheidet. Wenn wir also Globalisierung entzerren, dann gewinnen wir ein ganz anderes Bild von der gegenwärtigen Verfassung der Weltgesellschaft.

Wirklich globalisiert sind nur die Finanz- und Devisenströme; in diesem Sinne repräsentieren die Börsen in New York, Tokio und Frankfurt das, was heute Weltgesellschaft genannt werden kann. Es ist der Geld-Fetisch, dessen Abstraktionsleistung in der Tat so etwas wie eine einheitliche Welt darstellt. Aber Alfred Sohn-Rethel hat mit Recht diese Wirklichkeitsschicht als eine der Realabstraktion bezeichnet, im Unterschied zu bloßen gedanklichen Abstraktionen, die sich im Kopf abspielen und die Ohnmacht des Kopfes teilen, sind diese so genannten Realabstraktionen mächtige und häufig genug gewalttätige Eingriffe in die Wirklichkeit der Menschen. Aber es bleiben Abstraktionen vom wirklichen Arbeits- und Lebenszusammenhang der Menschen.

Inzwischen kursieren ja spekulative Rechenkünste, wie weit der Geldfetisch in dieser Wirklichkeitsschicht der Realabstraktionen von den wirklichen Bewegungen des Warentauschs sich entfernt hat; kommen auf einen Dollar WarenWert 70, 100, 150 oder noch mehr Dollar, die in dieser Gespensterwelt der Börsentransaktionen den Globus umklammern? Kein Wunder, dass die Angst umgeht, die krebsartige Wucherung in dieser Wirklichkeitsschicht könnte eines Tages die Volkswirtschaften auch der entwickelten Länder ruinieren.

Schon die zweite, darunter liegende Wirklichkeitsschicht, die des Welthandels, hat eine ganz andere Struktur. Bekanntlich stützt sich die Freihandelslehre auf ein Theorem von Ricardo, das komparative Kosten bzw. Kostenvorteile zum Inhalt hat. Man sagt, Freihandel komme allen Gesellschaftsordnungen zugute, selbst denjenigen, die Entwicklungsrückstände haben, wenn sie sich denn auf eine Produktionsspezialisierung einlassen. Dieses Theorem ist seit dem 19. Jahrhundert umstritten gewesen. Die im Freihandel mitgesetzte Arbeitsteilung hat langfristig stets diejenigen mit Vorteilen ausgestattet, die über die größeren ökonomischen Ressourcen verfügten; heute ist das mit Händen greifbar, Afrika südlich der Sahara, vor fünfzehn Jahren mit fast 10 Prozent am Welthandelt beteiligt, ist heute bei 0,3 Prozent gelandet. Dieser Kontinent ist im Zuge der Globalisierung praktisch vom Welthandel abgekoppelt worden.

Aber das ist nicht der einzige Punkt, der mich in diesem Zusammenhang interessiert. Wenn ich die Notwendigkeit einer Differenzierung der Wirklichkeitsschichten im Zuge der Globalisierung betone, dann mit dem Erkenntnisblick auf das Prinzip abnehmender Abstraktion. Je weiter wir in den Produktions- und Lebenszusammenhang der Menschen selber eindringen, desto weniger ist globalisiert. Schon die Wirklichkeitsschicht des Warenverkehrs enthält Momente von Gegenständlichkeit, die im Milieu der Börse natürlich überhaupt keine Rolle spielen. Ein Tanker, der an der bretonischen Küste zerbricht und Tausende von Litern Öl verliert, hat nichts Virtuelles oder Abstraktes an sich, sondern bedrückende Gegenständlichkeit. Die versprochene Weltoffenheit des Handels und die damit einhergehenden Freiheitsillusionen des Weltbürgers brechen sich an den wirklichen Verhältnissen; dass sich in Sao Paulo die Zahl der Favelas in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat, ist auch Resultat einer Freihandelspolitik, die zur Ruinierung der dortigen Landwirtschaft geführt hat. Die Landlosen suchen den Weg, brachliegenden Boden zu besetzen und zu bearbeiten, oder sie gehen in die Städte und vergrößern die Elendsquartiere.

Es liegt auf der Hand, dass die Globalisierungspatrioten offenbar nicht daran denken, die von ihrem Boden vertriebenen Menschen Brasiliens oder Afrikas in die Europäische Union aufzunehmen. Wenn wir die Wirklichkeitsschicht des Arbeitsmarktes nehmen, dann ist hier nicht nur weniger globalisiert als im Handel und im Börsengeschehen, sondern die entwickelten Länder beginnen Mauern zu errichten gegen jene, die durch diese neoliberale Weltpolitik ihre Existenzgrundlage verloren haben und jetzt, nicht zuletzt vermittelt durch die weltweiten Medien, die gelobten Länder aufsuchen wollen.

Es ist doch eine gesellschaftstheoretische Dimension des Nachdenkens erforderlich, um sich dieser verschiedenen Wirklichkeitsschichten bewusst zu sein; ich zweifele nicht daran, dass mit dem Begriff der Globalisierung und der damit gesetzten Konkurrenznotwendigkeit auf dem Weltmarkt den wirtschaftlich Mächtigen ein Droh- und Erpressungsmittel an die Hand gegeben ist. Was mit Disembedding (Entkleidung) gemeint ist, richtet sich auf Zerstörung aller die Lebensverhältnisse der Menschen schützenden sozialstaatlichen Einrichtungen, die als zu kostspielig empfunden werden. Den politisch Verantwortlichen wird gedroht, die Unternehmungen in Billig-Lohn-Länder zu transponieren, wenn nicht Steuergesetzgebung und andere Maßnahmen ergriffen werden, um Lohn- und Lohnnebenkosten zu senken. Das eigentlich Neue an dieser Form des Kapitalismus ist nicht die Veränderung seiner Bewegungsgesetze, sondern dass die durch die bürgerliche Gesellschaft und dann durch die Arbeiterbewegung als Schutzvorrichtungen der Menschen geschaffenen Sicherungen zerbrechen. Bereits Karl Polanyi hat Anfang der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gesagt, dass die Gefahr bestehe, Gesellschaft zum bloßen Anhängsel des Marktes zu machen. Das hat heute eine bedrohliche Form angenommen.

Wo also Gesellschaft nicht mehr als ein Begriff konkreter Totalität im Blick der Erkenntnisse ist, verschwindet allmählich auch das Interesse an Gesellschaftstheorie. Zwar gibt es heute das Prädikat Gesellschaft in vielfachen Merkmalsverbindungen. Man spricht von Risikogesellschaft, Kommunikationsgesellschaft, Protestgesellschaft, Erlebnisgesellschaft – aber alle diese Gesellschaftskonstruktionen nehmen nur subjektive Verhaltenselemente auf und verallgemeinern sie. Kein vernünftiger Mensch glaubt im Ernst daran, dass der Gesamtzusammenhang Gesellschaft aus der Summe von Risiken, Erlebnissen oder Protesten besteht. Nach wie vor muss produziert werden, was verteilt werden kann. In diesen Gesellschaftskonstruktionen hat sich auch alles verflüchtigt, was den Begriff der ldeologie ausmacht, als die Verbindung von Wahrem und Falschem. Oder was soziale Klasse konstituiert, gesellschaftliche Schichtungen bestimmt. Dasganze Symbolspektrum von Begriffselementen, die Macht- und Herrschaftsstrukturen kenntlich machen, hat sich in der soziologischen Werkstatt derart verdünnt, dass sich Vorurteile breit machen können: zum Beispiel die Auffassung, die Gesamtgesellschaft sei die Summe der Individuen und Volkswirtschaft die Summe der betriebswirtschaftlichen Kalkulationen der Einzelunternehmen.

Wenn immer wieder beklagt wird, wie zufällig heute politische Vorschläge zur Lösung des Arbeitsmarktproblems gemacht werden, dann ist das auch verursacht durch die allgemein übliche, auch in den Gewerkschaften selbstverständliche Verachtung von Gesellschaftstheorie, deren praktische Bedeutung nur gering eingeschätzt wird. Ich habe an einer Kritik der Globalisierung angesetzt, um im Wege abnehmender Abstraktion zu zeigen, dass die keineswegs globalisierten Produktions- und Lebenszusammenhänge der einzelnen Gesellschaften Ausgangspunkt für strategische Überlegungen auch einer emanzipatorischen Gesellschaftspolitik sein müssen. Die Hilflosigkeit, mit der in gewerkschaftlichen Handlungszusammenhängen auf die veränderte Situation des Kapitalismus reagiert wird, hat häufig auch damit zu tun, dass empirisch gesättigte Theorien als Orientierungsmedien nicht vorhanden sind. Gerade heute ist aber ein Begriff von dem, was sich in der Welt bewegt und eine Art Schein-Ganzes ausmacht, für jede emanzipatorische Praxis unbedingt erforderlich. Die Gewerkschaften werden, wenn sie nicht erhebliche Kraft auf Krisendeutungen richten, auch in praktischen Zusammenhängen nicht aus der Defensive herauskommen. Orientierungslosigkeit ist heute das Zentralproblem jeder emanzipatorischen Praxis.

Es ist deshalb keine Frage von Beliebigkeit, ob eine auf emanzipative Praxis eingestellte Strategie, also auf Mündigkeit, Autonomie, solidarische Hilfe der Menschen gehende Politik, einer Orientierung durch Kritische Gesellschaftstheorie bedarf; wo man von einer Wissensgesellschaft redet, als stünden aller Orten Wissenschaftsangebote zur Verfügung, kann eine auf Befreiung gehende Praxis ohne ein eigenes umfassendes Konzept wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt nicht auskommen. Die Tragödie der Linken besteht ja nicht zuletzt darin, dass sie sich ihrer Traditionsbestände an emanzipatorischem Wissen, ihrer Begriffe und überschreitenden Denkweisen hat enteignen lassen, ohne etwas Neues an deren Stelle zu setzen.

III.

Wer auf den Orientierungsrahmen einer Kritischen Gesellschaftstheorie verzichtet, wird heute freilich nicht allein gelassen; auf dem Wissenschaftsmarkt finden sich zahlreiche Angebote, welche die Wissenslücken füllen. In den Beziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft hat sich in der Tat Entscheidendes verändert. Das gilt insbesondere für die realitätsmächtigen Naturwissenschaften, die in einer Weise in den gesellschaftlichen Praxiszusammenhang eindringen, dass jetzt selbst die so genannten Deutungswissenschaften sich an diesem Objektivitätsmodell messen. Das ist zwar auch früher schon so gewesen, aber die Realitätsmacht der Naturwissenschaften ist heute eine ganz andere. Zur Zeit Newtons verliefen mehr oder weniger parallele Entwicklungslinen von naturwissenschaftlichen Gesetzeserkenntnissen und technologischen Anwendungen. Es war die Zeit der Goldkocher, die zwar nicht Gold fanden, aber gelegentlich andere Stoffe, wie z.B. Phosphor. Naturwissenschaftliche Erkenntnis war überhaupt nicht unmittelbar umsetzbar. Heute ist jedes Wissen technologisch verwertbar. Das ist ein neuer Tatbestand auch für die Theoriebildung, welche die Wissensproduzenten vor ganz neue Probleme gesellschaftlicher und ethischer Verantwortung stellt. Der Biogenetiker Erwin Chargaff, der beteiligt war an der Entschlüsselung der Genome, hat des-halb davor gewarnt, alles wissen zu wollen, was wir wissen können.

Wer sich auf einen Wissenschaftsbegriff aus diesem naturwissenschaftlich-technischen Zusammenhang einlässt, der wird sehr schnell erfahren, wie die mächtigsten Wirtschaftsinteressen sich am Ende durchsetzen, wenn er keinen Begriff von einer Gesellschaft hat, wie sie sein soll und aus ihren eigenen Potentialen entwickelt werden kann. Gerade die jüngsten Ethikdiskurse über die Stammzellenforschung zeigen, wie ohnmächtig und orientierungslos die Menschen sind, wenn sie mit der Bedeutung von Wirtschaftsstandorten und Forschungskonkurrenzen konfrontiert werden.

Die kulturelle Erosionskrise, in der wir leben, erhöht das Gewicht der Deutungswissenschaften erheblich. Man müsste sehr viel mehr Geld in die Erweiterung all jener Bereiche stecken, die es mit politischer Bildung, mit Aufklärung über Krisensituationen und den kulturellen Rang bestimmter Wissensformen zu tun haben. Das Gegenteil ist aber der Fall. Der betriebswirtschaftliche Imperialismus erfasst die Gesamtgesellschaft, und was dabei unter Rationalisierung verstanden wird, ist in der Regel auf Ausgrenzung, auf das Überflüssigmachen lebendiger Arbeitskraft gerichtet. So entsteht eine Art kollektiver Bewusstlosigkeit im Umgang mit den Krisenherden dieser Welt. Was hat sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten nicht alles verändert? Ganze Imperien sind zusammengebrochen, die dualistische Aufteilung der Welt, in der wir uns gebildet haben, ist zerbrochen, die entwickelten Gesellschaftsordnungen haben es mit dem chronischen Problem wachsender Massenarbeitslosigkeit zu tun, im gleichen Zeitraum ist die kulturelle Dimension der Krisendeutungen und der Krisenbewältigung geschrumpft. In Gesellschaftsordnungen mit überquellendem Reichtum, dessen Verteilung zu einem zentralen Problem geworden ist, beschäftigt man sich Tag und Nacht mit betriebswirtschaftlichen Kalkulationen, so als würden wir immer noch in einer Mangelökonomie leben. Das erzeugt eine Art von Irrationalismus in dieser Gesellschaft, die günstigen Nährboden für politisch Rechtsradikale und diffuse Gewaltformenschafft.

So viele Veränderungen und Umbrüche hat es in Friedenszeiten in den Zentren der entwickelten Welt noch nie gegeben, es sind immer Nachkriegsereignisse gewesen, Kriegsfolgen, die das gesellschaftliche Gefüge zerrütteten. Ist das heute ins Bewusstsein der Menschen eingedrungen? Ist das verarbeitet? Ist in Bildungsprozesse aufgenommen, was mit Identitätsbedrohungen und Entwurzelungen der Menschen passiert ist? Der Bedarf an Deutungen in dieser gebrochenen Situation, die Emile Durkheim treffend als moralisches Vakuum bezeichnet hat, ist so groß, dass es in der Tat ein kultureller Skandal ist, in welcher Weise nur noch nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten der Umsetzbarkeit des Wissens gefragt wird. Wenn jetzt auch noch die Universitäten und Schulen zu Unternehmen umfunktioniert werden, die es nicht mehr mit Lernenden und Sichbildenden zu tun haben, sondern mit Kunden, die man bedient, denen man etwas verkauft, dann ist in unserem Kulturverständnis etwas in Unordnung geraten. Denn selbst die Ökonomen, auf die sich der Neoliberalismus heute rückbezieht, auf die invisible hand von Adam Smith und die Theorie der Komparativen Kosten von Ricardo, hatten das Marktgeschehen und die ökonomische Rationalität in selbstverständliche Traditionsbestände und ethische Normen eingebunden. Adam Smith hatte schließlich einen Lehrstuhl für Moralphilosophie und seine frühe Schrift Moral Sentiments ist jedem Neoliberalen noch heute zur Lektüre empfohlen.

Es wäre jetzt ein Leichtes, in der Erörterung der Krisenherde unserer Gesellschaft fortzufahren. Ich will mich in meinem letzten Teil jedoch darauf beschränken, Überlegungen zur emanzipatorischen Gesellschaftspolitik anzustellen. Wenn heute so ein großes Gewicht auf die Markt-Nachfrage gelegt wird, um einem Produkt Bedeutung beizumessen oder Förderung zu beanspruchen, was ist heute dann die Nachfrage nach Gemeinwesen? Und wo findet man eine Nachfrage nach existentiellen Deutungen meiner eigenen Situation in dieser Gesellschaft? Wenn beides nicht einfach über den Markt vermittelt werden kann, darf man dann diese Nachfrageposten als irrelevant für unser gesellschaftliches Zusammenleben betrachten, oder gibt es Institutionen und Personen, die aufgrund ihrer Selbstdefinition solche Nachfragen formulieren müssten?

IV.

Ich kann mir vorstellen, dass gewerkschaftliches Handeln künftig viel stärker als bisher Verantwortung für Angebote übernehmen muss, die auf das Gemeinwesen und den solidarischen Zusammenhalt der Gesellschaft gerichtet sind. Denn in Zeiten der Individualisierungsschübe und einer Tendenz, die immer stärker darauf hinweist, dass der allseitig verfügbare, in ständiger Abrufbereitschaft stehende und flexible Mensch das Bild von der mündigen Persönlichkeit ersetzt, entstehen wachsende Leerstellen im Hinblick auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse der Menschen, die unter bestehenden Bedingungen nicht mehr erfüllt werden. Das betrifft auch die demoktratische Partizipationsbereitschaft der Menschen, die schrumpft; es hat deshalb eine existentielle Bedeutung für unser demokratisches Gemeinwesen, dass es Instanzen und Organisationen in dieser Gesellschaft gibt, die diese unbefriedigten Bedürfnisse des Menschen als eines gesellschaftlichen Lebewesens erfüllt. Diese nicht erfüllten Bedürfnisse betreffen nicht nur die Ängste um einen Arbeitsplatz oder die soziale Sicherung. Sie sind viel breiter zu fassen, als Interessen der sozialen Anerkennung, der Würde, des Gefühls, in einer Gesellschaft ausgleichender Gerechtigkeit zu leben. In der medialen Wirklichkeit ist von der Thematisierung solcher Fragestellungen wenig zu spüren; es scheint sich gegenwärtig ein kollektives Unbewusstes in unserer Gesellschaft festzusetzen, das die Menschen in den Alltagspragmatismus einbindet und mit Zirkusvorstellungen beruhigt. Öffentlichkeit ist zu einem Zerstreuungsmedium geworden, mit Big Brother, aber auch mit besinnungslosen Talk-Runden, in denen selbst dann auf Entpolitisierung, Zerstreuung und Neutralisierung gesetzt wird, wenn es sich um explizit politische Gespräche handelt. Was diese Medienöffentlichkeit heute anbietet, erinnert mich stark an das Klima der Endphase des Römischen Imperiums, als der Circus Maximus in dem Maße zum Zentrum des politisch-gesellschaftlichen Lebens wurde, wie der Römische Senat als Medium der beratschlagenden Rede an Bedeutung verlor.

Gewerkschaften als Vertreter einer Organisationsmacht, die durch Eigeninteresse an die Entfaltung der Emanzipationsbedürfnisse der Menschen anknüpfen muss, können nicht darauf verzichten, die Erweiterung der Krisenfelder in unserer Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen und Lösungen vorzuschlagen. Es geht eben nicht nur um eine Krise der Arbeits- und Erwerbsgesellschaft, und es ist nicht die Arbeitslosigkeit das einzige Problem, das zu lösen wäre. Gerade in Zeiten, in denen die betriebsförmigen Produktionsstätten schrumpfen, muss gewerkschaftliches Handeln sich auch auf jene Bereiche beziehen, die außerhalb der Erwerbstätigkeit liegen; in der Erziehung, in der kulturellen Tätigkeit, in der politischen Bildung, in den Medien. Ich will damit nicht einem gewerkschaftlichen Absolutheitsanspruch oder gar totalitären Anmaßungen das Wort reden. Aber nehmen wir z.B. die Verschiebung der Lern- und Erziehungsorte: Die fragmentierten Familien sind nicht mehr imstande, Grundausstattungen zu vermitteln. Wo lernen Kinder heute die Tugend der Verlässlichkeit, des Kompromisses, des Teilens, wenn sie in fragmentierten Familien aufwachsen und eher das Zuteilen von getrennt lebenden Eltern erfahren als die Notwendigkeit, am Ende von Rangeleien mit Geschwistern Kompromisse zu schließen. Wenn die Herstellung solcher Tugenden nicht mehr gesichert in der Familie geschieht, dann übernehmen die Schulen eine Zusatzfunktion, weil ohne solche Eigenschaften und Fähigkeiten die Gewaltpotentiale in der Gesellschaft wachsen. Es gehört zu den authentischen Aufgaben der Gewerkschaften, den ganzen Menschen im Blick zu behalten und nicht auf eine Interessenebene zu reduzieren, welche nur die materiellen Lebensbedingungen enthält. Demokratie ist die einzige politisch organisierte Lebensform, die gelernt werden muss; sie stellt sich nicht von alleine her, schon gar nicht unter Bedingungen eines sozialdarwinistisch freigegebenen und hochrangig festgelegten Überlebenskampfes der Menschen. Robert Musil hat in einer sehr schönen kleinen Schrift mit dem Titel Der deutsche Mensch als Symptom einmal davon gesprochen, dass der Kapitalismus so lebensfähig sei, weil er ä la baisse spekuliere, also mit den niedrigsten Eigenschaften der Menschen, die die zuverlässigsten sind. Ein Programm der Humanisierung der Lebensverhältnisse ist der radikale Gegenpol dazu. Diesen Gegenpol aber mit einer Theorie zu besetzen, die als Folie für eingreifende und verändernde Praxis betrachtet werden kann, bedarf heute der Umwegproduktion; wir haben sie nicht mehr im direkten Zugriff, und auch die schlichte Rückkehr zu Marx’schen Erklärungsmustern reicht nicht aus. Denn wir haben es mit einer kulturellen Erosionskrise zu tun, in der, wie Emile Durkheim das bezeichnet hat, alte Werte und Normen nicht mehr unbesehen gelten und neue noch nicht da sind, aber intensiv gesucht werden. Auf diesen gesellschaftlichen Feldern intensiver Suchbewegung müssen wir praktische Antworten finden, die insbesondere für die jüngere Generation lebenswichtig sind. Hierbei verbinden sich dann Theorie und Praxis sehr eng; ich denke daz.B. an die Balance zwischen Nähe und Distanz, an die Schaffung „lebbarer Einheiten”. Das klingt sehr geheimnisvoll, bezeichnet aber sehr einfache Erfahrungstatbestände. Viele der politischen Organisationsgebilde erscheinen den Menschen heute viel zu entfernt, als dass sie sich mit ihnen konkret verknüpfen könnten; andere dagegen sind zu nahe, haben den Status von Kleingruppen oder Zweierbeziehungen. Politische Urteilskraft und Willensbildungen, die dem Gemeinwesen zugute kommen, spielen sich aber in dieser ausgewogenen Dialektik von Nähe und Distanz ab. Es bedarf einer ausreichenden Distanz zu den Individualproblemen, um sich im gesellschaftlichen Kontext bewegen zu können, aber es sind auch identifikationsfähige Nähebeziehungen notwendig, welche die Bindungsbedürfnisse befriedigen. Ich behaupte, diese Balance zwischen Nähe und Distanz ist heute gestört. Die gewerkschaftlichen Großorganisationen ebenso wie die Parteien sind dabei, gerade diese Zwischeneinheiten als zu kostspielig wegzurationalisieren. Dadurch wird ihnen allerdings der lebendige Boden eines solidarischen Loyalitätszuwachses entzogen. Ich kann mich nicht mit der New Yorker Börse, mit Aktienkursen oder mit dem, was in Gewerkschaftsvorständen und in der Regierung passiert, so identifizieren, dass ich das als meine Angelegenheit betrachte, wenn ich nicht auf einer bestimmten Ebene an diesen Entscheidungen konkret beteiligt bin. Die Orientierungsbedürfnisse vieler Menschen richten sich aber auf die Schaffung dieser lebbaren Einheiten, in denen noch mein eigener freier Wille spürbar ist, und die etwas von meiner Eigentätigkeit widerspiegeln.

Was ich unter Kritischer Theorie verstehe, das hat immer diese Doppelfunktion: Auf der einen Seite zu begreifen, was sich in den gesellschaftlichen Krisenzusammenhängen abspielt, worin die einzelnen Krisenfelder bestehen, gleichzeitig aber das begreifbar zu machen, was über das Gegebene hinausreicht, was auf ein Neues und Besseres hinwill. Der innere Wahrheitsgehalt der Theorie wird dabei nicht beschnitten, sondern erst dadurch konstituiert, dass die konkrete Verneinung eines bestehenden schlechten Zustandes den Blick für die besseren Möglichkeiten öffnet. Das ist in meiner Sicht der Dinge „konkrete Utopie”.

Natürlich geht es nicht darum, ausschließlich gewerkschaftliche Handlungsfelder zu benennen. Es gibt keine Universalverantwortung der Gewerkschaften für die Überwindung der gesellschaftlichen Misere. Aber es ist schon die Frage, was z.B. in den Gesundheitsbereichen, in Krankenhäusern, also in den wachsenden institutionellen Gebilden gemacht werden kann, in denen sich ein wilder Kampf höchst partikularer Interessen abspielt. Ich habe feststellen können, dass insbesondere in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Einladungen zugenommen hat, vor Ärzten, Psychiatern, also in vielfachen Heilberufen Tätigen, zu reden. Die Organisatoren solcher Kongresse wissen aber, dass ich kein Medizinsoziologe bin und auch sonst aus ihrem speziellen Bereich nur geringes Wissen habe. Sie wissen im Allgemeinen auch, dass ich mich der Frankfurter Schule zugehörig fühle, meine intellektuelle Ausbildung dort erhalten habe. Aber sie wollen auch gar nichts spezifisch Medizinisches wissen, sondern der Orientierungsbedarf geht darauf hin, gesellschaftliche Problemlagen zu deuten und ihnen vielleicht zu verdeutlichen, dass individuelle Therapie, gleich ob sie sich auf den Körper oder die Seele bezieht, nicht alles heilen und bewältigen kann, was eine krank machende Gesellschaft, die Alltagsirrationalitäten bewirken.

Dafür ist es allerdings notwendig, einen Schritt weit aus der Selbstbezogenheit der Wahrheitslegitimationen der Kritischen Theorie herauszutreten. Es sind Vereinfachungen und Übersetzungen erforderlich. In einer hoch spezialisierten Wissenschaftsgesellschaft wie der unsrigen bekommt eine solche Übersetzungstätigkeit immer größere Bedeutung. Ernst Bloch hat einmal gefragt, wer eigentlich auf den absurden Gedanken gekommen sei, dass sich die Wahrheit immer von selbst durchsetze. Unwahrheiten, Lüge und Betrug setzen sich wohl von alleine durch, aber nicht zusammenhängende Deutungen der Welt, die auf Befreiung der Menschen von selbstverschuldeter Unmündigkeit abzielen.

Ich will dieses Problem der Beziehung zwischen Theorie und politischem Handeln in wenigen Sätzen zum Schluss in einer anderen Dimension noch einmal ansprechen. Es gibt Anfang der 1960er Jahre eine berühmte öffentliche Debatte zwischen Edward Teller und Linus Pauling über den radioaktiven fall-out. Diese Debatte hat für mich paradigmatische Bedeutung. Teller, einer der Erfinder der Wasserstoffbombe, behauptete, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse würden immer komplexer, so dass am Ende nur noch ganz wenige deren Struktur und deren gesellschaftliche Wirkungen beurteilen könnten. Hinter diesem Argument haben sich in der Auseinandersetzungen über die Atomkraftwerke immer wieder die am Bestehenden orientierten Wissenschaftler und Politiker geschützt. Pauling dagegen sagt, gerade weil die Naturwissenschaften in unserer Welt diese ungeheure Bedeutung für den Lebenszusammenhang der Menschen an-genommen haben, muss es möglich sein, die Wirkungen naturwissenschaftlicher Forschung auf politische Alternativen zu bringen, die den Menschen eine Entscheidung ermöglichen, welchen der Wege sie beschreiten wollen. Niklas Luhmann hat das als das Verfahren der Komplexreduktion beschrieben; sehr treffend. Wir leben heute unter Verhältnissen von Öffentlichkeit, in der solche Komplexreduktionen fortlaufend not-wendig sind, um aus dem lähmenden Zustand der Bestätigung der gegebenen Herrschaftsverhältnisse herauszukommen.

Hierbei entsteht ein lebendiger Austausch von Allgemeinem und Besonderem, vom Besonderen ausgehend wird das Allgemeine mit Rückbindungsmöglichkeiten zum Lebenszusammenhang der Menschen ausgestattet. In meinen Erörterungen geht es um die gewiss konfliktreichen Beziehungen zwischen empirisch gesättigter Theorie, wie sie in der Frankfurter Schule ausgebildet wurde, und den Perspektiven emanzipatorischer Gesellschaftspraxis. Ich habe mich auf Stichworte beschränken müssen, möchte aber an diesem Platz nicht versäumen, bestimmte aus der Kritischen Theorie mitentwickelte Ideen in Erinnerung zu rufen, die vergessen, verdrängt, manchmal auch verdreht worden sind, die ich aber für aktueller denn je halte. Ich meine die Entwicklung einer betriebsnahen Bildungsarbeit, die in den 1960er und Anfang der 1970er Jahre mit der ldee des exemplarischen Lernens verknüpft war. Es war aber keine bloß theoretische Konzeption der Arbeiterbildung, sondern unsere Vorstellung war ja, in den einzelnen Betrieben R;Irinngsohleute in den Stand zu setzen, Lernprozesse weiterzutragen, d.h. diegesellschaftskritischen Ideen in den Betrieben zu verankern. Ich bin sicher, dass die gewerkschaftliche Gegenmacht in den Betrieben nur gefestigt werden kann, wenn diese Konzeptionen, die im Bloch’schen Sinne ja unabgegolten sind, wieder verlebendigt werden.

Damit komme ich zu meinem letzten Punkt. Die Verbindung von betrieblichen und außerbetrieblichen Handlungsfeldern ist in meiner Sicht für die Zukunftsfähigkeit der Gewerkschaften lebenswichtig. Wenn immer mehr mit immer weniger Anwendung lebendiger Arbeitskraft produziert wird, also eine Umverteilung der gesellschaftlich not-wendigen Arbeit stattfinden muss, dann werden jene Bereiche anwachsen, in denen die Gemeinwesenarbeit erforderlich ist, die nicht überwiegend der normalen Warenproduktion dient, sondern der Bearbeitung der im Zuge des Fortschritts ausgegrenzten und brachliegenden Problembereiche menschlichen Zusammenlebens. Es ist also eine vertikale und eine horizontale Erweiterung der gewerkschaftlichen Handlungsfelder notwendig. Das politische Mandat betrifft die Pflege des Gemeinwesens und den Zusammenhalt des Ganzen; das kulturelle Mandat betrifft den Zusammenhang der außerbetrieblichen Existenzweise der Menschen, die immer stärker einer sekundären Ausbeutung ausgesetzt ist, wenn sich ihrer keine kollektive Interessenvertretung annimmt. Gerade in einer Zeit, in der die Schutzvorrichtungen sozialstaatlicher Systeme zerbrechen, haben Gewerkschaften den Auftrag, im Interesse der Sicherung von verbesserten Bedingungen für ein Leben in Würde zu sorgen und die sozialen Bedürfnisse der Menschen ernst zu nehmen.

In dem Beziehungsgeflecht zwischen Kritischer Theorie und emanzipatorischer Gesellschaftspraxis geht es also um die Erweiterung auf beiden Seiten. Eine Gesellschaftstheorie, die sich an der Frankfurter Schule orientiert, muss den Weg in die Gesellschaft wagen, um der erlahmten politischen Bildung wieder neue Impulse zu geben. Auf der anderen Seite können Gewerkschaften nicht mehr alleine den engen Horizont von Arbeitsplatzinteressen als einzig vertretbaren Handlungsraum behandeln, sondern werden, um ihrer eigenen Lebensfähigkeit willen, ein gesamtgesellschaftliches Mandat stärker als bisher wahrnehmen müssen.

* Überarbeitete Fassung eines Beitrages aus dem Band Kritische Theorie im gesellschaftlichen Strukurwandel, hg. von J. Beerhorst, A. Demirovic und M. Guggemos, Frankfurt/Main 2004.

[1] Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam machen, dass ich diese Frage der Realitätsdefinitionen in meinem Buch Arbeit und menschliche Würde, Göttingen 2001, ausgiebig diskutiert habe.

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