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Abschied von Klaus Scheunemann

in: vorgänge 210/211 (2+3/2015), S. 252-255

Abschied von Klaus Scheunemann

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch.
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

(Johann Wolfgang von Goethe,
Wandrers Nachtlied)

Lieber Rainer Scheunemann, liebe Tina Tyler, liebe weitere Angehörige der Familie Scheunemann, liebe Weggefährtinnen und Weggefährten des Verstorbenen, geehrte Trauerversammlung,

wir beklagen den Tod von Klaus Scheunemann, der am 4. August im Alter von 79 Jahren friedlich verstorben ist im noblen „Senioren- und Pflegeheim Sonnenhof am Park“ in der Bremer Straße 2 hier in Frankfurt. Wer ihn in dieser letzten Station seines Lebens besucht hat – Dank an alle, die ihn dort besucht haben! -, wurde Zeuge des langsamen, aber unaufhaltsamen geistigen und körperlichen Verfalls eines Parkinson-Patienten. Von seinen Pflegern stets tadellos rasiert, konnte er, künstlich ernährt über eine Magensonde, in der letzten Zeit sein Bett nicht mehr verlassen. Weil seine Sprechmuskeln der Lähmung verfielen, versank er ins Schweigen, einst ein brillanter Journalist und Meister der Kommunikation. Gerade dieser Verlust seiner Dialogfähigkeit setzte auch den treuesten und diszipliniertesten Besucherinnen und Besuchern arg zu. Wenn ich ihn dort mit geschlossenen Augen und weit geöffnetem Mund liegen sah – „der Menschheit ganzer Jammer“ überkam mich. Melancholisch verließ ich das Krankenzimmer, das mit den vielen Fotos aus besseren Tagen an den Wänden sorgfältig individuell eingerichtet war.

Klaus Scheunemann wurde am 27. Februar 1936 in München als erstes Kind der Eheleute Walther Scheunemann und Lu Bergfeld geboren. Sein Vater, von Beruf Journalist, hatte 1931 an der Justus-Liebig-Universität in Gießen mit einer staatswissenschaftlichen Dissertation promoviert, die den kurzen Titel trug „Der Nationalsozialismus“. Darin hatte er geradezu hellseherisch das Unheil gedanklich vorweggenommen, das der Sieg der Hitlerpartei über Deutschland und die Welt bringen würde. Diese theoretisch fundierte Feindschaft zum NS führte ihn in die Nähe der gescheiterten Verschwörung vom 20. Juli 1944. Mit Recht war Klaus stolz auf seinen Vater, den er als menschliches und politisches Vorbild verehrte. Das Foto von ihm über dem Krankenbett im Sonnenhof dokumentierte dies. Untergründig belastet war allerdings das Verhältnis durch den Sachverhalt, dass sich der Vater bei Kriegsende aus politischem Schuldgefühl das Leben genommen und damit den beiden Söhnen sowie der Ehefrau den schützenden Familienrahmen entzogen hatte.

Umso überwältigender war für Klaus das Erlebnis, in den USA dank eines Stipendiums des American Field Service 1953 für ein ganzes Jahr als Austauschschüler in eine intakte amerikanische Familie im Bundesstaat Wisconsin aufgenommen zu werden. Diese Zeit im Schoße der deutschstämmigen Familie Schulz wurde prägend für sein weiteres Leben. Nur wenigen Stipendiaten ist es vergönnt, aus einem solchen Austauschprogramm heraus eine private Freundschaft zu entwickeln – über die Kontinente hinweg und Jahrzehnte überdauernd. Und singulär ist es, eine solche Freundschaft schließlich auf eine staatspolitische Ebene zu heben, die ihren Ausdruck in einem Partnerschaftsvertrag zwischen Hessen und Wisconsin gefunden hat. Das alles war in den frühen Fünfzigern natürlich nicht im Entferntesten abzusehen. Es war das beglückende Resultat eines Zusammenspiels von günstigen Umständen und weitsichtigen Personen, das freilich einer treibenden Kraft im Hintergrund bedurfte. Diese treibende Kraft im Hintergrund war Klaus Scheunemann, der dafür den Hessischen Verdienstorden am Bande empfing, zu Recht empfing. Jenseits des Atlantiks wurde ihm die Ehrenbürgerschaft des Bundesstaates Wisconsins verliehen.

1955 machte er sein Abitur in Wiesbaden, wohin die verwitwete Mutter mit beiden Söhnen gezogen war. Was lag näher, als in Frankfurt an der Johann Wolfgang Goethe Universität ein Studium der Anglistik und Geschichte zu beginnen? Seit dieser Zeit war Frankfurt der ständige Wohnsitz und Lebensmittelpunkt von Klaus Scheunemann. Hier in Frankfurt, der quirligen Metropole der dynamischen Rhein-Main-Region, vollzog sich sein Leben. Trotz aller globalen Mobilität infolge der Fluglinientätigkeit seiner Ehefrau Renate war er erstaunlich ortsfest und sesshaft.

Neben dem Studium engagierte er sich studentenpolitisch im Asta als dessen stellvertretender Vorsitzender und in der Studentenzeitschrift DISKUS, wo er seine ersten journalistischen Gehversuche machte. Ich muss mich korrigieren: bereits als Schüler in Wiesbaden hat er an der Schülerzeitung des Realgymnasiums mitgeschrieben. Damit zeichneten sich schon früh die beiden Hauptlinien seines aktiven Lebens ab. Journalismus als Brotberuf, seit 1961 im Funkhaus am Dornbusch, und ehrenamtliches, bürgerschaftliches Engagement auf vielen Feldern. Parteipolitisch stets ungebunden und das demokratisch Verbindende betonend, machte er aus seiner linksliberalen Orientierung keinen Hehl, ohne missionarisch oder gar eifernd aufzutreten.

Ich nenne jetzt die Organisationen, in denen Klaus Scheunemann im Laufe seines Lebens in unterschiedlichen Positionen, oft in leitender Stellung, wirkte. 1961 begann nicht nur seine Laufbahn im HR, im selben Jahr trat er auch der DGB-Gewerkschaft Kunst bei, die später – nach der Zwischenstation der IG Medien – in der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft VERDI aufging. Ihr gehörte er bis zu seinem Tode an.

Analoges gilt für die Humanistische Union, Deutschlands älteste und größte Bürgerrechtsorganisation, 1961 von dem Münchener Publizisten Gerhard Szczesny gegründet, der zuvor durch sein Buch „Die Zukunft des Unglaubens“ von sich Reden gemacht hatte. Im klerikalen Mief der Adenauerära, der heute kaum mehr vorstellbar ist, beförderte die Humanistische Union, abgekürzt HU, mit ihrer Hauptforderung nach einer konsequenteren Trennung von Staat und Kirche einen gesellschaftlichen Modernisierungsschub in Richtung Säkularität und Laizität. Bekannte Frankfurter Persönlichkeiten wie Alexander Mitscherlich und Fritz Bauer gehörten zu den Mitbegründern. Ihnen schloss sich der junge Scheunemann rasch an und stieg für lange Zeit zu einer führenden Persönlichkeit des Verbandes auf Orts-, Landes und Bundesebene auf.

Obwohl lebensgeschichtlich am frühesten verankert, kam das Engagement in der Steuben-Schurz-Gesellschaft für die Freundschaft zwischen Deutschen und US-Amerikanern erst viel später dazu. Eins seiner Hauptanliegen war dabei die Auswahl geeigneter junger Menschen für den Stipendiatenaustausch, dem er selbst einst so Entscheidendes verdankt hatte. Er war der Initiator des Luftbrückenstipendiums und des Medienpreises der Steuben-Schurz-Gesellschaft.

Ein Blick auf weitere Mitgliedschaften zeigt das breite Spektrum seiner Interessen und Tätigkeiten, die freilich nicht alle gleichrangig und gleich intensiv wahrgenommen wurden, werden konnten. Er war Mitglied in der „Arbeiterwohlfahrt“ und im „Verein für Frankfurter Arbeitergeschichte“. Er gehörte zu den „Freunden und Förderern der Akademie der Arbeit“, er förderte das „Fritz Bauer Institut“. Und wenn es noch eines Beleges bedurft hätte, dass sein Blick nicht einseitig gen Westen ausgerichtet war: er war Mitbegründer des „Freundeskreises Frankfurt – Krakau“ und Mitglied in der „Deutsch-polnischen Gesellschaft“.

Diesen Teil nun beendend, werfen wir noch ein Streiflicht auf seine Arbeit im Hessischen Rundfunk und auf sein Privatleben an der Seite seiner Ehefrau Renate, die beiden tragenden Konstanten seiner Existenz. Als Pionier des interaktiven Hörfunks führte er die telefonische Hörerbeteiligung in einer laufenden Sendung ein und schrieb damit Rundfunkgeschichte. Was heute selbstverständlicher Standard ist, hat er in den 1980er Jahren entwickelt. Die Samstag-Vormittag-Sendung um zehn Uhr in HR 1 „Argumente. Eine Sendung für Hörer, die mitreden wollen“ war ein Glanzlicht demokratischer Partizipation am Vorabend des digitalen Zeitalters. (…)

Dies alles ist nun leider vorbei, vorbei für immer. Klaus Scheunemann ist unwiderruflich von der Bühne des Lebens abgetreten. Der allerletzte Vorhang ist gefallen. Wir werden ihn nie mehr wieder sehen, es sei denn auf Fotos oder in Phantasiebildern der Erinnerung. Er ist den letzten Weg gegangen, den Weg ohne Wiederkehr. Er ist uns darin nur voran gegangen, wir werden ihm folgen. Diesen Weg der Sterblichkeit müssen alle Menschen gehen, ja alle Lebewesen.

In einer Trauerfeier verabschieden wir uns von einem Menschen und machen uns unsere eigene Vergänglichkeit bewusst. Deshalb sind unsere Gefühle bei solchen Gelegenheiten eher gemischt. Für kurze Zeit halten wir inne und unterbrechen unsere Alltagsgeschäftigkeit. Dabei drängt sich – fast unvermeidlich – die Erkenntnis auf: irgendwann werde ich dort vorne selbst im Sarg liegen oder als ein Häufchen Asche selbst in der Urne stecken. Wer weiß, vielleicht schon überraschend bald?

So ist es. Das ist keine Vermutung, das ist eine absolute Gewissheit, die in der Grundordnung des Seins selbst verankert ist. Danach hat alles, was einen Anfang hat, irgendwann auch ein Ende. Das ist eine höchst sinnreiche Norm. Denn nur dadurch findet Wandel statt, wird Neues ermöglicht. Eben deshalb ist gegen den Tod kein Kraut gewachsen. Gegen den Tod aufzubegehren, ist sinnlos und nutzlos. Der Tod ist kein Verhängnis, sondern eine weise metaphysische Konstante. Menschsein heißt: leben dürfen und sterben müssen. Darin liegt eine große Chance, die es zu nutzen gilt. Darin liegt auch ein großer Trost. Denn der Tod betrifft jeden und jede – ohne Ausnahme. Das ist die Majestät des Todes. Das ist die Demokratie des Todes. Die Sterberate jeder Population beträgt immer hundert Prozent. Bitter ist der Tod nur, wenn er vorzeitig, unzeitgemäß eintritt, ohne, dass zuvor ein erfülltes Leben gelebt werden konnte.

In diesem Sinne ist der Tod Klaus Scheunemanns nicht bitter. Denn er hat ein erfülltes Leben, auch ein mit Sinn erfülltes Leben geführt. Ob dies auch für seine letzte Zeit des Verstummtseins und der Abhängigkeit von einer Magensonde gilt, darf bezweifelt werden. Eine Patientenverfügung wäre hier hilfreich gewesen.

Der geistige, der spirituelle Impuls, der von einer weltlich-humanistischen Trauerfeier ausgeht, ausgehen kann, lautet: Nutze den Tag und gedenke des Todes! Carpe diem et Memento mori! Eine epikureisch-stoische Botschaft. Eine Ewigkeit waren wir nicht, eine Ewigkeit werden wir nicht mehr sein. Die winzige Zeitspanne dazwischen, das ist unser Leben. Mensch sein heißt:

  • sich erträglich einrichten für ein kurzes Gastspiel auf einem Staubkorn im Weltall,
  • tätig sein mit Sinn und Verstand, mit Anstand und Würde, mit Witz und Humor,

  • schließlich Abschied nehmen von allem für immer, vor allem von sich selbst, in der Gewissheit, dass da oben niemand ist, der uns zugeschaut hätte und dass irgendwann alles vergessen sein wird.
  • Für diese Hauptgesichtspunkte einer humanistischen Lebensphilosophie können wir einiges auch von Klaus Scheunemann lernen. Lieber Klaus, wir danken Dir.

    Joachim Kahl
    ist Philosoph. Er promovierte 1967 in Theologie, trat kurz darauf aus der Kirche aus. Kahl gehörte von 1969 bis 1973 gemeinsam mit Klaus Scheunemann dem Bundesvorstand der HU an.
    www.kahl-marburg.de

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