Themen / Rechtspolitik / Sexualstrafrecht

Bestehende Straf­bar­keits­lü­cken bei sexueller Gewalt und Verge­wal­ti­gung

11. August 2015

Mara Kunz

Zusammenfassung einer Sachverständigen-Anhörung des Deutschen Bundestages. Aus: vorgänge Nr. 209 (Heft 1/2015), S. 111-115

(Red.) Am 28. Januar 2015 führte der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundestages eine Anhörung über eventuellen Handlungsbedarf im Sexualstrafrecht durch. Hintergrund war ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (BT-Drs. 18/1969), der sich auf das 2011 ratifizierte Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) bezieht. Artikel 36 dieser Konvention verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, alle Formen vorsätzlich nicht einverständlicher sexueller Handlungen unter Strafe zu stellen. Das gilt auch dann, wenn (potenzielle) Opfer „nur“ mit Worten widersprechen und sich nicht körperlich gegen Übergriffe wehren. Danach besteht im deutschen Strafgesetz eine Lücke in den Fällen, in denen das Opfer zwar seinen entgegenstehenden Willen ausdrückt, der Täter aber keinen Zwang einsetzen muss, um sein Vorhaben umzusetzen. Mara Kunz fasst die einzelnen Stellungnahmen der Sachverständigen kurz zusammen.

1. Birgit Cirullies, Leitende Oberstaats­an­wältin in Dortmund(1)

Frau OStAin Cirullies verneinte eine Reformbedürftigkeit von § 177 StGB. Es seien kaum Fälle der Hinnahme sexueller Handlungen trotz ausdrücklichen und entschiedenen Nichtwollens denkbar, die nicht unter § 177 StGB fallen würden. Zwar komme etwa in den Fällen, in denen zunächst ein entgegenstehender Wille bestehe, letztlich aber dem Ansinnen des Täters nachgegeben werde (z.B. wegen eines Sinneswandels, nach Überredung oder Versprechungen oder wegen der Androhung von Nachteilen, die aber keine gegenwärtige Gefahr für Leib oder Leben darstellen) eine Strafwürdigkeit wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung nicht in Betracht, allerdings bestehe eventuell eine Strafbarkeit nach § 240 Abs.4 S.2 Nr.1 StGB (besonders schwerer Fall der Nötigung). Dies würde dem Strafbedürfnis auch gerecht. Einem mündigen erwachsenen Menschen sei zuzumuten, sein mangelndes Einverständnis eindeutig zum Ausdruck zu bringen und sich einer gewissen körperlichen Gegenwehr zu bedienen, sähe man von den Fällen der Drohung und der schutzlosen Lage ab. Käme es allein auf die subjektive Einstellung des Opfers an, würde der strafrechtliche Verantwortungsbereich des Täters überdehnt und eine ausufernde strafrechtliche Verfolgung wäre zu befürchten. Es entstünden Unsicherheiten, die unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten bei einem Verbrechenstatbestand nicht tragbar seien. Mit einem Anstieg der Zahl der Verfahren sei dann zwar möglicherweise zu rechnen, gleichzeitig wäre aber mangels objektiver Prüfungskriterien eine erhöhte Gefahr für Fehlentscheidungen gegeben.

2. Oberstaats­an­walt Gregor Eisenhuth, Leiter der Abteilung für Sexual­straf­sa­chen bei der Staats­an­walt­schaft München I

 OStA Eisenhuth machte bestehende Schutzlücken deutlich: Vorausgegangene massive Einwirkungen des Täters auf das Opfer könnten dazu führen, dass der Täter sexuelle Handlungen ohne Einverständnis der betroffenen Person vornehmen könne, ohne in der konkreten Situation vor dem Geschlechtsverkehr Zwang anwenden zu müssen, weil sich das Opfer bereits aufgrund der Vorgeschichte nicht mehr zur Ausübung von Gegenwehr in der Lage sehe bzw. diese für aussichtslos erachte. Gerade wer den Willen von unterlegenen Personen durch den Einsatz massiver körperlicher Gewalt effektiv gebrochen habe (charakteristisch seien insbesondere Fälle schwerer häuslicher Gewalt), könne derzeit unter Umständen bei nachfolgenden Übergriffen gleichwohl nicht wegen sexueller Nötigung verurteilt werden. Ferner könnten Drohungen mit empfindlichen Nachteilen für das Opfer, wie etwa der Verlust des Arbeitsplatzes, derzeit nicht umfassend als Sexualstraftat verfolgt werden. Bei der Schaffung von neuen Tatbeständen müsse allerdings auf die Nachweisbarkeit der Taten in der Praxis geachtet werden. Daher müssten auch neue Tatbestandsvoraussetzungen objektive Anknüpfungspunkte besitzen. Es sei außerdem darauf zu achten, dass die Schaffung erweiterter Straftatbestände in diesem Bereich auch neue Missbrauchsmöglichkeiten in Form von vermehrten Anzeigen lediglich vermeintlicher Opfer eröffne. Ein Tatbestand, der auf objektivierbare Voraussetzungen verzichte, bringe außerdem die Gefahr mit sich, dass der Fokus des Strafprozesses auf dem Opferverhalten liege, was zu sekundären Viktimisierungen führen könne. Eine Gesetzesänderung zur Behebung der Missstände sei nicht zwingend erforderlich, es genüge, eine weitere Auslegung der bestehenden Tatbestandsmerkmale zuzulassen, um die Schutzlücken zu schließen.

3. Rechts­an­wältin Christina Clemm, Berlin

Auch Christina Clemm sah Schutzlücken: derzeit sei nicht der Wille der betroffenen Person in die sexuelle Handlung ausschlaggebend für eine Strafbarkeit, sondern ausschließlich der Umstand, ob Zwang angewendet worden sei. Deshalb sei ein Tatbestand erforderlich, der auf sämtliche Nötigungsmittel als Voraussetzung der Strafbarkeit verzichte und allein auf den entgegenstehenden Willen der betroffenen Person abstelle, der für den Handelnden erkennbar sein müsse. Rechtsanwältin Clemm favorisierte deshalb den Formulierungsvorschlag von Prof. Dr. Hörnle, den diese für das Deutsche Institut für Menschenrechte formulierte: „Wer gegen den erklärten Willen einer Person oder unter Umständen, in denen fehlende Zustimmung offensichtlich ist, sexuelle Handlungen an dieser vornimmt oder an sich vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung einer sexuellen Handlung an oder mit einem Dritten bestimmt…“(2)

4. Katja Grieger, Bundes­ver­band Frauen­be­ra­tungs­stellen und Frauen­not­rufe, bff: Frauen gegen Gewalt e.V.

Der Verein bff legte eine Fallanalyse zu bestehenden Schutzlücken bei der Anwendung des deutschen Sexualstrafrechts bezüglich erwachsener Betroffener vor. Die Verfasserinnen kommen dabei zu dem Ergebnis, dass die derzeitige deutsche Rechtslage den realen Situationen, in denen sexuelle Übergriffe stattfänden, nicht gerecht werde. So seien nicht alle relevanten Drohungen von § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB, sondern , lediglich die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben erfasst. Zentraler Bezugspunkt für eine Strafbarkeit sei die Widerstandsleistung der betroffenen Person. Ein wissentliches Hinwegsetzen eines Täters über ein erklärtes „Nein“ reiche hingegen für eine Strafbarkeit nicht aus. Es müsse jedoch jede sexuelle Handlung ohne Einverständnis der Betroffenen strafbar sein, wenn der Täter das fehlende Einverständnis vorsätzlich missachte. Dies gelte etwa auch für das Ausnutzen von Überraschungsmomenten.

5. Prof. Dr. Jörg Eisele, Lehrstuhl für Deutsches und Europä­i­sches Straf- und Straf­pro­zess­recht, Wirtschaftss­traf­recht und Compu­ter­straf­recht, Universität Tübingen

Prof. Dr. Eisele wies auf eine Reihe von Fallgestaltungen hin, die seines Erachtens strafwürdig, derzeit aber nicht strafrechtlich erfasst seien: Dabei handele es sich um Fälle,

  • in denen es an einer schutzlosen Lage fehle, das Opfer aber aufgrund früherer Gewalterfahrungen objektiv mit weiterer Gewalt rechnen müsse;
  • in denen das Opfer nur subjektiv Gewalt befürchte und der Täter sich dies zunutze mache und
  • in denen der Täter zwar Gewalt ausübe, drohe oder das Opfer in schutzloser Lage nötige, der Entschluss zur Vornahme sexueller Handlungen jedoch erst später gefasst werde, das Opfer aber aufgrund des Vorverhaltens weiterhin eingeschüchtert sei.

Auch bei Überraschungsangriffen bzw. in Fällen, in denen das Opfer aufgrund von Schlaf, Krankheit, Behinderung, etc. nicht in der Lage sei, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu betätigen (was Voraussetzung einer Nötigung im Sinne des § 177 StGB ist) sei die Rechtslage nicht zufriedenstellend. So könne in letzteren Fällen zwar § 179 StGB greifen, dieser sähe aber auch eine geringere Strafandrohung vor. Er schlug zur Lösung folgende Formulierung vor: „Wer unter Ausnutzung einer Lage [alternativ: Wer in einer Lage], in der Widerstand für das Opfer nicht möglich ist [Var. 1] oder einer Lage, in der dem Opfer ein erheblicher Nachteil droht [Var. 2] oder das Opfer einen erheblichen Nachteil befürchtet [Var. 3], dieses dazu bringt, sexuelle Handlungen des Täters oder eines Dritten an sich zu dulden oder an dem Täter oder einem Dritten vorzunehmen, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren [alternativ: sechs Monaten bis zu zehn Jahren] bestraft.“

6. Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Professur für Strafrecht und Rechts­phi­lo­so­phie/Rechts­the­orie, Universität Halle-Wit­ten­berg

Auch Prof. Dr. Renzikowski meinte, das geltende Strafrecht in Deutschland enthalte Schutzlücken bei überraschenden Sexualangriffen sowie im Hinblick auf die eingeschränkte Auslegung der schutzlosen Lage (§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB) durch die Rechtsprechung. Der Gesetzgeber habe die Tatbestandsvariante des Ausnutzens einer schutzlosen Lage in § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB gerade eingeführt, um die Opferperspektive stärker zu berücksichtigen. Die Rechtsprechung lege jedoch eine objektive ex-ante Betrachtung zugrunde, die wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Verhalten von Opfern bei sexuellen Übergriffen nicht gerecht werde.

7. Prof. Dr. Thomas Fischer, Vorsit­zender Richter am Bundes­ge­richtshof

Der Vorsitzende des 2. Strafsenats des BGH lehnte eine Gesetzesänderung ab. Strafbarkeitslücken seien dem Strafrecht immanent und stellten nicht an sich schon zu ändernde Mängel dar. Außerdem seien die oftmals als Beweis für Schutzlücken angeführten Fälle mehrheitlich bereits von § 177 Abs. 1 StGB erfasst. Dies gelte etwa für alle Fälle der Fallgruppen „Angst vor Gewalt“, „Starrsein vor Angst“, und des „Ausnutzens eines Klimas der Gewalt“, die seit fast 17 Jahren von § 177 Abs. 1 StGB erfasst und seither in aller Regel so abgeurteilt worden seien. Möglicherweise auch ergangene Fehlurteile könne man nicht zur Konstruktion von Schutzlücken heranziehen. Andere Fälle wie die Drohung nicht mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben, sondern beispielsweise mit einer Abschiebung seien offensichtlich von § 240 Abs. 4 Nr. 1 StGB erfasst. Einzig der Fall des Ausnutzens eines Überraschungsmoments sei nicht erfasst. Der vom Deutschen Juristinnenbund e.V. (djb) in der Diskussion konkret genannte Einzelfall(3) sei jedoch unter § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB, mithin die schutzlose Lage zu subsumieren. Er wies zudem darauf hin, dass bei einem Abstellen auf einen „entgegenstehenden Willen“ Nachweisschwierigkeiten aufträten, die letztlich häufig auf Glaubwürdigkeitsbegutachtungen hinausliefen. Dies berge die Gefahr, dass viele Strafverfahren im Ungewissen enden könnten und letztlich das Ziel der Befürworter einer Änderung nicht erreicht würde.

Fazit: Die angehörten Staatsanwälte sowie der Vors. Richter am BGH kommen – auch soweit sie eine Strafbarkeitslücke feststellen – zu dem Ergebnis, dass eine Gesetzesänderung nicht erforderlich sei. Demgegenüber halten die Wissenschaftler, die Rechtsanwältin und der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe eine Änderung bzw. Ergänzung von § 177 StGB für erforderlich und machen entsprechende Vorschläge.

MARA KUNZ   studierte Rechtswissenschaften in Heidelberg mit Spezialisierung auf Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug und arbeitet derzeit an ihrer Dissertation. Sie gehört dem Bundesvorstand der Humanistischen Union an, wo sie sich vor allem mit (Jugend-)Strafrecht, Strafvollzug und kriminologischen Fragestellungen befasst.

Anmerkungen:

(1)  Sämtliche Stellungnahmen sind online abrufbar unter: https://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse18/a06/anhoerungen/Archiv/istanbul-konvention/348876

(2)  Hörnle, Tatjana, Menschenrechtliche Verpflichtungen aus der Istanbul-Konvention, Ein Gutachten zur Reform des § 177 StGB, Deutsches Institut für Menschenrechte, S. 23, Berlin 2015, online abrufbar unter: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/themen/frauenrechte/publikationen/

(3)  BGH 4 StR 445/11, Beschluss vom 8. November 2011.

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