Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 182: Die Aufgabe des Staates

Die Libera­li­sie­rungs­-A­genda der EU

Zwischen Konvergenzdruck, Widerstand und nationalen Entwicklungspfaden

aus: vorgänge Nr. 182, Heft 2/2008, S. 70-81

I. Einleitung

Seit den 1980er Jahren hat in den öffentlichen Sektoren der EU-Mitgliedstaaten ein tiefgreifender Wandel stattgefunden: von umfassenden, staatsregulierten Sektoren, die in der Nachkriegszeit als wichtige Elemente der keynesianischen Wohlfahrtstaaten aufgebaut wurden (Bieling/Deckwirth 2008) hin zu privatwirtschaftlichen Märkten mit freiem Wettbewerb als zentralem Leitbild. In den Ländern Mittel- und Osteuropas verlief die Reorganisation der öffentlichen Infrastruktur besonders radikal.

Die Rolle der europäischen Ebene ist dabei von großer Bedeutung. Angesichts der massiven Privatisierungswelle der 1990er Jahre und der vertraglich festgelegten Neutralität der EG/EU gegenüber der Eigentumsform (Art. 295 EGV), müssen noch weitere Triebkräfte identifiziert werden, die für den häufig beobachteten Verlauf materieller Privatisierungen öffentlicher Unternehmen verantwortlich sind. Neben direkten regulativen Vorgaben wie sektorale Liberalisierungsrichtlinien und Verordnungen der Kommission sind daher auch eher indirekte Einflussfaktoren von Relevanz. Besonders bedeutsam sind die Implikationen des EG-Binnenmarktes, der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) und der Finanzmarktintegration. Die Reorganisation öffentlicher Dienstleistungen kann hierbei als politisches Projekt aufgefasst werden, dass zum einen der Vollendung des Binnenmarktes sowie der Durchsetzung eines finanzgetriebenen Akkumulationsregimes dient, und zum anderen durch Elemente anderer Projekte – z.B. den Sparvorgaben der WWU – überlagert wird. Die Entstaatlichung[1] öffentlicher Sektoren ist eingebettet in eine Reihe komplementärer politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Umwälzungen: Globalisierung (und die damit verbundenen Umbrüche der kapitalistischen Funktionsweise), Wandel von Staatlichkeit und europäischer Integrationsprozess. Im Fokus der nachfolgenden Darstellung stehen v.a. öffentliche, netzgebundene Infrastrukturdienstleistungen wie Telekommunikation, Post, Bahn, Energie und Wasser.[2]

II. Der Struk­tur­wandel der europä­i­schen Integration und die Entstehung einer europä­i­schen Libera­li­sie­rungs­-A­genda

Der Zugriff auf die öffentliche Infrastruktur durch europäische Regulierungen ist eng verbunden mit einem Bruch in der Integrationsweise in den 1980er Jahren. Diesem „Strukturwandel der europäischen Integration“ (Ziltener 1999) liegt ein Verständnis zu Grunde, dass die EU als ein Teil einer mehrere Ebenen und Instanzen fassenden Staatlichkeit begreift, die in einem strukturellen Zusammenhang mit der Transformation von (National-)Staatlichkeit in Europa steht (Ziltener 2000: 74, 81). Der Übergang von einer „Monnet’schen“ zu einer „wettbewerbsstaatlichen“ Integrationsweise markierte nicht nur den Wechsel von einem Regime, das nationale wohlfahrtsstaatliche Entwicklungsmodelle absicherte, zu einem Modernisierungsregime im Kontext eines „Schumpeterianischen Leistungsstaats“ (Jessop 1995). Gleichzeitig war der Prozess das Startzeichen für die Entstehung und Durchsetzung einer europäischen Liberalisierungs-Agenda. Der auf die Einheitliche Europäische Akte (1986) folgende Integrationsschub bewirkte eine Ausdifferenzierung des europäischen Mehrebenensystems, durch die europäische Instanzen und Verfahren – und somit auch europäische Liberalisierungsinitiativen – deutlich an Bedeutung gewannen (Ziltener 2000: 90). Der neue Integrationsmodus trieb von nun an „die nationalen Reorganisationsprozesse nach Maßgabe neoliberaler Deregulierungs- und Flexibilisierungskonzepte“ voran (Bieling/Deckwirth 2008). In der Folge erfuhr auch der Charakter öffentlicher Infrastruktur eine Umdeutung: weg von der Gemeinwohlorientierung eines öffentliches Gutes – politische Steuerung und soziale Versorgung – hin zu Profitorientierung. In diesem Zusammenhang ist ein Funktionswandel des Staates feststellbar, der sich in der Transformation des Leistungsstaates zum Gewährleistungsstaat ausdrückt. Die Bereitstellung öffentlicher Infrastruktur erfolgt dabei durch private Unternehmen, der Staat definiert lediglich Mindestleistungskataloge und überwacht die Erbringung (ebd.).

Was sind also die Triebkräfte, die diesen Prozess begünstigt haben? Eingebettet in die tiefgreifenden strukturellen Umbrüche seit den 1970er Jahren, haben zahlreiche Faktoren den Liberalisierungsprozess beflügelt. Zum einen setzte sich nach dem Scheitern keynesianischer Krisenstrategien gegenüber den Krisenphänomenen der 1970er Jahre ein neoliberaler Diskurs durch, der eine höhere Effizienz privater gegenüber staatlicher Leistungserbringung postuliert. Die Verschiebung zu Angebots- und Austeritätspolitik ging letztlich zu Lasten von notwendigen Investitionen in die öffentliche Infrastruktur (Deppe 2001: 56): Der Abbau von Staatsverschuldung bei hohen Zinssätzen unterwirft seitdem in zunehmender Weise soziale Sicherungssysteme und öffentliche Sektoren der Rigidität der Finanzmärkte – die Finanzierung öffentlicher Aufgaben wird sukzessive eingeschränkt (Aglietta 2000: 60ff.). Durch den teilweise (selbst herbeigeführten) maroden Zustand und das häufig mangelhafte Serviceangebot öffentlicher Infrastrukturdienstleistungen im Zusammenspiel mit einem hegemonialen neoliberalen Effizienz-Diskurs wurden Privatisierungen nun sowohl wissenschaftlich legitimiert als auch als dringend benötigte Modernisierungsprozesse gesellschaftlich akzeptiert.

Zum anderen war die proaktive Rolle der Europäischen Kommission von entscheidender Bedeutung, die als ein zentraler Akteur – unterstützt durch die wirtschaftlichen Interessen privater Anbieter – den Liberalisierungsprozess forcierte. Die Entwicklung des EG-Binnenmarkt-Projektes, in dessen Folge das Wettbewerbsrecht auf bislang geschützte Bereiche ausgedehnt wurde, die wettbewerbsorientierte und integrationsfreundliche Rechtsprechung des EuGH sowie später die Beitrittsbedingungen der Osterweiterung dynamisierten den Prozess (ebd.; Lippert 2005: 7, Löwe 2003: 190f, 197f).

Die Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen unterliegt darüber hinaus einer Reihe eher als indirekt zu klassifizierender Einflussfaktoren. Hierbei spielen vor allem auf der supranationalen Ebene verankerte Projekte der „neuen europäischen Ökonomie“
– neben dem der EG-Binnenmarkt die WWU und die Finanzmarktintegration – eine bedeutende Rolle (Bieling/Deppe 2003). Vor allem die Finanzmarktintegration ist Ausdruck eines neuen, finanzgetriebenen Akkumulationsregimes in der EU. Das Wettbewerbsregime der „neuen europäischen Ökonomie“ hat einen Standortwettbewerb um ausländische Direktinvestitionen ausgelöst, der sich in einem Steuersenkungswettlauf äußert und unter der Vorgabe strikter Haushaltsdisziplin den Privatisierungsdruck wesentlich erhöht. Materielle Privatisierungen in Form von Börsengängen ehemals öffentlicher Unternehmen sind dabei sowohl Ausdruck des finanzgetriebenen Akkumulationsregimes als auch ein Hebel zu seiner Durchsetzung, Dynamisierung und Stabilisierung: Der Verkauf von Infrastrukturdienstleistungsunternehmen hat zur Marktkapitalisierung erheblich beigetragen und den Aktienhandel weiter dynamisiert (Seikel 2008: 33, 37).[3] Privatisierungen in Form von Volksaktien sollten zusätzlich bei breiten Bevölkerungsschichten für Zustimmung sorgen; Wertverluste der Aktienkurse in der Phase nach der ersten Privatisierungseuphorie dürften diesen Effekt jedoch zumindest eingeschränkt haben.

Privatisierungen als Folge und Mittel der Durchsetzung finanzgetriebener Kapitalakkumulation

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Die finanzgetriebene Kapitalakkumulation stellt den Kern einer neuen Regulationsweise und gleichzeitig einer neuen Gesellschaftsformation dar. Immer größere Bereiche der Gesellschaft, darunter auch öffentliche Sektoren, werden in zunehmender Weise durch marktförmige Steuerungsmechanismen und Finanzkalküle bestimmt. Die innere Logik und Dynamik dieses neuen Regimes geht aus der zentralen ökonomischen Rolle der Finanzmärkte bei Festlegung von Niveau und Ausrichtung von Investitionen hervor (Dörre/Brinkmann 2005: 98). Dabei forcieren vor allem Investmentfonds[4] als entscheidende Akteure eine weitere Liberalisierung der Finanzmärkte und eine Verbesserung der steuerlichen und gesetzlichen Anlagebedingungen. Gelingt die Durchsetzung, werden die Akteure weiter gestärkt. Die Deregulierung der Kapitalmärkte weist also einen selbstverstärkenden Effekt auf (Deutschmann 2005: 63). Die institutionellen Anleger drängen dabei auf Marktkapitalisierung weiterer Unternehmen, darunter in erster Linie auch öffentliche Firmen in den Bereichen Energie, Telekommunikation und Transport, um diese als profitable Kapitalanlagemöglichkeiten zu erschließen.[5]

Dynamik finanzgetriebener Kapitalakkumulation

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Der seit den 1980er Jahren in Europa beobachtete Prozess der Übertragung wirtschaftlicher Kompetenzen auf die supranationale Ebene in Form einer marktliberalmonetaristischen Konstitutionalisierung trug zur Entstaatlichung und Entpolitisierung politischer Entscheidungen – tendenziell ohne demokratische Legitimierung – bei (Gill 1998). Aus strategischem Kalkül greifen nationale politische Eliten häufig auf die europäische Ebene zurück, um innenpolitisch umstrittene Projekte durchzusetzen. Die europäische Integration fungiert so als strategische Ebene der politischen Auseinandersetzung – mit einer auf wettbewerbsstaatliche Projekte ausgerichteten Selektivität -, um den Staatsumbau auch gegen nationale Widerstände voranzutreiben. Entlang dieser polit-ökonomischen Rahmenbedingungen verläuft die Reorganisation öffentlicher Dienstleistungen in der EU (Bieling/Deckwirth 2008).

III. Regulierung öffent­li­cher Dienst­leis­tungen in Europa im Wandel

Zwar wurde bereits in den Römischen Verträgen (1957) die Liberalisierung des Dienstleistungsmarktes vorgesehen, doch folgten in der Praxis keine tiefer gehenden Integrationsschritte (Bieling/Deckwirth 2008; Lippert 2005: 13). Erst mit dem Integrationsschub der 1980er Jahre begann ein dynamischer und umfassender Reorganisationsprozess.

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Seitdem ist die Reorganisation (Liberalisierung, Deregulierung, Kommerzialisierung und Privatisierung) öffentlicher Infrastruktur zu einem Brennpunkt der Auseinandersetzung um ein europäisches Gesellschaftsmodell geworden (Bieling/Deckwirth 2008). Unter den oben skizzierten staatstheoretischen und polit-ökonomischen Rahmenbedingungen wurden nun auch verstärkt öffentliche Infrastrukturdienstleistungen auf die europäische Liberalisierungs-Agenda gesetzt. Dies äußerte sich in der Umwandlung von öffentlichen Infrastruktursektoren in große Wirtschaftsbereiche, so dass einerseits die Beziehungen zwischen öffentlich und privat redefiniert und andererseits Märkte und Unternehmen neu konfiguriert wurden (Lippert 2005: 15). Konkret wurden mit Berufung auf Art. 86 EGV öffentliche Monopolunternehmen dem Wettbewerb ausgesetzt sowie staatliche Beihilfen und wettbewerbsbehindernde Maßnahmen untersagt.

„Die Folge für die öffentlichen Unternehmen ist, dass ihre Finanzierungsmöglichkeiten eingeschränkt werden und sich dadurch der Druck zu (Teil-)Privatisierung und Ausgliederung von ‚unrentablen‘ Unternehmen erhöht.“ (Deckwirth 2008: 110)

Die Liberalisierung der Telekommunikation nahm diesbezüglich eine Vorbildfunktion ein. Der europäische Arbeitgeberverband UNICE, die EU-Kommission und der EuGH drängten Ende der 1980er Jahre auf die Liberalisierung des Sektors, die schließlich 1998 vollendet wurde. Die nahezu durchweg positive Beurteilung der Ergebnisse – Wachstum des Telekommunikationssektors, aber vor allem sinkende Preise sowie Innovationen bei Endgeräten und Mobilfunk – bestärkte die Kommission, weitere sektorale Liberalisierungen (Post, Bahn, Elektrizität, Gas) zu forcieren (Bieling/Deckwirth 2008). Salopp ausgedrückt: Die Liberalisierungspolitik wurde beim Bezahlen sinkender Telefonrechnungen hegemonial.

Übersicht über Liberalisierungs- und (De-)Regulierungs-Vorgaben der EG/EU

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Die oben angeführten Sektorrichtlinien sind der Kern der europäischen Liberalisierungs-Agenda. Parallel dazu entwickelte die EU in den 1990er ein konsistenteres Dienstleistungskonzept, das auf zwei Säulen beruht. Die erste Säule bezieht sich auf das Konzept von „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ (DAWI). Dabei werden zwar „marktbezogene Tätigkeiten, die im Interesse der Allgemeinheit erbracht und daher von den Mitgliedstaaten mit besonderen Allgemeinwohlverpflichtungen verbunden werden“ (Europäische Kommission 2001) von den Regelungen des Art. 86 EGV ausgenommen, doch wird diese Ausnahme letztlich wieder aufgehoben, sobald sie dem Interesse der Gemeinschaft entgegenläuft (Löwe 2003: 189). Da DAWI ebenso von privaten Firmen erbracht werden können, also für öffentliche Unternehmen keinerlei Sonderstellung besteht, gilt auch für die DAWI das Primat des Wettbewerbsrechts uneingeschränkt. Tatsächlich dient dieses Konzept nicht dem Schutz der öffentlichen Daseinsvorsorge; es stellt letztlich einen Beitrag zur Ökonomisierung und Integration öffentlicher Infrastrukturdienstleistungen in das Wettbewerbsregime der EU dar (Löwe 2003: 190f).[6]

Die zweite Säule bildet das Konzept der Universaldienste, dass 1996 in den Amsterdamer Vertrag aufgenommen wurde. Es garantiert ein „Mindestangebot an Diensten von bestimmter Qualität, dass allen Nutzern und Verbrauchern gemessen an den landesspezifischen Bedingungen zu einem erschwinglichen Preis zur Verfügung steht“ (Europäische Kommission 2001). Damit soll der Zugang zu qualitativ hochwertigen Dienstleistungen[7] während des Übergangs vom Monopolangebot zu vollem Wettbewerb sichergestellt werden. Die Regulierung öffentlicher Dienstleistungen nimmt im Wesentlichen zwei Formen an:

Wettbewerbsregulierung: vertikale Entflechtung von Monopolunternehmen
(„unbundling“), Regulierung des Netzzugangs für private Anbieter, Einführung von Regulierungsbehören

Aufgabenregulierung: flankierendes Korrektiv zur Wettbewerbsregulierung durch das Konzept des Universaldienstes

Es findet jedoch lediglich punktuell eine Modifizierung durch marktkorrigierende Maßnahmen statt (Bieling/Deckwirth 2008).

Im Rahmen der Lissabon-Strategie (2000) beauftragte der EU-Ministerrat die Kommission mit der Entwicklung einer Binnenmarkt-Strategie, die alle noch verbliebenen Schranken im Dienstleistungsverkehr beseitigen soll und den Bereich öffentlicher Infrastrukturdienstleistungen mit einschließt; die „Binnenmarkt-Strategie 2003-2006“ stellt eine weitere Verschiebung der Regulierung von der nationalen auf die europäische Ebene dar. Sie soll den Übergang zu einer dienstleistungsorientierten Wirtschaft in der EU unter Einschluss der netzgebundener Infrastrukturdienstleistungen fördern (Lippert 2005: 17f).

Regulative Tendenzen im Reorganisationsprozess öffentlicher Dienstleistungen

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IV. Zwischen Konver­genz­druck und nationalen Entwick­lungs­pfa­den: Konflikte und Wider­sprüche der nationalen Reorga­ni­sa­ti­ons­pro­zesse in der EU

Der Liberalisierungsprozess hat mittlerweile die Dynamik verloren, die ihn noch in den 1990er Jahren auszeichnete. Zum einen sind bereits weite Teile der öffentlichen Infrastruktur privatisiert, zum anderen behindern Widerstände den Prozess. Konflikte und Widerstände äußern sich dabei vor allem auf drei Ebenen: Auf der Ebene zwischen nationalen Regierungen und der EU kommt es zu Konflikten, die aus dem Spannungsverhältnis zwischen Konvergenztendenzen und nationalen Pfadabhängigkeiten sowie protektionistischen Interessen resultieren (Lippert 2005: 13). Ein Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung zwischen der spanischen Regierung und der EU-Kommission im Falle der Übernahmeschlacht um den spanischen Energiekonzern Endesa durch den ehemaligen deutschen Staatskonzern E.on (Seikel 2008: 87f). Dieses Spannungsverhältnis wird durch zunehmend präzisere und verbindlichere Vorgaben aus Brüssel zu Gunsten eines Prozesses struktureller Konvergenz der nationalen Reorganisationsprozesse verstärkt, der zwar die Unterschiede in der Regulierungsweise zwischen den Mitgliedstaaten tendenziell einebnet (Bieling et al. 2008a), aber auch Potenzial für weitere Konflikte birgt. Auf der Ebene der Infrastruktursektoren sind die Ergebnisse der Liberalisierung oftmals schlechter als erwartet, sieht man einmal vom Telekommunikationssektor ab. Der Wettbewerb hat sich sektoral nur allmählich gesteigert; öffentliche Monopolunternehmen wurden meist durch private Monopole oder Oligopole mit dominanter Marktstellung des vormals öffentlichen Unternehmens ersetzt. Trotz der beabsichtigten Einführung von Wettbewerb stiegen einige privatisierte europäische Staatsunternehmen (z.B. E.on, EDF, Telefónica) dank ihrer dominanten Marktstellung in ihren Heimatländern zu international agierenden Konzernen auf, die nun selbst aktiv auf eine weitergehende Marktöffnung in anderen Ländern drängen. Sie haben sich im Prozess der Reorganisation – unterstützt durch eine z. T. protektionistische Regulierung – äußerst erfolgreich transnationalisiert. Inzwischen konkurrieren privatisierte transnationale Konzerne aus Europa direkt mit Unternehmen aus entwickelten Industriestaaten, investieren in großem Umfang in Mittel- und Osteuropa und erreichen bedeutende Marktanteile in Afrika und Lateinamerika (Bieling et al. 2008a).

Zudem ist ein massiver Arbeitsplatzabbau bei sich verschlechternden Arbeitsbedingungen festzustellen (Atzmüller/Herrmann 2004: 52ff). Und schließlich lassen sich teilweise eine abnehmende Qualität und Versorgungssicherheit sowie steigende Preise verzeichnen. Somit gerät der Liberalisierungs-Prozess hinsichtlich seiner Output-Legitimität allmählich in eine Krise. Die Folge ist, dass in einigen Fällen Liberalisierungsschritte wieder rückgängig gemacht oder eingeschränkt wurden. So wurde das britische Schienennetz – ein paradigmatisches Beispiel besonders marktradikaler Privatisierung – im Jahre 2002 an eine privatrechtliche Non-Profit-Gesellschaft übertragen, die alle erwirtschafteten Überschüsse in das Streckennetz re-investieren muss. Zuvor war es zu schweren Unfällen auf Grund fahrlässiger Missachtung von Sicherheits- und Qualitätsstandards durch den privaten Betreiber in Verbindung mit einer schwachen Regulierung gekommen.

Eine ähnlich bemerkenswerte Re-Regulierung hat es im britischen Wassersektor gegeben. Nachdem die Preise nach der Privatisierung real um 46 Prozent gestiegen waren und in der Folge zahlungsunfähigen Haushalten die Versorgung gesperrt wurde, erhob die britische Regierung eine Steuer auf Privatisierungsgewinne, verbot die Sperrung der Wasserversorgung für Haushalte und führte eine Preisobergrenze ein. Die sinkenden Gewinnmargen hatten zum Ergebnis, dass sich private Unternehmen seit 2000 sukzessive aus dem Wassersektor zurückziehen und die Infrastruktur tendenziell in die Verantwortlichkeit der öffentlichen Hand zurückgeführt wurde (Drews 2008). Vergleichbare gegenläufige Tendenzen sind auch in Estland zu beobachten: Im Jahre 2006 wurde die estnische Bahn fünf Jahre nach ihrer Privatisierung renationalisiert (Heinrich 2008).

Die Konfliktlinien auf der Ebene der Zivilgesellschaften verliefen je nach Land, Sektor und Phase des Prozesses unterschiedlich. In Ländern mit einem korporatistisch orientierten Kapitalismusmodell (Schweden, Deutschland, Niederlande) verlief die Reorganisation insgesamt relativ konsensual, während es in einigen Ländern mit einem etatistischen Entwicklungsmodell (Frankreich, Spanien) zu z. T. heftigen gewerkschaftlichen Protesten kam (v. a. im Post- und Bahnsektor) (Bieling et al. 2008). Dies dürfte eine Hauptursache für den unterschiedlich weit fortgeschrittenen Liberalisierungsgrad vergleichbarer Sektoren in verschiedenen Mitgliedstaaten sein.

Mit der zuletzt beobachteten Entstehung einer europäischen Protestbewegung (Verfassungsvertrag, Bolkestein-Richtlinie) könnten Konflikte über die Zukunft öffentlicher Infrastrukturdienstleistungen künftig auch auf der Ebene einer europäischen Zivilgesellschaft ausgetragen werden. Erste Anzeichen für eine weitere Europäisierung der Proteste gegen die europäische Liberalisierungs-Agenda für öffentliche Dienstleistungen – im Sinne einer entstehenden transnationalen Zivilgesellschaft – existieren bereits: Der Dachverband der europäischen Gewerkschaften European Trade Union Confederation (ETUC) hat bislang für seine Petition für „hochwertige öffentliche Dienstleistungen für alle“ etwa 525.000 Unterschriften gesammelt, um eine europäische Gesetzesinitiative zum Schutz öffentlicher Dienstleistungen auf den Weg zu bringen (www.petitionpublicservice.eu/de). ETUC wird dabei von einer Kampagne der European Federation of Public Service Unions (EPSU) unterstützt (Marcon/Zola 2007).

Das vorläufige Ergebnis der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die europäische Liberalisierungs-Agenda ist die Durchsetzung eines Markt- und Wettbewerbsmodells; jedoch wird es weiterhin durch zahlreiche (Re-)Regulierungen staatlich gestützt (Bieling et al. 2008). Die Aufgabe des Staates hat sich also gewandelt; bei der Schaffung und Regulierung neuer Märkte spielt der Staat dennoch nach wie vor eine wichtige Rolle. Die Liberalisierungs-Agenda der EU lässt sich aber letztlich nur im Kontext einer entstehenden, fragmentierten Form einer europäischen Staatlichkeit verstehen.

[1] Der Begriff „Entstaatlichung“ trifft insofern zu, als das öffentliche Unternehmen in privaten Besitz übergehen bzw. durch die Ausdehnung des Wettbewerbsrechts einer politischen Steuerung entzogen werden. Auf der anderen Seite geht der Liberalisierungsprozess mit einer verhältnismäßig dichten staatlichen Re-Regulation auf der nationalen Ebene einher. Der Staat behält also nach wie vor eine wichtige Rolle bei Entstehung von Marktstrukturen und der Regulierung der Leistungserbringung.

[2] Die folgende Darstellung basiert auf den Resultaten eines vergleichenden Forschungsprojektes der Forschungsgruppe Europäische Integration (FEI) an der Philipps-Universität Marburg über die Reorganisation der öffentlichen Infrastruktur in der Europäischen Union. Dabei wurden die Liberalisierungsprozesse in den Bereichen Telekommunikation, Post, Bahn, Energie und Wasser in zehn Ländern – Großbritannien, Schweden, Frankreich, Niederlande, Deutschland, Estland, Ungarn, Slowenien, Spanien und Portugal – untersucht (vgl. Bieling et al. 2008).

[3] In Südeuropa haben Privatisierungen öffentlicher Unternehmen mehr als die Hälfte zur Marktkapitalisierung, also der an der Börse gehandelten Unternehmenswerte, beigetragen (Bieling 2003: 53).

[4] Die Bedeutung von Investmentfonds bei Privatisierungsprozessen scheint in letzter Zeit gestiegen zu sein. So spielten in der Vergangenheit Investitionen von Private Equity Fonds (PEF) zwar eine eher geringe Rolle bei Privatisierungen (Levanti 2007: 19), doch ist ihre Bedeutung zuletzt stark gestiegen. Im Jahr 2006 gingen 66% (27 Mrd. €) aller Privatisierungseinnahmen in Europa auf das Engagement von PEF zurück, die nunmehr die wichtigste Käufergruppe darstellen. Ihre steigende Investitionstätigkeit ermöglicht ihnen stärkere Einflußnahmemöglichkeiten auf die Corporate Governance privatisierter Firmen (Bortolotti 2007: 10). Laut Andrea Levanti (2007: 23), Executive Director von Stanley Morgan, werden PEF eine zunhemend wichtigere Rolle spielen: „We are these days witnessing the birth of Joint Ventures for instance in the sector of infrastructure funds, where the access to large infrastructures by the Governments is paired with the access to capital and to professional management by the PEFs. We believe there are many other opportunities in the healthcare, technology, transportation and security sectors […]“

[5] Da die Anlagen von vermögenden Schichten steigen, die durch hohe Renditeversprechen eingeworben werden, wird Druck erzeugt, immer neue Anlagemöglichkeiten zu finden (Deutschmann 2005: 65, 69). Deshalb lautet der Imperativ der Fondsmanager, neue Sphären für Kapitalanlagen zu erschließen. Die Dynamik wird weiter verstärkt.

[6] Der Europäische Rat von Lissabon 2000 gab den Anstoß zur Klärung der rechtlichen Stellung öffentlicher Dienstleistungen, die – unterstützt von kommunalen Interessenvertretern und Regierungsvertretern aus Belgien und Frankreich – in einer Rahmenrichtlinie für Dienstleistungen der Daseinsvorsorge münden sollte. Eine solche Rahmenrichtlinie, die tendenziell im Widerspruch zur auf Wettbewerbsfähigkeit ausgerichteten Lissabon-Strategie stünde, ist bis heute nicht entstanden (Deckwirth 2008: 108ff).

[7] Die Kriterien, die von Universaldiensten erfüllt werden sollen, sind Kontinuität in der Erbringung der Dienstleistung, Setzung von Qualitätsstandards (z.B. für die flächendeckende Versorgung), Erschwinglichkeit der Leistung sowie Nutzer- und Verbraucherschutz (Lippert 2005: 16f).

Literatur

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Bieling, Hans-Jürgen 2003: Die neue europäische Ökonomie, Transnationale Machtstrukturen und Regulationsformen; in: Beckmann, Martin et al. (Hg.): Euro-Kapitalismus und globale politische Ökonomie, Hamburg, S. 41-67.

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Bieling et al. 2008a: Die Transnationalisierung der europäischen Dienstleistungsinfrastruktur: nationale und sektorale Strukturmerkmale; in: Bieling, Hans-Jürgen et al. (Hg.): Liberalisierung und Privatisierung in Europa, Die Reorganisation der öffentlichen Infrastruktur in der Europäischen Union, Münster (im Erscheinen).

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Bieling, Hans-Jürgen/Deppe, Frank 2003: Die neue europäische Ökonomie und die Transformation von Staatlichkeit; in: Jachtenfuchs, Markus/Kohler-Koch, Beate (Hg.): Europäische Integration, 2. Auflage, Opladen, S. 513-539.

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Dörre, Klaus/Brinkmann, Ulrich 2005: Finanzmarkt-Kapitalismus: Triebkraft eines flexiblen Produktionsmodells?; in: Windolf, Paul (Hg.): Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 45, S. 85-116.

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