Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 182: Die Aufgabe des Staates

Remix der Eigen­tums­land­schaft

Die Privatisierungspolitik resultiert aus der Dynamik der Finanzmärkte,

aus: vorgänge Nr. 182, Heft 2/2008, S. 100-112

Soweit sie den zeitdiagnostischen Theoriebeständen der europäischen Linken verpflichtet war, ist die aktuelle Kapitalismusdebatte der letzten Jahre der Frage nach der Entwicklungstypik des gegenwärtigen Kapitalismus nachgegangen, um so die Besonderheit einer global gewordenen politischen Ordnung der Gegenwart („Empire“, „neuer Imperialismus“) zu erklären. Unter zahlreichen Vorschlägen stachen zwei hervor: ausgegangen wurde von einer Übergangssituation („Postfordismus“) oder es wurde der nun erstmals wirklich global gewordene („planetare“) Kapitalismus der Gegenwart als überwiegend neoliberal geprägt bestimmt[1]. Als spezifische Merkmale seiner politischen Ökonomie gelten häufig die Schlüsselrolle der Finanzmärkte und die „Akkumulation durch Enteignung“.

Im Ergebnis dieser neuen Kapitalismusdebatte ist mittlerweile ein ungefährer Konsens entstanden über eine, wenngleich zurückhaltende und in ihrer Bedeutung noch unscharf konturierte Charakterisierung des Gegenwartskapitalismus als neoliberal geprägtem Finanzmarktkapitalismus. Seit Mitte dieses Jahrzehnts sind weitere Konsensmomente hinzugekommen. Das betrifft zunächst die Rede von einer neuen Krisenhaftigkeit des gegenwärtigen Kapitalismus. Danach befinde sich der Neoliberalismus in einer sich ausweitenden Legitimationskrise. Als Indizien gelten die deutliche Ablehnung marktradikaler Hochwertbegriffe und -ideen, wahlpolitischen Verschiebungen zu einer breiten (Lateinamerika) oder minoritären (Europa) Linken, die Blockaden des politischen Systems oder das spürbare Wachsen politischer Passivität. Eine Grundlage dieser Zustimmungskrise wird in der sozialen Krise gesehen, die das neoliberale Projekt der Umverteilung und Durchsetzung sozialer und räumlicher Ungleichheiten mit sich gebracht habe[2]. Beide Momente mündeten in eine disperse, ungleichzeitige und ungleichgewichtige Funktionskrise einzelner Herrschaftsmechanismen des neoliberalen Kapitalismus ein – etwa der Einrichtungen des „imperialen Multilateralismus“[3] wie G8, Weltbank, WTO, IWF.

Spielarten und Varianten des Kapita­lismus

Aus diesen neuen, zum Teil sehr spekulativen und recht weit reichenden Krisendiagnosen werden unterschiedliche Konsequenzen gezogen. Die Einen sehen sich angesichts solcher Krisenmomente und der unverkennbaren Aufwertung disziplinierender und militärischer Sicherungsinstrumentarien darin bestätigt, dass der in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts entstandene Neoliberalismus nur eine vorübergehende Bewegungsform des modernen Globalkapitalismus sei und das im letzten Jahrzehnt immer profiliertere Hervortreten der kriegerischen, „starken Politik“ als Indiz eines Niedergangs des neoliberalen Kapitalismustyps gewertet werden könne. Für sie ist die lange Zeit des liberalen Kapitalismus zu Ende – das neue Regiment aus global wirksamem Finanzkapital und internationalen Konzernen verlange nach autoritärer Ordnung der Politik und einem starken Staat, der die politische Formierung eines kommenden Rohstoff- und Ressourcenimperialismus einläute und dann auch selbst bestimmen werde. Wir erleben hier nach also den Übergang zu einem neuen geschichtlichen Abschnitt in der Zeit des Kapitalismus.

Die Anderen sehen demgegenüber weiterhin grundlegende Kontinuität, aber auch Bruch: einen Formwechsel des Neoliberalismus hin zum disziplinierenden, disziplinären oder disziplinargesellschaftlichen Neoliberalismus. Sie erblicken hierin ein Anzeichen für die Modifikationskraft und Entwicklungsfähigkeit des neoliberalen Kapitalismus, der so seine Zielsetzung (Ungleichheit) und Reproduktionsweise („finanzgetriebene Akkumulation durch Enteignung“) durchaus nachhaltig sichern könne. Hier werden Neoliberalität und Imperialität in der Figur eines neoliberalen Empire oder eines imperialen Neoliberalismus zusammengedacht. In beiden Fällen aber spielt die Denkfigur der „Rückkehr des starken Staates“ eine Schlüsselrolle, ihre Referenz freilich ist vor allem das politische Machtspiel um globale Macht und die Positionen in der politischen Ordnung der Welt und erst in zweiter Linie die Option, durch präventive Sicherheitsstaatlichkeit das krisenbedingte Schwinden eines innerstaatlichen Konsens zu konterkarieren.

Anders demgegenüber ein weiterer Zugang, der gleichsam „nach innen“ sieht und sich einig ist, dass es sinnvoll sei, von einer deutlichen Ausdifferenzierung der Kapitalismustypen und -varianten auch in den entwickelten Staaten des Nordens auszugehen. Dabei ging es nicht nur um die Abarbeitung an der jahrzehnte alten Frage nach dem Verhältnis von Nationalstaat und trans- oder supranationalen Regimen im europäischen Kontext, aus der eine Debatte über „den europäischen Kapitalismus“ oder „Eurokapitalismus“ als eigenem Typus eines kapitalistischen „Großraums“ (Peter Gowan) entstand, der als neue Grundlage einer hegemonialen oder imperialen Rolle Europas fungieren könne. Es ging auch um den so häufig ignorierten Bestand sehr unterschiedlicher „Kapitalismen in Europa“. Bei der Aufnahme dieses Bestandes spielten neben dem regulationstheoretischen Ansatz und der Wohlfahrtsstaatsdebatte die Untersuchung der „Varieties of Capitalism“ eine Schlüsselrolle, also eine bestimmte vergleichende Kapitalismusanalyse, die versuchte, anhand der Identifizierung unterschiedlicher Koordination / Konkurrenz – Beziehungen zwischen Kapital / Kapitalisten den Zentralgedanken des Neoliberalismus, dass es nur den einen Weg der freien Konkurrenz gebe, zu
konterkarieren.[4] Von diesen Debatten ausgehend unterscheiden etwa Bieling u.a. in ihrer aktuellen Analyse der öffentlichen Infrastruktur in der EU zwischen einem marktliberalen (England), korporatistischen (BRD), etatistischen (Frankreich) und sozialkorporatistischen (Schweden) Kapitalismusmodell und konstatieren einen deutlichen Trend zu einem „Mittelweg“ insbesondere auf Druck der EU.[5] Ähnlich diagnostiziert die „Dynamo-Studie“ von Steffen Lehndorff u.a.[6], dass es seit Anfang der 90er Jahre in den europäischen Staaten deutliche Konvergenzprozesse gebe, die darauf hinauslaufen, dass durch institutionelle / politische Wandlungen vorhandene (grundsätzlich neoliberale) Pfade aufrechterhalten werden konnten, es aber gleichsam zu einer gewissen „Entradikalisierung“ des Projekts Neoliberalismus gekommen sei. Beispiel dafür wäre die deutliche Einführung sozialer Momente in das marktliberale Modell in England (der liberale Pfad wurde fortgesetzt aber ohne weitere Verschärfung der Ungleichheit) oder die Induzierung liberaler Momente in das schwedische Sozialmodell (ohne mit der Gleichheitspräferenz definitiv zu brechen). Es liegt nahe, diesen Wandlungsprozess als Stabilisierung des neoliberalen Entwicklungspfades in Europa durch Modifizierung zu verstehen, wir es gegenwärtig also mit Trends in Richtung auf einen gleichsam zentristischen Neoliberalismus zu tun haben.

Eigen­tums­land­schaften

Bei der Etablierung dieses modernen Kapitalismustyps und seiner aktuellen Veränderung spielt die Revolutionierung der Eigentumslandschaft eine außerordentliche Rolle. Die Eigentumsfrage ist nach Europa zurückgekehrt und präsenter denn je. Sicher: Eigentum ist immer in Bewegung, ständig entsteht es, wird zerstört und neu gemacht – zu seiner wirklichkeitsgerechten Beschreibung benötigte es eigentlich ein Verb („to property“). Jeder bewegt sich in einer Welt der mixed property und muss sich in den Wandlungen der vielfältigen Eigentumslandschaften und ihrer Verhältnisse zurechtfinden. Rousseau spannte deshalb Eigentum und Ungleichheit in seiner „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ von 1775 aufs engste zusammen. Doch der marktradikale Kapitalismus hat wie seit Jahrzehnten nicht diese Bewegung des Eigentums angetrieben, beschleunigt und entgrenzt. Dieser neuartige Zustand ist so gründlich in den Alltagsverstand eingedrungen, dass der Unterschied zur fordistischen Zeit auch noch der 60er Jahre kaum noch gewärtig ist. Rossana Rossanda erinnert in ihrer jüngst veröffentlichten Biografie daran: „In Italien glühte es, wie die Explosion der sechziger Jahre zeigen sollte (…). Zum einen ging es um das Privateigentum, aber in dieser Frage gab es, auch wenn es seltsam klingen mag, keine scharfen Auseinandersetzungen: Damals war man in den europäischen Demokratien allgemein der Ansicht, dass strategische Sektoren und solche, die den Charakter eines Gemeinguts haben, verstaatlicht werden sollten. In Italien gab es bereits einen umfangreichen staatlichen Sektor, in dem nur Energie- und Transportunternehmen fehlten (…) bis in die siebziger Jahre gab es niemanden, der sich dem Staatsmonopol widersetzte. (…) Als schließlich 1992 der Tangentopoli-Skandal ausbrach, war sowohl die Rechte als auch die Linke soweit, das Kind mit dem Bade auszuschütten, denn nun schworen alle darauf, dass das Privateigentum wegen seiner Anständigkeit und Transparenz absolut überlegen sei.“[7] Der von Rossanda geschilderte große Meinungswandel in Sachen Eigentum gilt nicht nur für Italien, sondern auch für Deutschland und andere Staaten Europas. Warum also hat sich diese Haltung so geändert?

Der andere Kapita­lismus

Die herrschenden und regierenden Klassen nicht nur in Europa waren damals irritiert und innovativ zugleich. Irritiert waren sie fast ein Jahrzehnt lang über den politischen Terraingewinn der Gewerkschaften, der Sozialdemokratie, der kommunistischen Linken und der left of the left, der neuen Linken. Irritiert waren sie darüber, dass unversehens die class wars auch für sie zuweilen verloren gingen. Irritiert endlich waren sie vor allem über die ersten größeren Wirtschaftskrisen und das sinkende Wachstum, so dass sich die Verteilungsverhältnisse deutlich zu ihren ungunsten veränderten. Darauf kündigten sie den alten sozialdemokratisch-liberalen Klassenkompromiss auf. Als alternatives Entwicklungsmodell setzte sich in der zweiten Hälfte der 70er Jahre durch, was später Neoliberalismus genannt wurde und bisher ungesehene Akkumulationsfelder und -räume des Kapitals mit sich brachte. Dieses Modell führte schließlich sogar zum Umbau des zentralen Treibriemens des Gegenwartskapitalismus und seiner Machtarrangements.

Den Protagonisten des neuen Modells gelang es zwar nicht, den langen Trend des Sinkens der Wachstumsraten des Wirtschaftswachstums in Europa zu brechen und ähnlich wie im „goldenen Zeitalter“ des Fordismus größere Krisen zu vermeiden. Aber sie erreichten eine nunmehr seit über drei Jahrzehnten anhaltende ganz außerordentliche Umverteilung von Einkommen und Vermögen. Gleichgültig, in welches große kapitalistische Land man auch schaut – in den Zentren des Kapitalismus (USA, EU, Japan) sinkt der Anteil der Löhne am BSP zwischen 1975 und 2005 um 4, 10 und 15,6 Prozentpunkte und das oberste eine Prozent der Vermögensbesitzer und Einkommensbezieher verdoppelte oder verdreifachte in dieser Zeit seinen Anteil am Volksvermögen und -einkommen, eine dramatische, unerhörte, nur mit der Situation der goldene Gründerzeit des modernen, imperialen Kapitalismus seit den 1890er Jahren vergleichbare Steigerung. Dabei kam die Eigentumsfrage gleich mehrfach ins Spiel.

Zunächst traten in diesen drei Jahrzehnten zwei riesige kapitalisierbare Felder ins Blickfeld: das staatliche (und genossenschaftliche) Eigentum und solche Güter, die noch gar kein Bestandteil erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit waren. Im letzteren Fall handelte es sich um nützliche Güter der Natur und der immateriellen, geistigen Produktion. Diese Güter wurden in Wert gesetzt, ihr Warencharakter zum Beispiel durch Patente oder Copyright gesichert und diese so neu geschaffenen Werte sind heute zu einem geradezu endlos wachsenden Feld der Anlage von Erwerbsvermögen geworden, dessen spezielles Gewicht sich mittlerweile jeder exakten Abschätzung entzieht.

Daraus entstand das neue Problem, wie die Besitzer dieses Erwerbsvermögens wieder anlegen, denn eine solche signifikante Ansammlung von Gewinnen und Einkommen lässt sich ja nicht nur auf Golfplätzen umverteilen oder in Luxushotels verleben. Das Geldvermögen wird daher nicht nur produktiv investiert oder in Luxuskonsum verbrannt, sondern als privates Finanzvermögen behandelt, dessen Größenordnung im letzten Vierteljahrhundert (1980-2006) von weltweit 12 Billionen $ auf 167 Billionen $, also das Vierzehnfache, angestiegen ist. Das (nominale) Sozialprodukt, also die Wert- und Mehrwertproduktion der Weltökonomie, stieg in diesem Vierteljahrhundert dagegen nur von 10 auf 48 Billionen Dollar, also um fast das Fünffache. Während 1980 die Höhe der international angelegten Vermögenstitel noch etwa der Hälfte des Weltsozialprodukts entsprach, beläuft sich der Wert der weltweit angelegten privaten Vermögenstitel mittlerweile auf das Dreieinhalbfache dessen, was auf der Welt wertmäßig im Jahr produziert wird. Auf der anderen Seite nun blieb in dieser neoliberalen Zeit das Wertvolumen der öffentlichen Bestände und Staatshaushalte aufgrund relativ sinkender Steuereinnahmen weit zurück, die auf das geringere Wirtschaftswachstum, die Entscheidung für eine Politik der hohen, die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung begrenzenden Arbeitslosigkeit, die Entlastung hoher Vermögen und Einkommensklassen und die massive Steuerkonkurrenz der Staaten untereinander zurückzuführen sind. Um diese Einnahmeausfälle auszugleichen oder weil der Staat schon nicht mehr den Unterhalt seiner Vermögenswerte sichern kann, verkauft er sie an Private. Die neuen Geldeigentümer suchten nach Anlagemöglichkeiten, die Staaten stellten sie bereit und bevorteilen diese gleich dreifach: sie befördern durch ihre Steuerpolitik das Wachstum des privaten Geldvermögens, verkaufen ihnen dann noch für einen Bruchteil dieses Geldes die eigenen Vermögenswerte und sichern im Anschluss dann oft genug noch mit hohem Mitteleinsatz (Infrastruktursicherung, Bereitstellung von Zulieferersystemen, rechtliche oder ggf. militärische Absicherung) deren gewinnträchtige private Verwertung.[8]

Damit ändern sich auch Arbeitsmodus und Machtgefüge des Kapitalismus. Während im Industriekapitalismus der fordistischen Zeit bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts der Unternehmer oder Manager die Zentralfigur war, welche für die zahlreichen Produktions- und Investitionsmöglichkeiten knappe Finanzmittel zu besorgen hatte, ist die Situation heute genau umgekehrt: die Finanzmittel und Finanzierungsmöglichkeiten sind reichlich vorhanden, es fehlen jedoch vergleichbare Anwendungs- und Verwertungsmöglichkeiten.

Deswegen ist der Finanzinvestor die zentrale Person oder Institution des gegenwärtigen Kapitalismus geworden. Er sammelt Finanzvermögen ein und legt es im Auftrag der Geldbesitzer in große Versicherungen, Pensions- und Investmentfonds an. Finanzinvestoren sind private Unternehmen (Private Equity, Hedge Fonds), die um das Vermögen der Geldbesitzer konkurrieren, weshalb sie diesen schnelle und hohe Renditen versprechen. Für sie sind private Unternehmen eine Veranstaltung von Eigentümern für Eigentümer und sonst nichts. Während somit zunächst eine nicht unwesentliche Quelle der Bildung dieses großvolumigen Finanzvermögens die private Aneignung, die Privatisierung öffentlichen Reichtums und globaler oder lokaler öffentlicher Güter war, geht es nun darum, dass der gegenwärtige Kapitalismus sinnvoller Weise finanzmarktgetriebener Kapitalismus genannt werden kann, weil durch diese Privatisierung öffentlichen Reichtums und den Prozess der weiträumigen Inwertsetzung ständig neu im Überfluss vorhandene Finanzmittel angelegt und verwertet werden können. Der Kapitalismus ist also anders geworden: das Verhältnis zwischen produktivem Erwerbsvermögen und Geldvermögen hat sich ebenso geändert wie das Verhältnis von produzierendem Unternehmer und Finanzanleger. In einem finanzmarktgetriebenen Kapitalismus gibt es eine neuartige Dynamik, noch vorhandene öffentliche oder noch gar nicht in Wert gesetzte Erwerbsmöglichkeiten möglichst schrankenlos zu nutzen. Zu den Quellen des neuen Finanzreichtums gehörte in den späten 60ern und dann seit den 70ern die Privatisierung von Betrieben aus klassischen Industriebranchen oder der Energieversorgung. Die neue, zunehmend finanzmarktgetriebene Dynamik aber kam seit den 80er Jahren aus der Privatisierung ganz anderer Gebiete, der Telekommunikation und Medien, des Wohnungsbaus, von Wasserbetrieben, des Verkehrs – also Straßen, Bahn, Flughäfen – und heutzutage nun aus der Inwertsetzung und Privatisierung vor allem der Bildung, Forschung, Kultur (immateriellen Produktion) und des Gesundheitswesens. Sie ist getrieben vom permanenten Druck der Finanzmärkte. Bei den letztenannten Bereichen geht dabei nicht nur gleichsam um das Übersickern des Ökonomischen in andere Sphären der Gesellschaft, sondern darum, dass dort eine eigene, spezifische Form von Marktrationalität entsteht und sie das Funktionieren der Welt der Ökonomie nicht einfach funktional erleichtern, sondern sich selbst nach Marktkriterien konstituieren und reproduzieren und Bürger als ökonomische Subjekte konfigurieren. Die Gesellschaft der Bildung etwa, so der Gedanke, wird selbst ein Element und eine Form des ökonomischen Raums. So ist die EU heute immer noch ein Kontinent der öffentlich finanzierten, organisierten und kontrollierten Bildung – doch sie wird immer enger an Märkte angeschlossen, funktioniert nach gewerblichen Maßstäben und Zielsetzungen und verwandelt das Recht und den Zugang zur Bildung in eine Frage der Kaufkraft[9].

Endlich gehört zu diesem Bild des Aufstiegs, Umbaus und Funktionswandels der Finanzmärkte nicht zuletzt, dass sich vor allem in den 80er und 90er Jahren die Eigentümerstruktur im europäischen Bankwesen mit hoher Geschwindigkeit und grundlegend änderte. In Italien, Frankreich, Griechenland oder Deutschland gab es einen großen Anteil öffentlicher Banken, der mit Ausnahme Deutschlands (Sparkassensektor) mittlerweile faktisch beseitigt wurde. Die Banken in der erweiterten EU sind heute weit überwiegend private Banken, die Unternehmenskonzentration ist extrem und der Anteil der ausländischen Banken in den neuen EU-Ländern liegt fast ausnahmslos zwischen 70 Prozent und 100 Prozent.[10]

Priva­ti­sie­rung

Weltweit wurden in der langen Privatisierungswelle der bisherigen neoliberalen Zeit allein zwischen 1977 und 2004[11] mehr als 4000 Privatisierungen realisiert, die Erlöse von 1,35 Bio. US-Dollar erbrachten. Jede dritte Privatisierung und 48 Prozent der Erlöse wurden dabei in Europa realisiert. Global sind die Erlöse aus der Privatisierung öffentlichen Eigentums seit Mitte der 70er Jahre kontinuierlich bis Mitte 1996/8 angestiegen, um dann nach einigen Jahren des Rückgangs seit 2003 erneut auf nunmehr 144,4 Mrd. $ im Jahr 2007 anzuwachsen. Für die Dynamik der letzten Jahre ist in erster Linie die Privatisierung von Staatseigentum in China verantwortlich. 1978 gab es in China kein privates Unternehmen, 28 Jahre später (Ende 2006) waren dort in 4,86 Millionen Privatunternehmen über eine halbe Milliarde Menschen beschäftigt; der Anteil der Privatwirtschaft an Chinas Bruttoinlandsprodukt liegt bei 65 Prozent und in den Städten arbeiten über drei von vier Erwerbstätigen im privaten Sektor. Erstmals realisierte 2007 mit China ein Land aus dem Verkauf von Anteilen staatlicher Unternehmen mit knapp 42 Mrd. $ mehr als alle Länder der EU zusammen.[12]

Rund ein Drittel der direkten Veräußerungen öffentlicher Vermögensbestände geschah 2006 jedoch immer noch in Europa. Dass Europa lange Zeit das globale Zentrum der Privatisierung war hängt mit der Privatisierung in England zusammen, wo durch die Thatcher-Politik der Sektor der staatlichen Unternehmen von 10 Prozent des Bruttosozialprodukts auf Null absank. Mit der Privatisierung von British Petroleum (BP) setzte dort dieser Prozess 1977 ein. Mitte der 80er breitete sich die Privatisierungspolitik in Europa aus. 1985 folgte Italien, dann 1986 Frankreich, 1989 endlich Portugal, Spanien, Holland und Schweden. 1998 kam es zur Privatisierung nationaler Champions und strategischer Unternehmen wie ENI (Italien), Swisscom (Schweiz), ENDESA (Spanien) und France Telekom (Frankreich). „Die Privatisierungswelle in Europa während der 1990er Jahre repräsentiert definitiv einen der größten Eigentumswechsel in der Geschichte der Unternehmen.“[13]

2002-2002 stagnierte der Prozess und begann dann erneut 2003 und 2004 mit Schwerpunkten im Telekommunikationsbereich, dem Finanzsektor und der Erdöl- bzw. Erdgasindustrie. Von den Privatisierungen in Westeuropa der Jahre 1977 bis 2002 entfielen 183 mit einem Erlös von 145,531 Mrd. US Dollar auf England, an zweiter Stelle folgte Italien (103 Fälle mit 96,4 Mrd. $) und bereits an dritter Stelle die BRD mit 150 Fällen und 73,3 Mrd. $ Erlös. Es folgten sodann Frankreich (59,8 Mrd.) und Spanien (46,6 Mrd.). Die Verstaatlichungen in Zentral- und Osteuropa und in Russland betrafen 28 Prozent der Fälle, repräsentierten aber nur 6 Prozent der Einnahmen. Nach Europa kam Asien und Latein Amerika. Betrachtet man die Branchen, so setzte die Privatisierungspolitik typischerweise in der Fertigungs- und Finanzindustrie ein und ergriff dann die Telekommunikation, Energie, das Transportwesen, Wasserwerke etc. Auf diese strategischen Sektoren entfielen in Europa 68 Prozent der Erlöse und etwa 38 Prozent der Transaktionen. Nur in Ländern wie England und Spanien sind diese strategischen Sektoren vollständig privatisiert wurden – in den anderen Ländern gibt es hier noch beträchtliche staatliche Unternehmensanteile[14].

In der Bundesrepublik hat die Politik der Privatisierung und Entstaatlichung vor allem in den 80er Jahren unter der Regierung Kohl begonnen. Während in den 70er Jahren die Anzahl der Bundesbeteiligungen sogar noch deutlich ausgebaut worden war, wurden dann seit den frühen 80ern bis 2005 174 größere Privatisierungen durchgeführt. Das neoliberal geprägte Zeitalter begann 1986 mit der Fortsetzung der Privatisierung von VW, VEBA und der Deutschen Lufthansa. Dann setzte sukzessiv die Privatisierung der Post ein. Nach dem Zusammenbruch der DDR wurden durch die Treuhandanstalt rund 8000 Staatsunternehmen privatisiert – die größte Privatisierung in der deutschen Geschichte. 1994 erfolgte der Teilverkauf der Bankgesellschaft Berlin und der LAUBAG. 1998 gab es Ganz- oder Teilprivatisierungen der Autobahn Tank & Rast AG, der Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH (Teilprivatisierung) und der Saarbergwerke AG sowie der Deutschen Genossenschaftsbank und der Lübecker Hafengesellschaft.
1999 und 2000 schlugen weitere Teilprivatisierungen der Deutschen Bank, der Deutschen Post und der Verkauf der Berliner Wasserbetriebe zu Buche, ebenso der Flughafen Frankfurt, die Bundesdruckerei u. a. m. – das allein brachte rund 20 Mrd. €. Im folgenden Jahr begannen dann in weitaus größerem Maßstab als zuvor die Verkäufe des staatlichen, kommunalen oder genossenschaftlichen Wohnungsbestandes. Ingesamt veräußerten zwischen 1986 und 2003 der Bund und die Länder Vermögen in Höhe von 40 Mrd. €. Die Kommunen, deren klassischer Stadtwerkesektor 2006 ca. 71 Mrd. € umsetzte, verkauften allein 2005 für 5,7 Mrd. € Vermögensbestände und 61 000 kommunale Arbeitsplätze wanderten in die Privatwirtschaft ab. Das Gesamtvolumen der Verkäufe kommunalen Eigentums ist nicht bekannt. Ausweislich ihrer Beteiligungsberichte verfügen die Bundesländer über ca. 760 direkte Beteiligungen vor allem im Bank- und Verkehrswesen, im Kulturbereich sowie im Grundstückswesen; in einen Gesamtvermögensbestand lässt sich dies gegenwärtig noch nicht kumulieren und ebenso ist völlig unklar, in welchem Umfang Vermögensanteile in den letzten Jahrzehnten privatisiert wurden.[15] Ähnlich wie in vielen anderen Staaten Europas konzentrierten sich die Verkäufe öffentlichen Eigentums zunächst auf erwerbswirtschaftliche Unternehmen im Staatsbesitz und erstreckten sich sodann auf öffentliche Infrastrukturen und dann endlich hoheitliche Dienste und soziale Sicherungssysteme.

Zwischen 1977 und 2005 gab es in Europa (Europa der 15) insgesamt 1177 Privatisierungen, die 708 Mrd. $ erbrachten (etwa der Hälfte der global erzielten Privatisierungserlöse). Während sich in Deutschland im Zeitraum 1977-1992 Privatisierungserlöse in Höhe von 6,59 Mrd. $ ansammelten, waren es in der Folgezeit bis 2002 71,43 Mrd. $. Gemeinsam mit Frankreich stand die BRD im Jahr 2006 an der Spitze der Top- List der europäischen Privatisierung; in beiden Ländern wurden aus Vermögensveräußerungen öffentlichen Eigentums knapp 9 Mrd. € eingenommen. 2007 wurden in der Bundesrepublik drei der fünf größten Privatisierungen in Europa vollzogen, die Erlöse lagen aber insgesamt bei nur 6,7 Mrd. €, im laufenden Jahr sollen es wieder ca. 9 Md € sein. Darin spiegelt sich auch wieder, dass immer weniger „klassische“ Vermögensbestände veräußert werden können. Es gibt kein schnelles Tafelsilber der Größenordnung Post und Bahn mehr – das gilt auch für Europa, wie der Privatization Barometer 2007 vermerkte: hier gebe „es nur noch wenige unberührte Industrien, die verkauft werden könnten.“ Wenn man kein Tafelsilber mehr hat, muss man an das Geschirr gehen – zum Beispiel Stadtwerke. Seit langem geht es in der Privatisierungspolitik des Bundes um die Sektoren Verkehr (Bahn, Straßensystem, Flughäfen), Post und immaterielle Güter (z.B. Frequenzen) sowie Bereiche der Hoheitsverwaltung (Gefängnisse, Militär, klassische Funktionen der Leistungsverwaltung). Hinzu kommen das Bildungs- und Forschungssystem, in dem traditionell gerade der Bereich der Grundlagenforschung öffentlich organisiert und zum Teil in Bundesbesitz ist, das Wohnungs- und Gesundheitswesen, das Sozialversicherungswesen sowie zentrale Netze (Straße, Wasser, Flughäfen) und endlich als potentiell wesentlichster Bereich die Umwelt[16].

Priva­ti­sie­rung & Politik

Die praktische Politik der Privatisierung ist in erster Linie instrumenteller Natur und hat ihre Bedeutung als Bestandteil übergeordneter verteilungs-, wirtschafts-, ordnungs- und ideologiepolitischer Strategien. Sie bestimmen die Bereiche, Intensität und Formen der Privatisierungspolitik. Dabei zeigt sich, dass über Jahrzehnte hinweg es der seit den 70er Jahren in den großen kapitalistischen Industriestaaten aufsteigenden marktradikalen Strömung trotz beträchtlichen sozialen Widerstands und politischer Opposition weitgehend gelang, diese Strategien durchaus kohärent miteinander zu verbinden, also vor allem verteilungs- und wirtschaftspolitische Strategien mit einer übergeordneten ordnungspolitischen Orientierung und entsprechenden Zielgrößen zu verknüpfen und dabei eine für ihre Realisierung wirksame kulturelle und ideologiepolitische Mobilisierung in Gang zu setzen, die tiefe Wurzeln in der Alltagskultur schlagen konnte.

So zeigt zwar der Umfang der Veräußerung öffentlichen Eigentums, dass unter verteilungspolitischem Aspekt für das skizzierte weltweite Wachstum des privaten Finanzvermögens im letzten Vierteljahrhundert die Privatisierung staatlicher Unternehmen ein wichtiger, aber eindeutig kein ausschlaggebender Faktor war. Demgegenüber jedoch sind die in diesem Jahrzehnt sich massiv ausbreitenden Prozesse der Inwertsetzung vormals öffentlicher Güter und Dienste der Daseinsvorsorge (Gesundheit, Bildung, Versorgungssysteme) wie auch globaler öffentlicher Güter (Wasser, Boden, biologische Ressourcen) für das Wachstum des privaten Finanzvermögens und die veränderte Rolle der Finanzmärkte von weitaus größerer Bedeutung. In den letzten zwei Jahrzehnten hat allein die weltweite Privatisierung der öffentlichen Sozialversicherungssysteme zu einer ungeheuren Expansion kapitalfinanzierter privater Versicherungsfonds geführt, die 2006 einen Wert von 22,6 Bio. $ hatten und auf den Finanzmärkten als institutionelle Investoren operieren, welche dann wieder ständig Druck auf erneute Privatisierungen ausüben. Bilanziert man die Praxis der Privatisierungen entsprechend der gängigen Unterscheidung zwischen formeller, funktioneller und materieller Privatisierung dann zeigt sich ebenso, dass der Staat im speziellen Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge häufig noch eine Gewährleistung der Aufgabenerfüllung behält („Aufgabenregulierung“, „Dienstleistungsgewährung“), d.h. die Aufgabenerfüllung wird Privaten übertragen, aber staatlich kontrolliert, der Vollzug der vormals öffentlichen Aufgabe wird allerdings fast immer kommerzialisiert. Im Wesentlichen aber konzentriert sich der Staatseingriff auf Wettbewerbsregulierung („Wettbewerbsstaat“), die in aller Regel kurzerhand auf die Förderung und Absicherung von Konzentrations- und Zentralisationsprozessen hinausläuft – in einem längeren Umbauprozess entstanden so in Deutschland und Frankreich aus der Privatisierung je vier global operierende private Konzerne, in Spanien zwei und in Holland einer. Die faktische wirtschafts- und ordnungspolitische Zielgröße der Alimentierung und Beförderung privater Monopol- und Machtbildungsprozesse ist hier (ungeachtet der anderslautenden politischen Rhetorik der Konkurrenzförderung oder Deregulierung) zweifelsfrei verwirklicht – und es handelt sich um Konzerne wie die Deutsche Post, die Deutsche Bahn, E.on, RWE oder Deutsche Telekom[17]. Dass auf der anderen Seite Private hoheitliche Aufgaben übernehmen und z.B. Verwaltungsakte gegenüber den Bürgern erlassen können oder gar einzelne Gruppen von Steuerzahlern mit oder gar selbst entscheiden, für welche Zwecke ihre Steuern verwandt werden, ist noch (!) die Ausnahme.

Auch in der Gestaltung der Wirtschaftspolitik spielen Politiken der Privatisierung eine beträchtliche Rolle. Es gelang in Deutschland seit den 90er Jahren, das Produktionsmodell zu modernisieren (Übergang zum Finanzmarktkapitalismus, Privatisierungen, Kommerzialisierung öffentlicher Unternehmen, Internationalisierung der Wertschöpfungsketten, Privatisierung der Versorgungsunternehmen und Deregulierung der Produktmärkte), doch mit der dramatischen Reduzierung der öffentlichen Investitionen[18] sind mittelfristig Strukturkrisen wahrscheinlich, die öffentliche Daseinsvorsorge unterliegt einer starken Privatisierung mit hohen Ungleichheitseffekten[19], die Arbeitsmarktreformen weiten den autoritären Armenfürsorgestaat aus (Reduzierung des öffentlichen Beschäftigungssektors) und die Finanzierungsbasis der Wohlfahrtsstaates wurde geschwächt. So gelang es zwar, wirtschaftliche Dynamik durch die Modernisierung der Exportmaschine („Verschlankung“ und starke Technisierung der verarbeitenden Industrie) und durch starke Arbeitskostenkonkurrenz[20] statt durch breite Qualifikation der gesellschaftlichen Arbeitskraft wiederzugewinnen. Bezahlt werden musste aber der Preis eines Umfelds binnenwirtschaftlicher Schwäche durch Kaufkraftschwächung und stark ausgeweitete soziale Ungleichheit, die für das alte Modell des „Rheinischen Kapitalismus“ eben untypisch war[21]. Der gegenwärtige Exportboom[22] und die erneute Positionierung der Bundesrepublik Deutschland als „Exportweltmeister“ erfolgte massiv durch ein Abhängen der privaten Dienstleistungsindustrie, so dass sich das Gefahrenbild einer Ökonomie zeigt, die faktisch in einen international schlagkräftigen Sektor und einen zurückbleibenden Sektor aufgespalten ist, wir es also mit einem modernisierten, produktiven Kern (Exportmaschine) und geschwächten oder demontierten anderen Beschäftigungssegmenten zu tun haben. Vor allem aber ist die Politik des Abbaus sozialstaatlicher Elemente zugunsten der Ausweitung marktradikaler Orientierungen weiterhin hegemonial (s. insbesondere die Steuer- und Tarifpolitik, die elitäre Bildungs- und Hochschulpolitik, der Kampf gegen den Mindestlohn, die Umverteilungseffekte der Politik der Privatisierung (Bahn, Wohnungen, Gesundheit, Renten), das Andauern des Tiefstandes der öffentlichen Investitionen, der Sparpolitik der Haushalte). Gegenläufige Politikansätze (Familien- und Kinderpolitik etwa, auch in der Entwicklungspolitik) sind noch schwach und insgesamt von nicht großem Gewicht. Insofern hat sich die BRD in den letzten zwei Jahrzehnten (zumal aufgrund ihres schieren ökonomischen Gewichts) immer stärker in einen Protagonisten des Marktradikalismus verwandelt, ein Vorgang, der aufgrund des Plateaus von Sozialstaatlichkeit und Korporatismus, von dem aus er sich entwickelte, lange Zeit so nicht sichtbar war.[23] Der zentrale Gewichtszuwachs der Finanzmärkte, als deren Schlüsselakteure mittlerweile private Banken und Investoren operieren und das insgesamt nur wenig verlangsamte crowding out des Öffentlichen bedeutet daher, dass die Schwächung und Entdemokratisierung des Politischen anhält[24].

Der soziale Staat und das Öffentliche

Eine deutlich alternative und nicht bloß zustimmungserheischende Politik würde durch eine veränderte und ausgeweitete Lohn-, Renten- und Qualifikationspolitik auf die Entwicklung des Arbeitsvermögens zielen und durch einen massiven Ausbau der wertschöpfungssichernden wie sozialen Dienstleistungen die wachsende Asymmetrie zwischen Industrie- und Dienstleistungssektor sukzessiv verringern. Eine solche Fokussierung auf die Entwicklung des Arbeitsvermögens und des Dienstleistungssektors erforderte die Ausweitung der wirtschaftsstrategischen Rolle des öffentlichen Sektors, der öffentlichen Beschäftigung und der öffentlichen Investitionen, also die Entwicklung eines das humane Arbeitsvermögen bildenden und fördernden, somit sozialen Staates.

Damit kann zugleich der Trend vom versichernden Sozialstaat zum Fürsorge- und Armutsstaat aufgehalten werden, der für den radikalen Marktliberalismus am Ende der Transformation des alten Sozialstaates steht. Eine starke Politik, die etatistische Verkürzungen verhindert, müsste jedoch noch weiter ausgreifen und auf die Entwicklung eines politischen Projekts gehen, das normativ die Demokratisierung von Herrschaft und die Beförderung politischer, ökonomischer wie sozialer Gleichheit auszeichnet bzw. bezweckt. So würde eine Antwort auf die dominante Kultur und Praxis der Privatisierung formuliert, die auf Ungleichheit durch Ausschluss durch Berechtigung bzw. Befähigung zur Zugangskontrolle zielt und zwingend die Momente der Einschränkung der Nutzung von wie der Verfügung über Güter sowie der hierarchischen Interaktion beinhaltet. Ein solches politisches Projekt des Öffentlichen würde Verhältnisse (öffentliches Eigentum, öffentliche Beschäftigung [service public], politische Teilhabe an öffentlichen Entscheidungen), ihre erbrachten Gebrauchswerte (öffentliche Güter und öffentliche Dienste), verschiedene Operationsweisen im Medium der Öffentlichkeit (in Sonderheit Kommunikation, Kooperation, Publizität) und ihre Territorien oder Orte (öffentliche Räume) miteinander verbinden und so zugleich als Medium der Solidarität wirksam werden können, weil es den Weg zur Teilhabegerechtigkeit bei elementaren Lebensbedingungen eröffnen könnte. Es geht also um eine ganz andere Landschaft und deren eigene Kartographie.

[1] S. Joachim Bischoff: Zukunft des Finanzmarkt-Kapitalismus, Hamburg 2006; Dieter Plehwe u.a. (Hg.): Neoliberal Hegemony. A Global Critique, New York 2006; Ingo Schmidt (Hg.): Spielarten des Neoliberalismus, Hamburg 2008; Rainer Rilling: Risse im Empire, Berlin 2008.

[2] S. David Harvey: A Brief History of Neoliberalism, Oxford 2005, S.9ff, S.154ff.; Jörg Huffschmid: Neoliberalismus, Gewalt und Krieg – Zusammenhänge und Alternativen, Vortrag Juli 2003; Gérard Duménil, Dominique Lévy: Neoliberal Dynamics – Imperial Dynamics, Paper für die Tagung der International Studies Association, Montreal 17.3. 2004, http://www.ucm.es/info/eurotheo/materiales/hismat/dumenil_neoimp.pdf (überarb.).

[3] So Peter Wahl: Imperialer Multilateralismus in der Krise, in: AK u.a. (Hg.): G8: Die Deutung der Welt. Kritik, Protest, Widerstand, Frankfurt 2007 S. 26f.

[4] S. Paul Windolf (Hg.): Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, KZfSS Sonderheft 45 (2005); Michael Brie: Die Linke – was kann sie wollen? Politik unter den Bedingungen des Finanzmarkt-Kapitalismus, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 3/2006; David Harvey: The New Imperialism, Oxford 2003; Dieter Klein: Wohin es geht, wenn es so weiter geht, Berlin 2008.

[5] Hans-Jürgen Bieling, Christina Deckwirth, Stefan Schmalz: Die Reorganisation der öffentlichen Infrastruktur in der Europäischen Union, FEI-Studie Nr.25, Marburg 2007, S.357. Früher bereits unterschied Gosta Esping-Andersen (The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton 1990) zwischen kontinentalen, sozialdemokratischen und liberalen Wohlfahrtsstaatsregimen. Verbreitet auch die Rede vom angelsächsischen, nordischen, zentraleuropäischen und südlichem Kapitalismus.

[6] S. Dynamo [Dynamics of national employment models] (Hg.): Final Report Np.1: Synthesis Report, Duisburg-Essen 2007, S. 11-17. Hier wurden Produktions-, Beschäftigungs- und Wohlfahrtsregime in EU-Ländern untersucht.

[7] Rossana Rossanda: Die Tochter des 20. Jahrhunderts, Frankfurt 2007, S.293. Rossanda trat 1943 in die Kommunistische Partei Italiens ein und beteiligte sich am antifaschistischen Widerstandskampf. 1959 wurde sie in das ZK der Partito Communista Italiana gewählt und nachdem sie ein Jahrzehnt später aus der PCI ausgeschlossen worden war, gründete sie die spätere Tageszeitung il manifesto.

[8] S: Jörg Huffschmid: Macht- und Steuerungsverschiebungen hinter den Spekulationsblasen, in: Z 72 (2007) S. 8; ders.: The Impact of Finance on the European Social Models, Paper for the Transform conference 13./14.6.2008 Stockholm,Nach der aktuellen Untersuchung des McKinsey Global Institute entfielen von diesen Finanzanlagen in Höhe von 167 Billionen US-Dollar auf die USA 56 Bio. $ (= 34 %), die Eurozone 38 Bio.$ (23 %), England 10 Bio. $ (6 %) und Japan 20 Bio. $ (12 %), s. http://www.mckinsey.com/mgi/

[9] S. David A. McDonald, Greg Ruiters: Rethinking Privatization. In: Daniel Chavez (Hg.): Beyond the market. The future of public services, TNI Amsterdam 2006 S. 9f.

[10] Jörg Huffschmid: Finance – Privatisation – Regulation, Vortrag auf der EAPE-PRESOM-Konferenz „Privatization and Regulation“ in Delft am 22./23.3.2007, MS. S.2. Bundesregierung und Sachverständigenrat forderten am 17.6.2008 die Privatisierung der öffentlichen Landesbanken und damit die Beendigung der deutschen Sondersituation.

[11] Lt. Privatization Barometer lagen die Privatisierungserlöse 2005 bei über 130 Mrd $, 2006 bei 115,95 Mrd $ und 2007 bei 144,4 Mrd $, so dass sich die Gesamtbilanz auf 1,74 Billionen $ erhöht.

[12] Privatizationbarometer Report 2007 S.3. Die folgenden Angaben aus dem Privatizationbarometer, falls nicht anders ausgewiesen. Geschätzt wird, dass 2008 in China für fast 100 Mrd $ staatliche Fonds privatisieren wird.

[13] Bernardo Bortolotti, Valentina Milella: Privatization in Western Europe, Mailand 2006, S.24

[14] 2005 waren die Anteile von 123 an der Börse gehandelten Unternehmen, die im Besitz der 25 europäischen (Zentral-)Staaten waren, 295 Mrd. € wert (führend dabei Frankreich und Italien), s. Privatization Barometer Newsletter 4 (2006) S.6f.,

[15] S. Marian Krüger: Möglichkeiten der Demokratisierung des öffentlichen Eigentums. Bestandsaufnahme und Perspektiven am Beispiel der Kommunalwirtschaft, Studie Berlin 2007.

[16] Im Detail hierzu s. Rainer Rilling: Die Eigentumsfrage kehrt zurück. Eine Zwischenbilanz zur Politik der Privatisierung, RLS-Standpunkte 12/2007; Mario Candeias, Andrej Holm, Rainer Rilling (Hg.): Krise der Privatisierung – Rückkehr des Öffentlichen, Berlin 2008

[17] Demgegenüber geht es bei einer politischen Ökonomie des Gemeineigentums um Transparenz, Mitbestimmung, Effizienz, um betriebswirtschaftliche und Wohlfahrtsgewinne für das Gemeinwesen.

[18] Von 1991 bis 2003 um 20vH; der Anteil öffentlicher Investitionen am BIP fiel von 4,8vH. in 1970 bis 2004 auf 1,7vH. , eine der niedrigsten Quoten der EU und der Tiefstand in der Geschichte der BRD. Allein die kommunalen Investitionen, die rund 2/3 der öffentlichen Investitionen bestreiten, sind heute nur noch halb so groß wie 1992. Diese Investitionen, soweit sie der Sicherung der gesellschaftlichen Reproduktion bzw. der „allgemeinen Reproduktionsbedingungen des Kapitals“ (Marx) dienen, sind durch private Engagements nicht zu ersetzen, wie die New York Times am 6. Januar 2008 vermerkte: „Die (privaten)Spenden tragen hauptsächlich dazu bei, den nationalen Bestand an Krankenhäusern, Bibliotheken, Museen, Parks, Universitätsgebäuden, Theatern und Konzerthäusern zu vergrößern. Die öffentliche Infrastruktur dagegen – also Brücken, Straßen, Eisenbahnen, Wasserwerke, öffentliche Bildungseinrichtungen, Häfen, Abfallbeseitigung, Flughäfen, Energieversorgung, Tunnels, Dämme und Deiche – beruht überwiegend auf Steuergeldern.“ Zum folgenden siehe das erwähnte Dynamo-Projekt.

[19] 15vH. haben keinen schulischen oder beruflichen Abschluss, 1991 waren es noch 11vH.

[20] Der Dollar-Fall entspricht Lohnsteigerungen von 15 bis 20 Prozent in 2007, s. Blätter 3/2008 S.6.

[21] S. die neue Einkommensstudie des DIW (Der Spiegel 10/2008 S.39), wonach die Gruppe der mehr als 150 Prozent des mittleren Privathaushalteinkommens Verdienenden zwischen 2000 und 2006 von 18,8 Prozent auf 20,5 Prozent wuchs und jene der weniger als 70 Prozent des mittleren Einkommens Verdienenden von 18,9 Prozent auf 25,4 Prozent (!) angewachsen ist; die große Mittelgruppe schrumpfte entsprechend von 62,3 auf 54,1 Prozent.

[22] Die Exportquote, d.h. der Anteil der Exporte am Bruttosozialprodukt, liegt gegenwärtig bei rund 45 Prozent gegenüber 30 Prozent in der Vergangenheit, als Deutschland auch Exportweltmeister war.

[23] In einer Reihe von Indikatoren – Anteil staatlicher Unternehmen, Abbau genossenschaftlichen Eigentums, öffentliche Investitionen, Reallohnentwicklung, Bildungsausgaben und -indikatoren, Dynamik der Einkommens- und Vermögensungleichheit – steht die BRD schon jetzt oder absehbar in der EU-15 im „unteren“ Viertel.

[24] Werner Rügemer, „Heuschrecken“ im öffentlichen Raum, Bielefeld 2008 hat diese Entdemokratisierung am Beispiel des Public Private Partnership (PPP) detailliert skizziert.

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