Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 182: Die Aufgabe des Staates

Soziale Gerech­tig­keit und Arbeits­lo­sig­keit

Zu den normativen Grundlagen staatlicher Interventionen auf dem Arbeitsmarkt,

aus: vorgänge Nr.182, Heft Nr 2/2008, S. 34-44

I Gerech­tig­keit und Menschen­recht

Der Begriff der Gerechtigkeit hat eine lange Geschichte. Unterschiedliche Zeiten haben ein unterschiedliches Gerechtigkeitsverständnis. Verantwortlich für diese Unterschiede im Gerechtigkeitsverständnis ist der Wandel der kulturbedeutsamen normativ-begrifflichen Hintergrundüberzeugungen. Denn der Gerechtigkeitsbegriff kann nicht voraussetzungsfrei geklärt werden. Jeder Versuch, eine konsistente Gerechtigkeitstheorie zu entwickeln, steht in logisch-konzeptueller Abhängigkeit von überaus komplexen theoretischen und normativen Vorgaben, die die verborgene Grammatik des jeweils vorherrschenden Welt-, Selbst- und Gesellschaftsverständnisses prägen. Auf Grund dieser Abhängigkeit ist der Gerechtigkeitsbegriff semantisch sekundär und normativ derivativ; das normative Vokabular kultureller Selbstverständigung kann nicht mit dem Gerechtigkeitsprädikat beginnen, da es keine eigenständige moralische Bedeutung besitzt. Der Gerechtigkeitsbegriff kann nur in Hinblick auf grundlegendere normative Bestimmungen Bedeutung erhalten.

Die normative Grundlage, auf die das Gerechtigkeitsverständnis in der Moderne gestellt wird, ist die Menschenrechtsthese. Die Menschenrechtsthese besagt, dass Menschen als Menschen unveräußerliche und allgemein verbindliche, basale Rechte besitzen. Dass diese Rechte Menschen als Menschen zukommen besagt, dass sich die Rechtszuschreibung ausschließlich an dem Kriterium der Zugehörigkeit zur biologischen Gattung des homo sapiens orientiert. Und dass diese Rechte allgemein verbindlich sind, besagt, dass kulturelle Praktiken, gesellschaftliche Institutionen und politische Herrschaftsordnungen ihre Legitimität einbüßen, wenn sie diese Rechte verletzen. Diese Rechte transzendieren alle positiven gesetzesrechtlichen und verfassungsrechtlichen Normierungen. Sie bilden die Prinzipien, mit denen die Legitimität, die Richtigkeit, die Gerechtigkeit dieser Normen beurteilt werden kann.

Ihr Hauptprinzip ist nicht die Freiheit, wie oft gesagt wird, sondern die Gleichheit, denn die menschenrechtliche Freiheit ist nicht unabhängig von dem Gleichheitsprinzip bestimmbar. Würde das Freiheitsrecht definiert als Recht zu beliebigem Handeln, dann wäre es ein Recht auf alles. Da der Begriff des Rechts aber seinerseits bereits die Pluralität von Rechtspersonen impliziert, ist ein Recht auf alles offenkundig eine widersprüchliche Konstruktion. Würde das Freiheitsrecht hingegen verstanden als Freiheit zu allem, was andere nicht in ihrem Recht kränkt, dann hätte man eine tautologische Bestimmung. Angemessen kann das Freiheitsrecht nur verstanden werden als Recht, nur solchen Gesetzen zu gehorchen, die ich mit allen anderen einvernehmlich beschlossen haben könnte. Das Freiheitsrecht ist also semantisch ohne Rekurs auf den Begriff gleicher apriorischer Gesetzgebungskompetenz überhaupt nicht explizierbar. Die Grundaussage der Menschenrechtsthese besagt daher auch, dass das staatliche Regel- und Institutionensystem alle Menschen gleich behandeln und in gleicher Weise berücksichtigen muss. Und das heißt wiederum, dass bei der grundlegenden menschenrechtlichen Rechtszuschreibung Differenzen keinerlei kriterielle Bedeutung besitzen dürfen, weder die natürlichen, biologisch verursachten, noch die künstlichen, sozial verursachten. Oder anders und knapper formuliert: eine Politik mit Ungleichheitsfolgen steht unter Rechtfertigungszwang.

Diese Überlegungen machen auch deutlich, welche Beziehung zwischen dem Gerechtigkeitskonzept und der Menschenrechtsthese besteht. Gerechtigkeit ist einerseits institutionalisierter menschenrechtlicher Egalitarismus; Gerechtigkeit ist andererseits interpretierter menschenrechtlicher Egalitarismus. Die Institutionalisierungsbestimmung antwortet auf das Problem der Ohnmacht des Menschenrechts. Da die Zuschreibung eines Rechts nicht bereits selbst schon die Bedingungen seiner sichereren Wahrnehmung beinhaltet, bedarf es zusätzlicher Anstrengungen, um die Wirksamkeit des Rechts zu gewährleisten. Die Auslegungsbestimmung antwortet auf die Interpretationsbedürftigkeit des Menschenrechts. Menschenrechtsprinzipien sind abstrakt und unbestimmt. Ihre normative Orientierung weist ins Leere, wenn sie nicht durch Auslegungsdiskurse und gesetzesrechtliche Fortbestimmung situationsabhängig und problemadäquat konkretisiert werden. Diese Auslegungsbedürftigkeit nimmt mit wachsender gesellschaftlicher Komplexität und steigernder moralischer Sensibilität zu. Es gibt zweifellos einen klassischen Kernbereich menschenrechtlicher Orientierung, wo nahezu Evidenz herrscht und im Regelfall nicht diskutiert und nicht interpretiert werden muss. Es ist dies der Bereich, der durch die alte Naturrechtspflicht „Neminem laede/Verletze niemanden“ abgedeckt ist. Die diesem Pflichtbereich der Gewaltvermeidung zukommende Evidenz verdankt sich der Tatsache, dass menschenrechtskonformes Handeln hier durchwegs ein Unterlassen ist. Man weiß, was man zu unterlassen hat, um das Menschenrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu respektieren. Angesichts von Verletzungen und Verstümmelungen, von Mord und Vertreibung, von Folterkellern und Massengräbern bedarf es keiner subtilen Menschenrechtsexegese. Wenn jedoch dieser Bereich archetypischer Gewaltanwendung verlassen wird, verschwindet die Eindeutigkeit. Neue technologische Möglichkeiten haben Gefährdungspotentiale für Freiheit und Selbstbestimmung entstehen lassen, die nicht mehr umstandslos unter die tradierten Bedrohungsszenarien subsumiert werden können. Es bedarf daher konkretisierender und aktualisierender Menschenrechtsinterpretationen, um etwa die gesetzliche Regulierung der Weitergabe persönlicher Daten oder der Verwendung der Ergebnisse eines genetischen Screening bei Verbeamtungsvorgängen, Einstellungen und dem Abschluss von Versicherungsverträgen oder der Forschung an menschlichen Stammzellen mit dem Menschenrecht in Übereinstimmung zu bringen.

II. Das Problem der sozialen Gerech­tig­keit

Der Interpretationsbedarf nimmt jedoch noch beträchtlich zu, wenn wir den Bereich der Gewaltvermeidung verlassen und zu dem Bereich der Güterverteilung übergehen. Suum cuique tribue: so lautet die zweite klassische Naturrechtspflicht: Gib einem jeden das Seine, das also, was ihm gebührt und zusteht. Ursprünglich war dieser Gerechtigkeitsgrundsatz verdienstethisch begründet. Er forderte die Herrschenden auf, bei ihrer Verteilung von Macht, Posten und Ehren nicht opportunistisch zu verfahren und an ihre Machterhaltung zu denken, sondern sich an dem politisch-ethischen Verdienst zu orientieren und ausschließlich die Bürger mit Zuwendungen zu belohnen, die sich aufgrund ihrer sittlich-politischen Vorbildlichkeit als würdig erwiesen haben. Unter den Bedingungen des menschenrechtlichen Egalitarismus kann Verteilungsgerechtigkeit keine Verteilung kat‘ axian, keine Verteilung nach Verdienst und Würdigkeit sein, sondern muss notwendigerweise eine Form von Gleichverteilung sein.

Was aber kann damit gemeint sein? Was kann eine Anwendung des Gleichbehandlungsgebots auf den Bereich der Güterverteilung aussehen? Wie weit soll die Gerechtigkeitskorrektur der Verteilungsresultate des Marktes reichen? Nach welchen Kriterien soll bemessen werden, was das jedem zukommende Gleiche ist? Ist es ein Grundeinkommen? Ist es eine Grundversorgung? Ist es im Rahmen des Chancengleichheitsprinzips auszulegen? Was aber gehört zu den Chancen, deren allgemeine Zugänglichkeit zu sichern die Gerechtigkeit von der Politik verlangt? Die Erziehung? Die begabungsgerechte Ausbildung? Ein Arbeitsplatz? Vielleicht gar ein interessanter und qualifizierter, der Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz? Die Antwort auf diese Fragen ist nicht unmittelbar aus dem Konzept des menschenrechtlichen Egalitarismus ableitbar. Sie verlangt beträchtliche interpretatorische Anstrengungen, deren Ergebnisse immer kontrovers bleiben werden.

III. Sozialstaat – eine freiheits­recht­liche Begrün­dungs­skizze

Die neuzeitliche Geschichte der staatlichen Wirklichkeit und der politischen Philosophie ist gleichermaßen charakterisiert durch ein wachsendes Bewusstsein von der Wichtigkeit institutioneller Lebensvoraussetzungen. Der Anspruch an die konstitutionellen Rahmenbedingungen individueller Lebensplanungen ist dabei stetig gestiegen: vom Sicherheitsstaat über den Rechts- und Verfassungsstaat zum Sozialstaat. Hinter dieser Ausweitung steht die Einsicht, dass selbstbestimmte und eigenverantwortliche Lebensgestaltung, dass Verantwortungsübernahme und Freiheitsgenuss an materielle Voraussetzungen gebunden sind. Wenn die Menschen über keine materiellen Ressourcen verfügen können, dann rückt hinreichender Ressourcenbesitz in den Rang einer freiheitsermöglichenden Bedingung, dann wird hinreichender materieller Ressourcenbesitz zur Voraussetzung von Recht, personaler Würde und bürgerlicher Existenz, dann erweist es sich wie das Recht selbst als Grundgut, dann muss bürgerliche Solidarität für eine hinreichende materielle Versorgung einstehen.

Dieser Gedanke kann auch in der Sprache der Ethik formuliert werden. Menschen sind Hypoleptiker; sie müssen anknüpfen, sind in ihrem Leben wie in der Qualität ihrer Lebensführung von entgegenkommenden Voraussetzungen abhängig. An diesem anthropologischen Dependenzschicksal kommt auch der liberale Autonomieemphatiker nicht vorbei. Erst dann kann das selbsttätige Leben den aus Selbstbeanspruchung und Könnenserfahrung entspringenden Selbstgenuss bereitstellen, wenn sich das kontingente, gleichwohl identitätskonstitutive Ensemble der individuellen Anlagen und Talente, Fertigkeiten und Begabungen entfaltet und entwickelt hat. Und dazu bedarf es eines entwicklungsgünstigen Milieus, das diese Entwicklungschancen jedermann in hinreichendem quantitativem und qualitativem Maße zur Verfügung stellt. Und genau diese Selbsttätigkeitsvoraussetzungen, diese Autonomiechancen müssen aufgrund der grundlegenden menschenrechtlichen Gleichheit aller ins Ressort staatlicher Gestaltungspolitik fallen, können nicht der Verteilungsräson des Marktes ausgeliefert werden.

Ein Leben, das nur den Geleisen der Not und Mittellosigkeit folgt, findet ohne Eigenbeteiligung statt. Wenn wir die sozialen und ökonomischen Bedingungen des Kantischen Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben oder der Humboldtschen Pflicht zur selbsttätigen Lebensführung mit in den begrifflichen Kranz des Freiheitsrechts hineinnehmen, dann kann die sowohl rechtlich als auch rational gebotene Institutionalisierung nicht bei der Etablierung rechtsstaatlicher Verhältnisse Halt machen, da Markt und Eigentumsordnung immer nur eine selektive Garantie für eine Wahrnehmung dieses Selbstbestimmungsrechts und Selbsttätigkeitszwecks bieten. Wenn der Wert der rechtlichen und ethischen Freiheit im Zustand der Mittellosigkeit verschwindet, wird aus der Grammatik unserer ethisch-politischen Selbstverständigung das menschenrechtliche Herzstück herausgebrochen. Angesichts dieser operationalen Abhängigkeit des Freiheitsrechts von hinreichendem materiellen Güterbesitz muss eine freiheitsverpflichtete Gesellschaft ihre Bürger im Falle einer wie auch immer verursachten Erwerbsunfähigkeit auch mit einem entsprechenden Ersatzeinkommen ausstatten. Die menschenrechtliche Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit treibt aus sich selbst die Verpflichtung zur Sozialstaatlichkeit hervor.

IV. Chancen­ge­rech­tig­keit – schwache und starke Chancen­gleich­heit

Welchem Gerechtigkeitsverständnis soll aber nun diese sozialstaatliche Politik folgen? Aus dem bisher Dargelegten ist ersichtlich, dass nur voraussetzungsorientierte Gerechtigkeitsprinzipien akzeptabel sind, endzustandsorientierte Gerechtigkeitsprinzipien hingegen zu einer bürokratischen Wohlfahrtsdiktatur führen müssen, die ihren materialen Egalitarismus nur um den Preis der Zerstörung des Freiheitsrechts verwirklichen kann. Dies voraussetzungsorientierte Gerechtigkeitskonzept wird zumeist als Chancengerechtigkeit bezeichnet. Was aber heißt Chancengerechtigkeit? Es ist hilfreich, hier zwei Lesarten zu unterscheiden. Einmal kann Chancengerechtigkeit in schwacher Chancengleichheit begründet sein, dann kann Chancengerechtigkeit aber auch in einer starken Chancengleichheit begründet sein. Im letzten Fall spricht man in der politischen Philosophie auch von Ressourcengleichheit. Ich werde im Folgenden zeigen, warum das Prinzip der Ressourcengleichheit abzulehnen ist und die Gerechtigkeitspolitik des Sozialstaats sich an dem Prinzip der schwachen Chancengleichheit zu orientieren hat.

Menschen sind endlich, und das heißt: das Gelingen menschlichen Lebens ist abhängig von Voraussetzungen. Zu diesen Voraussetzungen zählen aber nicht nur die strukturellen und institutionellen Gegebenheiten unseres kulturellen und politischen Lebenszusammenhangs, zu ihnen zählen auch die Eigenschaften, die die Menschen an sich und in sich vorfinden. Diese sind teils genetisch formiert, teils Auswirkungen von sozialer Herkunft und Erziehung. Ersichtlich wird der Markt-, Sozial- und Lebenserfolg der Individuen wesentlich durch die Qualität dieser Ressourcenausstattung bestimmt. Diese aber ist höchst unterschiedlich. Der eine hat bei der Lotterie der Natur das große Los gezogen und ist bei der Verteilung der natürlichen Fähigkeiten mit Talent, Begabung und Durchsetzungskraft überreich ausgestattet worden, der andere hat hingegen nur eine Niete erwischt und muss sich sein ganzes Leben lang mit einer überaus ärmlichen Fähigkeitenausstattung abmühen. Und nicht nur das natürliche Schicksal verteilt die Startbedingungen ungleich; auch das Sozialschicksal ist zu den Menschen nicht fair. Der eine findet in seiner Familie die beste Ausgangssituation vor; einer behüteten Kindheit folgt eine erfolgreiche Karriere. Der andere ist zeitlebens von den Narben der sozialen Verwahrlosung gezeichnet und kommt keinen Schritt voran. Man wird aber nun nicht sagen können, dass der genetisch oder sozial Benachteiligte seine Benachteiligung verdient hätte; ebenso wenig, dass der genetisch oder sozial Bevorzugte seine Bevorzugung verdient hätte.

Wenn aber die Voraussetzungen der Arbeits- und Lebenskarriere unverdient sind, sind auch die Erträge, die auf dem Markt durch Einsatz dieser genetisch-sozialen Basisressourcen erwirtschaftet werden, unverdient und einer gerechtigkeitsethischen Korrektur zu unterwerfen. Sind Natur und Familie aber wirklich ein Gerechtigkeitsrisiko, auf das sozialstaatlich reagiert werden muss? Muss der Sozialstaat dafür sorgen, dass die, die – sei es von Natur aus, sei es auf Grund ihrer Familiensituation, sei es gar auf Grund einer konzertierten Aktion beider – bevorzugt sind und daher über bessere Voraussetzungen für ihren Weg ins Leben verfügen als andere, dazu gezwungen werden müssen, die weniger Schicksalsbegünstigten zu entschädigen?

Gegen diesen hypertrophen Rationalismus ist viel einzuwenden. Sozialstaatspolitik wird hier zu einer Politik des individuellen Schicksalsausgleichs, zu einer Schöpfungskorrektur. Das hat aber bedenkliche Konsequenzen. Dem Anwalt tiefer Chancengerechtigkeit muss jedes technische Mittel recht sein, die Zivilisation der Gleichheit voranzutreiben. Daher wird er zu einem Alliierten der Biopolitik werden müssen. Denn in dem Maße, in dem die Kapazitätslandkarte unserer Gene unter die Kontrolle einer manipulativen Technik gerät, in dem Maße mehren sich die Aussichten, die Herrschaft des genetischen Zufalls zu beenden, in dem Maße können Ausgleichsprogramme ins Auge gefasst werden, um den gerechtigkeitsprekären Unterschied zwischen den genetisch Vermögenden und den genetischen Habenichtsen zu egalisieren. Es ist ersichtlich, dass durch die Ausdehnung des Prinzips der Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit auf den Bereich der natürlichen und sozialen Prägung der Sozialstaat sich in eine totalitäre Bürokratie verwandeln muss. Das rechtsstaatliche Grundprinzip: die legitime Zuständigkeit staatlichen Eingriffshandelns endet an der Haut der Menschen, muss mutatis mutandis auch für den Sozialstaat Gültigkeit behalten. Die genetische und soziale Konditionierung menschlichen Lebens ist kein legitimer Gegenstand sozialstaatlichen Ausgleichhandelns. Wir sind Personen, die ein selbstverantwortliches Leben zu führen das Recht haben; und der Staat ist als Institution der Institutionen mit der Aufgabe betraut, ein System der institutionellen Sicherung der schwachen und äußeren Chancengleichheit zu etablieren. Wir sind jedoch keine Lebenserfolgsressourcen, die durch Sozialstaatshandeln egalisiert werden müssen. Entsprechend ist auch die Ungleichheit als gerechtigkeitsethisch unbedenklich zu akzeptieren, die im Rahmen eines Systems der schwachen und äußeren Chancengleichheit durch die unterschiedlichen genetischen und sozialen Prägungen produziert wird.

Ich fasse den bisherigen Argumentationsgang kurz zusammen. Gerechtigkeit, das war die erste These, ist institutionalisiertes Menschenrecht. Die Institutionalisierung des Menschenrecht, das war die zweite These, führt zur Etablierung rechtsstaatlicher und sozialstaatlicher Verhältnisse. Dabei gilt, so die dritte These, dass auf Grund der Ressourcenabhängigkeit selbstbestimmter Lebensführung der Rechtsstaat aus Gründen normativer Konsistenz Sozialstaatlichkeit aus sich heraustreibt. Die diese freiheitsbegründete Sozialstaatlichkeit normativ orientierende Gerechtigkeitskonzeption, so die vierte These, ist das Prinzip schwacher oder äußerer Chancengleichheit. Unter den Chancen sind institutionelle Arrangements der Erziehung, Ausbildung und Versorgung zu verstehen, die für alle in gleicher Weise und daher einkommensneutral zugänglich sein müssen. Was nutzt aber ein Erziehungs-und Ausbildungssystem, in dem sich die Bürger im Idealfall – ihren Begabungen, Talenten und Fähigkeiten entsprechenden Qualifikationen versehen können, wenn der Arbeitsmarkt ihnen anschließend den Zutritt verwehrt?

V. Arbeits­lo­sig­keit – ein Gerech­tig­keits­pro­blem

Arbeitslosigkeit ist aus der Perspektive der Chancengleichheit ein gravierendes Gerechtigkeitsproblem. Gerade wenn wir bürgerliche Solidarität verstehen als kollektive Ermöglichung gleicher Chancen für eine selbstbestimmte Lebensführung, wenn wir den Sozialstaat nicht als konzeptlose Umverteilungsmaschinerie betrachten, sondern als ein sozialinvestives Unternehmen, das die Rahmenbedingungen für einen egalitären Zugang zu den Bedingungen eines Lebens mit Eigenbeteiligung sichert, muss eine Arbeitslosigkeitsquote, die jedem zehnten, in manchen Gegenden unseres Landen gar jedem siebenten Bewerber den Zutritt zum Arbeitsmarkt verwehrt, gerechtigkeitsethisch als besonders schmerzlich betrachtet werden. Arbeitslosigkeit ist ein vielfältiges Übel. Trivialerweise ist mit dem Verlust der Arbeit auch der Verlust an persönlichem Einkommen verbunden. Aber Einkommenslosigkeit ist nur eine Arbeitslosigkeitsfolge unter anderen, etwa dem Makel der Unselbständigkeit und Abhängigkeit oder der sozialen Depravierung, der zeitdehnenden Unbeschäftigtheit, dem Verlust des Korsetts aus Pflichten und Routinen und der damit verknüpften Entstrukturierung des Lebens, dem Wegfall aller zeit- und alltagspolitisch heilsamen Zäsuren, der Zäsuren zwischen Arbeit und Pause etwa, zwischen Arbeitszeit und Freizeit, Arbeitstag und Feiertag, Arbeit und Urlaub. Weiterhin bedeutet Arbeitslosigkeit wachsenden Selbstzweifel, überdies den Verlust des vertrauten sozialen Milieus, das Zerreißen bewährter Kommunikationsbeziehungen und den Schwund sozialen Urvertrauens. Arbeitslosigkeit, insbesondere dauerhafte Arbeitslosigkeit führt zur sozialen Marginalisierung und zum Anerkennungsverlust. Da aber Fremdanerkennung und Selbstanerkennung miteinander verknüpft sind, entfaltet die arbeitslosigkeitsbedingte Exklusion ihre eigene fatale Dialektik innerhalb der inneren Befindlichkeit des Dauerarbeitslosen. Er gerät in eine lebensethische Abwärtsspirale, er internalisiert seine Entwertung, wird mutlos, verliert zunehmend alle Antriebskraft zur selbsttätigen Lebensgestaltung.

Die hier vorgetragene Begründung der gerechtigkeitsethischen Unzulässigkeit der Arbeitslosigkeit mit Hilfe des freiheitsrechtlich verankerten Prinzips der Chancengerechtigkeit hat den Vorzug, von der Annahme eines genuinen und normativ eigenständigen Rechtes auf Arbeit unabhängig zu sein. Ein Vorzug ist dies darum, weil ein Recht auf Arbeit in vielerlei Hinsicht ein höchst problematisches Institut ist. Ist das Recht auf Arbeit ein Recht, das wie andere grundlegendere Recht auf, einklagbare Ansprüche gegenüber anderen begründet, dann führt ein Recht auf Arbeit zur Verpflichtung des Staates, dieses Recht zu verwirklichen.

Die staatliche Verwirklichung eines Rechtes auf Arbeit führt aber zur entweder direkten oder indirekten Zerstörung einer freiheitlichen Gesellschaft. Denn entweder muss der Staat die Wirtschaft zwingen, Arbeitsplätze für alle bereitzustellen, was zu einer völligen Missachtung der Freiheits-und Eigentumsrechte der Bürger führt, oder er muss die Arbeitsverteilung selbst in die Hände nehmen, was zur Transformation der Marktwirtschaft in eine Planwirtschaft führt. Aber ein Recht auf Arbeit würde nicht nur die Verletzung fundamentaler Freiheits- und Eigentumsrechte implizieren, es wäre auch moralisch kontraproduktiv. Denn eine politisch zugewiesene Arbeit mit dann notwendig marktunabhängiger Entlohnung wird nicht in dem Maße Quelle von Selbstwertgefühl und nicht in dem gleichen Maße Ermöglichungsbedingung lebensethischer Selbstständigkeit sein können wie die freiwillig angebotene, unter Kompetitionsbedingungen erworbene und nach Marktgesetzen entlohnte Arbeit.

Will man diese rechtliche und moralische Konfliktstruktur des Rechts auf Arbeit dadurch beseitigen, dass man ihm nur eine nachgeordnete Verbindlichkeit einräumt, dann wird die Rede von einem Recht auf Arbeit zu einer Metapher. Dann besagt Recht auf Arbeit nichts anderes als: einen Arbeitsplatz zu besitzen ist moralisch vorzugswürdig und gerechtigkeitsethisch gefordert; dann besagt Recht auf Arbeit nichts anderes als: die Politik ist verpflichtet, Beschäftigungshindernisse abzubauen und mit arbeitsmarktpolitischer Phantasie die Arbeit zu mehren. Das aber ist eben das, was auch das Prinzip der Chancengerechtigkeit als arbeitsmarktpolitische Basisverpflichtung des Sozialstaats freilegt.

VI. Sozialstaat – Chancen­ge­rech­tig­keit – Arbeits­lo­sig­keit

Was aber nun folgt aus solch einer Basisverpflichtung? Was muss der Sozialstaat der Chancengerechtigkeit tun? Diese Frage ist nicht schwer zu beantworten: der Sozialstaat muss der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit politische Priorität einräumen. Was aber heißt das? Welche Möglichkeiten stehen ihm zur Verfügung? Und kann bei alldem die Gerechtigkeitstheorie Orientierung bieten? Lässt sich also etwa aus dem Prinzip der Chancengerechtigkeit nicht nur die gerechtigkeitsethische Notwendigkeit der Vollbeschäftigung ableiten, sondern auch ein Katalog der Mittel, um dieses notwendige Ziel zu erreichen oder zumindest den Abstand zwischen ungerechtem Ist-Zustand und gerechtem Soll-Zustand zu verringern?

Wählen wir die Sprache der politischen Ökonomie, um die allgemeine Gerechtigkeitspflicht des Staates zu beschreiben, dann können wir sagen, dass der Staat immer dann tätig werden muss, wenn der Markt bei der Verteilung gerechtigkeitsrelevanter Güter versagt, wenn er eine eklatante Ungleichverteilung produziert, wo die Gerechtigkeit Gleichverteilung verlangt. Aber was für das öffentliche Gut der Gesundheitsversorgung, was für Sicherheit und diskriminierungsfreien Zugang zu allen gesellschaftlichen und politischen Ämtern, Posten und Beschäftigungsmöglichkeiten gilt, gilt nicht für die Vollbeschäftigung. Arbeitslosigkeit ist ein gerechtigkeitsethisches Spezialproblem, denn die Arbeitslosigkeit kann nicht unmittelbar durch staatliche Initiative beseitigt werden – jedenfalls nicht im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Demokratie, die aus den gleichen gerechtigkeitsethischen Gründen nicht zur Disposition steht, aus denen Chancengerechtigkeit eine beschäftigungsproduktive Arbeitsmarktpolitik verlangt. Erwerbsarbeit ist kein öffentliches Gut. Der Sozialstaat kann daher Arbeitslosigkeit nur dadurch mindern, dass er die arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen so verändert, dass mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, dass Anreize entstehen, das Arbeitsangebot zu erhöhen. Zusätzlich kann er durch Umschulungsangebote die arbeitsmarktpolitische Attraktivität der Arbeitslosen verbessern. Und vielleicht auch durch partielle Übernahme der Arbeitskosten – also durch eine politische Verbilligung des Angebotspreises der Arbeit – die Wirtschaft zu einer offensiveren Einstellungspolitik veranlassen.

VII. Gerech­tig­keit und Klugheit

Hier ist aber allein von Wichtigkeit, ob diese Instrumente empirisch wirkungsvoll sind, ob sie unter den gegebenen Bedingungen das Ziel der Erhöhung des Beschäftigungsniveaus erreichen. Und diese Frage hat nichts mit Gerechtigkeit, und alles mit Ökonomie zu tun. Dem Prinzip der Chancengerechtigkeit ist kein arbeitsmarktpolitischer Algorithmus zu entnehmen, mit dessen Hilfe etablierte und geplante arbeitsmarktpolitische Maßnahmen entwickelt oder bereits entwickelte gerechtigkeitsethisch überprüft werden können. Es kann nicht mehr als allgemeine normative Orientierung bieten. Alles ist geboten, was zu einer Ausweiterung des Arbeitsangebots und damit zu einer gerechteren Verteilung des Gutes Arbeit führt. Daher ist es geboten, die Zugangsbedingungen zu dem kapitalistischen Arbeitsmarkt zu verbessern, indem die herrschenden Beschäftigungshindernisse abgebaut werden, durch Senkung der Lohnnebenkosten und durch Lockerung der arbeitsrechtlichen Bestimmungen. Daher ist es auch geboten, einen zweiten, subventionierten, von den Marktgesetzen entlasteten Arbeitsmarkt aufzubauen – allerdings nur dann, wenn sichergestellt ist, dass dies beschäftigungspolitisch wirksam ist und nicht zu Mitnahmeeffekten und Lohndumping führt. Und ebenfalls ist es geboten, die Bildung von Beschäftigungsgesellschaften zu unterstützen, in denen Arbeitslose marktfähig gehalten werden. Wenn das Ziel bekannt ist, muss man sich nur noch um die Mittel bemühen.

Und von arbeitsmarktpolitischen Mitteln ist zu verlangen, was von jedem Mittel zu verlangen ist: sie müssen effektiv sein, sich als nützlich für die Erreichung des Ziels erweisen. Daher bilden solche arbeitsmarktpolitischen Instrumente wie der Kombi-Lohn, der Mindestlohn, der Ein-Euro-Job, die diversen Maßnahmen zur Verbesserung der Einstellung älterer Arbeitsnehmer kein Gerechtigkeitsproblem, sondern nur ein Klugheitsproblem. Klugheit ist vonnöten, um die Arbeitslosigkeit zu überwinden, Phantasie, um neue Wege zu finden, und Mut, um neue Wege zu beschreiten. Klugheit, Phantasie und Mut setzten Wissen voraus, Wissen um die Systemzusammenhänge des sozialrechtlichen und arbeitsrechtlichen Regelwerks, das die arbeitsmarktrechtlichen Prozesse bestimmt, Wissen um den Zusammenhang von Lohn, Produktivität und Arbeitsangebot, Wissen um die Auswirkungen sozialpolitischer und arbeitsrechtlicher Maßnahmen auf die Produktivitätsentwicklung und damit auf das Arbeitsangebot. Und vor allem ein Gesamtkonzept, das der sich bereits über Dekaden erstreckenden Stückwerkpolitik ein Ende bereitet und die kaum noch überschaubare Fülle offenkundig weitgehend undurchdachter Rezepte nicht noch weiter anwachsen lässt.

Aber dieser Übergang von der Gerechtigkeit zur Klugheit erleichtert die Situation nicht im Mindesten. Denn Klugheitsprobleme sind viel schwieriger zu lösen als Gerechtigkeitsprobleme, zumal wenn es sich um kluge arbeitsmarktpolitische Lösungen innerhalb der ungemein komplexen, von niemandem überschaubaren, durch machtvoll organisierte Interessen beherrschten Wirklichkeit des gegenwärtigen Sozialstaats handelt. Die Empfehlungen der wirtschaftlichen Klugheit zur Verbesserung des Beschäftigungsniveaus sind bekannt. Jedes einschlägige Sachbuch wiederholt sie von neuem; jeden dritten Tag können wir sie in den Wirtschaftsseiten unserer besseren Tageszeitungen lesen: Senkung der Lohnnebenkosten, Modernisierung der Arbeitsmarktverfassung, Modernisierung der Tarifpolitik. Auch die Modernisierung der Arbeitsverwaltung gehört zu den immer wieder erhobenen Forderungen. Das Subsidiaritätsprinzip verlangt, Problemlösungen nur dann auf eine höhere Ebene zu verlagern, einer zentraleren Bürokratie zu überantworten, wenn die Probleme nicht mehr auf lokaler Ebene effizient angegangen werden können. Daher muss die Idee der zentralen staatlichen Arbeitsvermittlung aufgegeben werden. Die Arbeitsvermittlung ist teils zu privatisieren, teils auf der Gemeinde- und Landkreisebene anzusiedeln. Dort besteht ein weit größeres Interesse an einer vernünftigen Verwendung der Mittel als in einer leviathanischen Zentralbehörde, die durch ihr eigenes Gewicht zur Unbeweglichkeit verurteilt ist und an einer sachlichen Problembehandlung durch Selbsterhaltungsdringlichkeiten gehindert wird.

Selbsterhaltungsdringlichkeiten prägen natürlich auch das politische Handeln und verhindern strukturelle, auf langfristige Systemänderung zielende Reformen in Demokratien immer dann, wenn sie Schlechterstellungen bestimmter Klientengruppen mit sich bringen. Die Angst, dass der Wähler Kommoditätseinbußen bestraft, lässt den an seiner Machterhaltung primär interessierten Politiker zurückschrecken. So macht das wiederum aus anderen Gründen rational und moralisch vorzugswürdige System demokratischer Machterringung es unmöglich, dass sich die Klugheit entwickeln kann, die zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt erforderlich ist. Die jeweils privaten Klugheitsstrategien der wiederwahlbesorgten Politiker – das ist das Rationalitätsdilemma demokratischer wohlfahrtsstaatlicher Gesellschaften – verhindern die Entwicklung kluger Gemeinwohlstrategien.

Die Kritik vieler Wirtschaftswissenschaftler an den wachstumshemmenden – und darum auch beschäftigungswachstumshemmenden Auswirkungen zu hoher Steuern, zu hoher Sozialversicherungsabgaben, arbeitsrechtlicher Verkrustung, tarifpolitischer Unverantwortlichkeit und undifferenzierter Flächentarifverträge pflegen von den Sozialstaatskonservativen, den Anhängern des wohlfahrtsstaatlichen status-quo als kapitalistisches Lamentieren, als ewige Litanei des Neoliberalismus verhöhnt zu werden. Jedoch ist das nicht sonderlich ernst zu nehmen. Seriöser, weil eben nicht von finanziellen und machtpolitischen Besitzstandswahrungsinteressen gefärbt, ist der Einwand, dass der arbeitsmarktpolitische Versuch, durch Steuer- und Abgabensenkung einerseits und arbeitsrechtliche Flexibilisierungsmaßnahmen andererseits das Beschäftigungsniveau zu erhöhen, auch gerechtigkeitsethisch bedenkliche Folgen haben könnte, da es den sozialen Versicherungsschutzes mindern, die Rechte der Arbeitnehmer schwächen und die Sozialmacht der Funktionäre des Kapitals stärken würde. Denn die Vermehrung der Arbeit würde vordringlich in den unteren Lohnbereichen stattfinden, in denen nicht genug verdient werden könnte, um ein hinreichendes Auskommen zu haben. Kurzum: Mehr Chancengerechtigkeit durch Arbeitsvermehrung würde zur Amerikanisierung der sozialstaatlichen Arbeitswelt führen; die money without job-Situation würde durch eine job without-money-Situation abgelöst, die Ungleichheit würde vergrößert und das Gerechtigkeitsniveau des Sozialstaats verringert. Objektiver Hintergrund dieser Bedenken ist die Tatsache, dass sozialstaatliche Gerechtigkeit unterschiedliche Leistungen umfasst und rivalisierenden Ansprüchen ausgesetzt ist. Sie droht darum in eine interne Dialektik verwickelt zu werden, die den Sozialstaat dazu verdammt, durch Verwirklichung von Gerechtigkeit auf einem Gebiet unvermeidlicherweise Ungerechtigkeit auf einem anderen zu produzieren. Wenn die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme zu einer Belastung des Arbeitsmarktes führt, dann ist die Verknappung der Chance Erwerbsarbeit und das damit verbundene Gerechtigkeitsrisiko selbst Folge der Gerechtigkeit. Dieses durch entsprechende arbeitsmarktpolitische Entlastungsmaßnahmen zu korrigieren hat wiederum negative Folgen für das sozialstaatliche Versorgungsniveau und den arbeitsrechtlichen Schutzumfang.

Natürlich lässt sich aus dem Konzept sozialstaatlicher Gerechtigkeit weder die Höhe des sozialstaatlichen Versorgungsniveaus noch der Umfang des arbeitsrechtlichen Schutzes ableiten. Die empirische Konkretisierung der allgemeinen normativen Zielvorgaben ist eine Angelegenheit der politischen Verhandlung, der geschickten Ausbalancierung der staatlichen Leistungspflichten im Allgemeinen und der rivalisierenden Gerechtigkeitserwartungen der einzelnen Sozialstaatssegmente im Besonderen.

Mir ging es hier nur um zweierlei. Einmal wollte ich die Gerechtigkeitsphilosophie vor überzogenen Erwartungen schützen – und damit auch der schamlosen und unerträglichen Instrumentalisierung dieses nahezu zivilreligiöse Qualität besitzenden Großwortes unserer politisch-kulturellen Selbstverständigung im Verteilungsgezänk des sozialstaatlichen Alltags entgegenwirken. Die epistemologische Reichweite der Gerechtigkeitsprinzipien ist begrenzt. Die Chancengerechtigkeit ist sicherlich eine plausible Explikation sozialstaatlicher Gerechtigkeit. Und es ist sicherlich auch zu verteidigen, dass Chancengerechtigkeit sich auf den Bereich der Erwerbsarbeit erstreckt. Aber für die Gestaltung einer produktiven Arbeitsmarktpolitik vermag Chancengerechtigkeit keine zusätzlichen normativen Kriterien bereitzustellen. Zum anderen wollte ich auf die nicht nur politische, sondern vor allem auch moralische Komplexität sozialstaatlicher Wirklichkeit aufmerksam machen. Ihren Grund hat diese moralische Komplexität in dem Umstand, dass der entwickelte Sozialstaat im Schnittpunkt rivalisierender normativer Erwartungen liegt, die alle gleichermaßen legitime Facetten sozialstaatlicher Gerechtigkeit abbilden, jedoch nicht zugleich konfliktfrei erfüllt werden können.

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