Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 184: Der gläserne Mensch

Die "Online-­Durch­su­chung" und die Angst vor dem Überwa­chungs­staat

zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 27.Februar 2008

aus Vorgänge: 184 (Heft 4/2008), S.11-19

Wenn der Staat seinen Behörden erlaubt, heimlich in private Computer einzudringen und dort gespeicherte Informationen zur Kenntnis zu nehmen, so missachtet er ein fundamentales Recht der Betroffenen. Der PC ist – gleichgültig, ob er in einem Wohn- oder Arbeitszimmer steht oder als Laptop mitgeführt wird – ein umfassendes Notizbuch, Archiv und Tagebuch, in dem fast alle Tätigkeiten, Eigenschaften und Gewohnheiten seines Besitzers dokumentiert sind; werden diese Inhalte gegen seinen Willen offengelegt, so steht die betroffene Person „nackt” vor den Augen der heimlichen Beobachter. Davor wollen wir geschützt sein, und diesen Schutz soll uns der Staat gewährleisten. Juristisch ist der Einbruch in den Bereich, den jeder Mensch vor anderen abschirmen will, eine schwere Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass dies nicht sein darf – oder vielmehr dass eine solche „Infiltration” eines „informationstechnischen Systems” nur ausnahmsweise zulässig ist, nämlich „wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen”. [1]Es gestattet dem Staat also die „Online-Durchsuchung” privater Computer unter dieser Voraussetzung, die in dem Urteil weiter konkretisiert wird: „Überragend wichtig sind Leib, Leben und Freiheit der Person oder solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt [2] Und: „Die Maßnahme kann schon dann gerechtfertigt sein, wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass die Gefahr in näherer Zukunft eintritt, sofern bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall durch bestimmte Personen drohende Gefahr für das überragend wichtige Rechtsgut hinweisen” [3].

Die liberale Öffentlichkeit hat das Karlsruher Gericht für diese Entscheidung in den höchsten Tönen, ja „euphorisch” gelobt. Der „Spiegel” attestierte den Richtern einen „Schritt von historischer Dimension”, die Süddeutsche Zeitung sprach von einer „juristischen und gesellschaftspolitischen Sensation”.[4]. Viele meinten, das Bundesverfassungsgericht habe ein „neues Grundrecht” erfunden oder gefunden. Im ersten Leitsatz des Urteils heißt es nämlich: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“. Damit ist aber kein zusätzliches Grund-recht gemeint, sondern eine weitere „Teilausprägung” des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, die das Gericht nunmehr neben anderen, bereits seit Längerem anerkannten Ausprägungen herausgearbeitet hat[5]. In der Fachliteratur ist überwiegend die These vertreten worden, dass schon die bisher akzeptierten Formen des Persönlichkeitsrechts zur Abwehr der „Infiltrationen” ausgereicht hätten; insbesondere das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sei nicht nur dann beeinträchtigt, wenn einzelne Daten oder Dateien offenbart oder übermittelt werden, sondern erst recht, wenn das ganze System – der PC, das Handy, der elektronische Terminkalender – „aufgebrochen”, für den Zugriff Dritter geöffnet wird[6]. Ein Kritiker empfindet die neue Konstruktion sogar als „Entwertung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung“[7].

Wie dem auch sei und welche noch ungewissen Folgen die dogmatische Begründung des Gerichts nach sich ziehen wird – das Bundesverfassungsgericht betont die Grenzen staatlicher Befugnisse und bringt sie in politisch wirksamer Weise zur Geltung. Das Verfassungsschutzgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen wurde insoweit für verfassungswidrig und nichtig erklärt, wie es die „Online-Durchsuchung” erlaubt, und zwar weil die betreffende Norm „dem Gebot der Normenklarheit und Normenbestimmtheit” nicht gerecht wurde. Die Entscheidung wurde also nicht im „direkten Zugriff‘, gestützt auf das Gebot, die Menschenwürde zu achten, sondern auf einem an-deren Weg der rechtlichen Argumentation gefunden: Es war das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot, das sich in diesen wie in zahlreichen anderen Fällen als das Instrument erwies, mit dem eine (nach ihrem Zweck nicht zu beanstandende!) gesetzliche Regelung ausgehebelt werden konnte und wurde. Der zweite, ebenfalls oft eingesetzte Hebel besteht in dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Zweck und Mittel: Ein Grundrechtseingriff ist nur dann verfassungskonform, wenn er „einem legitimen Zweck dient und als Mittel zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen ist“[8].

In dem konkreten Fall aus Nordrhein-Westfalen monierte das Bundesverfassungsgericht zum einen, dass „sich die tatbestandlichen Voraussetzungen der geregelten Maß-nahmen dem Gesetz nicht hinreichend entnehmen ließen” (u .a, weil diese Voraussetzungen erst durch Verweisungen auf andere Gesetze erschlossen werden mussten). Zum anderen würden die vorgesehenen Maßnahmen „derart intensive Grundrechtseingriffe” bewirken, „dass sie zu dem öffentlichen Ermittlungsinteresse, das sich aus dem geregelten Eingriffsanlass ergibt, außer Verhältnis stehen”. Außerdem bedürfe es „ergänzender verfahrensrechtlicher Vorgaben, um dem grundrechtlich geschützten Interesse der Betroffenen Rechnung zu tragen”, auch daran fehle es in dem angegriffenen Gesetz. Gemeint ist insbesondere, dass „eine vorbeugende Kontrolle durch eine unabhängige und neutrale Instanz” stattfinden, d . h, dass die Maßnahme „grundsätzlich unter dem Vorbehalt richterlicher Anordnung” stehen muss[9]; auch die Zeugnisverweigerungsrechte von Personen, die in einem besonderen Vertrauensverhältnis zu den Betroffenen stehen, spielen hier eine Rolle.

Es dürfte deutlich sein, dass die Weichen bei der Umsetzung dieser verfassungsgerichtlichen „Richtlinien” in unterschiedliche Richtungen gestellt werden können. Die Privatsphäre ist nicht vollkommen unantastbar, und die Kriterien, nach denen ihr unantastbarer Kern bestimmt werden soll, sind „ziemlich weich“[10]. Zugespitzt gesagt: „Der unantastbare Kernbereich war […] in der Sache schon immer antastbar, so wie überhaupt die Kriterien, mit deren Hilfe er als harter Kern bestimmt werden sollte, ziemlich weich formuliert waren“[11]. Nach einer früheren Entscheidung des BVerfG[12] sind im Ergebnis nicht einmal intime tagebuchartige Aufzeichnungen eines Beschuldigten über seine seelischen Nöte tabu. Alle acht Richter des Zweiten Senats unterschrieben damals‘ den Satz, es gebe „einen letzten unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung, der der öffentlichen Gewalt schlechthin entzogen” sei[13], aber vier von ihnen meinten an-schließend, die betreffenden Aufzeichnungen gehörten diesem Bereich nicht an, weil sie schriftlich niedergelegt worden seien und einen Inhalt hätten, der „Belange der Allgemeinheit” nachhaltig berühre[l4].

Auch künftig – bei einer Neuregelung der „Online-Infiltration” wie jetzt im Rahmen des BKA-Gesetzes oder bei anderen Eingriffsbefugnissen der Sicherheitsbehörden – sind rechtliche Auseinandersetzungen zumindest darüber zu erwarten, ob eine Gesetzesnorm hinreichend bestimmt formuliert ist und ob die jeweilige staatliche Ermittlungsbefugnis noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem damit verbundenen Ein-griff in die Privatsphäre steht. Bürgerrechtler werden dem Gesetzgeber weiterhin „Schlamperei” vorwerfen und nach Karlsruhe ziehen, um die Verfassungsrichter als letzte Instanz gegen den „sammelwütigen” Staat anzurufen.

Allerdings ist es keineswegs sicher, dass das Bundesverfassungsgericht alle Erweiterungen der staatlichen Befugnisse kassiert. Die Richter prüfen genau, ob eine gesetzliche Vorschrift unklar abgefasst ist und welche Interessen sich jeweils gegenüberstehen. Die öffentliche Diskussion dringt in der Regel nicht zu den Details der Urteilsbegründung vor, sondern befasst sich meist nur mit dem Ergebnis – dass ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt wird – und mit den grundsätzlichen Aussagen der Urteilsbegründung – wie eben der Feststellung, dass es ein „Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme” gibt. Schon die Tatsache, dass in aller Regel nicht das ganze Gesetz, sondern einzelne Vorschriften daraus verfassungswidrig sind, wird selten herausgestellt, und ebenso wenig interessieren sich die Publikumsmedien in der Regel für die Einschränkungen der Grundrechte, die das Verfassungsgericht für verfassungskonform erklärt.

Das war schon bei dem Grundsatzurteil zur Volkszählung so, dessen „Jubiläum” in diesen Tagen gefeiert wird[15]. Das Gericht hatte nur drei Absätze des Gesetzes für nichtig erklärt [16] und vom Gesetzgeber im übrigen „ergänzende Regelungen der Organisation und des Verfahrens der Volkszählung” gefordert[17]. Es hatte auch ausdrücklich erklärt, die Statistik habe „erhebliche Bedeutung für eine staatliche Politik, die den Prinzipien und Richtlinien des Grundgesetzes verpflichtet ist”: „Erst die Kenntnis der relevanten Daten und die Möglichkeit, die durch sie vermittelten Informationen mit Hilfe der Chancen, die eine automatische Datenverarbeitung bietet, für die Statistik zu nutzen, schafft die für eine am Sozialstaatsprinzip orientierte staatliche Politik unentbehrliche Handlungsgrundlage“[18]. „Das Erhebungsprogramm des Volkszählungsgesetzes 1983” würde „nicht zu einer mit der Würde des Menschen unvereinbaren gänzlichen oder teilweisen Registrierung und Katalogisierung der Persönlichkeit” führen[19]. Aber diese Details sind in der öffentlichen Diskussion kaum zur Kenntnis genommen worden;vielmehr ist der Eindruck entstanden, als sei jede Volkszählung verfassungsrechtlich bedenklich. Dass die Boykottbewegung gegen die Volkszählung von einer geradezu unbegreiflichen Hysterie geprägt war, die in anderen Staaten nur Kopfschütteln hervorgerufen hat[20], haben die meisten längst verdrängt, und manche erinnern an diese Volksbewegung, die sich ganz allgemein gegen eine vermeintliche Übermacht des Staates und nicht wirklich gegen den harmlosen Zensus richtete, in einer Weise, als sei sie das ruhmreiche bundesdeutsche Gegenstück zu den Montagsdemonstrationen in der DDR. Die Verantwortlichen wagen es aus Angst vor dem Mythos der Verfassungswidrigkeit heute gar nicht mehr, eine Volkszählung zu beschließen, und versuchen die für Politik und Wissenschaft notwendigen Daten mit fragwürdigen Hochrechnungen aus vorhandenen Registern und einem Mikrozensus zu erlangen; ob die Grundgesamtheit noch stimmt, auf der alle weiteren Berechnungen beruhen müssten, bleibt dabei ungewiss.

Gegenwärtig streiten die Rechtsexperten darüber, welche Bedeutung die Online-Entscheidung in der Zukunft haben wird. Auf Bundesebene hat man versucht, dem Bundeskriminalamt die Befugnis zum heimlichen Eindringen in PC unter bestimmten Bedingungen einzuräumen, die den Monita des Bundesverfassungsgerichts zum nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzgesetz entsprechen sollten. Die Kritiker dieses Gesetzentwurfs — die nicht nur in den Oppositionsfraktionen des Bundestages zu finden sind, sondern auch in Teilen der Regierungsfraktionen und in einzelnen Landesregierungen — halten diese Umsetzung des Karlsruher Urteils für misslungen, also wiederum zu unklar und zu weitgehend formuliert (u.a. weil der vorgesehene Richtervorbehalt für die Online-Infiltration nicht konsequent genug gewahrt sei und die Zeugnisverweigerungsrechte von Rechtsanwälten, Journalisten und Ärzten zu geringe Bedeutung hätten). Es geht also um wichtige Details der Ausgestaltung, nicht um das Ob der neuen Befugnis. Zweifellos lohnt der Streit um diese Fragen; denn die Probleme stecken auch hier im Detail, aber ob die Bundesrepublik ein Rechtsstaat bleibt oder nicht, hängt nicht von diesen Entscheidungen ab.

Andere meinen, die zitierten Vorgaben der Verfassungsrichter und die daraus zwingend folgenden Einschränkungen für die Praxis seien so restriktiv, dass eine wirksame Überwachung von Terroristen und anderen Schwerkriminellen, die Anschläge vorbereiten, unmöglich sei. Vermutlich wird dabei die „Kreativität” der Beteiligten unterschätzt; jedenfalls wird man den Behörden weiterhin einen gewissen Spielraum bei der Einschätzung der tatsächlichen Lage und damit auch bei der Nutzung ihrer Befugnisse zu-billigen (müssen). Das Verfassungsgericht wird auch künftig differenzierter urteilen als die Öffentlichkeit es nach den plakativen Verkürzungen der Berichterstattung erwartet. Eine wesentliche Rolle wird auch diesmal die Frage spielen, ob die neuen Vorschriften hinreichend bestimmt sind.

Betrachtet man die aktuellen Auseinandersetzungen zu den Kompetenzen der Sicherheitsbehörden, so ist unverkennbar, dass nicht nur nüchterne Argumente darüber ausgetauscht werden, wie viel Freiheit und wie viel Sicherheit die Gesellschaft braucht oder wünscht, sondern hinter den verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Positionen verbergen sich bei vielen Beteiligten auch schlichtes Machtstreben und die Abwehr politischer Konkurrenz. Im politischen Raum ist das ja nichts Neues und nichts Verwerfliches, vielmehr selbstverständlich. Allerdings ist die Position der Sicherheitsbehörden — Polizei und Staatsanwaltschaften sowie Geheimdienste — in diesen öffentlichen Debatten schwierig. Selbstverständlich haben auch sie Machtinteressen, aber zunächst einmal wollen sie ihre Befugnisse zu dem Zweck komplettieren und erweitern, ihre Aufgaben erfolgreicher zu erfüllen. Manche übertreiben dabei und werden zu Sicherheitsfanatikern, die ihre eigene Aufgabe über die Interessen aller anderen stellen. Dann geschieht es auch, dass sie in denen, die an der Berechtigung ihrer Forderungen‘ zweifeln, Risiken für die nationale Sicherheit sehen. Auf der Gegenseite wird aber nicht weniger scharf geschossen: Den Beamten und ihren politischen Vorgesetzten wird unterstellt, sie wollten die gesamte Bevölkerung überwachen, Dissidenten einschüchtern und die politische Opposition unterdrücken.

Konflikte nützen der Demokratie. Aber die äußerst harte Konfrontation zwischen Bürgerrechtlern und Sicherheitsverantwortlichen schadet dem politischen Klima und dem inneren Frieden der Republik mehr als nötig und mehr als erträglich. Es führt nicht weiter, die Gegenseite insgesamt in eine „Schublade” zu stecken und zu etikettieren, etwa als blindwütige „Law-and-order-Hüter” und rücksichtslose „Hardliner”. So wie die Verteidiger liberaler Positionen nicht als weltfremde „Gutmenschen” abqualifiziert werden dürfen, sind auch diejenigen, die für einen höheren Standard an öffentlicher Sicherheit eintreten, auf ein Mindestmaß an Vertrauen und Respekt angewiesen. Polizei und Justiz arbeiten nicht außerhalb der Gesellschaft; sie können erfolgreich nur sein,, wenn der größere Teil der Bevölkerung mit ihnen zusammenarbeitet. Durch einseitige und überzogene Darstellung ihrer Tätigkeit und ihrer Absichten wird dieses Vertrauen zerstört.

Dass sich die Sicherheitsbehörden verselbständigen oder dass autoritäre Politiker allein deshalb, weil polizeiliche oder geheimdienstliche Überwachungsbefugnisse zur Verfügung stehen, am Ende gar eine Diktatur errichten könnten, ist auf absehbare Zeit sehr unwahrscheinlich. Autoritäre Regime, die sich über Recht und Gesetz hinwegsetzen, entstehen nicht, weil der Staatsapparat über Unterdrückungsinstrumente verfügt, sondern weil autoritäre Persönlichkeiten mit Hilfe einer ihnen günstigen Stimmung in der Bevölkerung und/oder durch rechtswidrigen Einsatz von Militär oder Polizei an die Macht gelangen und dann die vorhandenen Instrumente der Macht Erhaltung nutzen. Die verfügbaren Mittel mögen die Macht-„Ergreifung“ erleichtern, aber bevor sich eine undemokratische und rechtsstaatsfeindliche Regierung durchsetzt, müssten erst einmal die Kontrollinstanzen funktionsunfähig werden — angefangen bei den konkurrierenden politischen Kräften über die Gerichte und sonstigen Gegengewichte in der Staatsorganisation selbst bis zu den Medien und der liberalen Öffentlichkeit. Das alles ist gegenwärtig nicht zu erwarten.

Die Sicherheitsbehörden sind übrigens schwächer als man glaubt. Sie haben bisher zwar — mit Glück und mit Unterstützung amerikanischer Geheimdienste — terroristische Anschläge in Deutschland verhindert und einige Personen, die sie planten, ausfindig gemacht, aber in vielen Fällen suchen sie verzweifelt nach Informationen. Nicht alles, was technisch machbar erscheint, wird praktiziert, schon weil der Aufwand zu hoch wäre. Routinearbeit verbraucht Zeit und Ressourcen, heimliche Ermittlungen hingegen sind besonders aufwendig. So sorgt schon die Finanzenge dafür, dass Kriminalisten und Geheimdienstler sich nicht für jedermann interessieren. An die systematische Überwachung mit dem Ziel der „Profilbildung”, der Erarbeitung von „Persönlichkeitsbildern” aller irgendwie Verdächtigen oder gar aller gesetzestreuen Mitbürger denken sie vermutlich nicht einmal. Wer hätte denn wirklich ein Interesse daran, normal lebende Mitmenschen „auf Vorrat” zu beobachten, wenn gleichzeitig z.B. die Aufdeckung umfang-reicher Komplexe der Wirtschaftskriminalität den Strafverfolgungsbehörden überaus schwer fällt? Hätten die Finanzämter die Steuerhinterziehung über Liechtensteiner Konten nicht auf obskurem Weg erfahren, wären sie für diese gewichtigen Vorgänge „blind” geblieben. Unter solchen Bedingungen ist es abwegig zu glauben, dass irgendeine Polizeibehörde sich ohne Anlass für das Privatleben einzelner Menschen interessiert. Es ist zwar in einzelnen Fällen geschehen, dass polizeilich rechtmäßig erhobene Daten unbefugt weitergegeben wurden, z.B. um einer privaten Streitigkeit willen, aber solch rechtswidriges Handeln bringt nicht den Überwachungsstaat, und es sind dagegen interne und externe Vorkehrungen eingerichtet und Sanktionen vorgesehen, die bei den Sicherheitsbehörden nicht häufiger versagen als sonst (Dienstaufsicht, Datenschutzbeauftragte, Gerichte, Rechnungshöfe, Öffentlichkeit). Einen Grund, an sich vertretbare Formen von Datensammlung oder -Verarbeitung zu verbieten, geben solche Vorkommnisse nicht her. Wenn aber den Organen des Staates ständig vorgeworfen wird, sie seien rechtsstaatlich unzuverlässig, ist am Ende das Vertrauen der Bürger in die Demokratie gefährdet — und zwar ohne ausreichenden Grund und mit dem Risiko, dass sich schließlich gerade Gegner der Demokratie, autoritäre Politiker und Demagogen durchsetzen.
Will man der verbreiteten übermäßigen Angst vor staatlicher Überwachung Rechnung tragen und ihr durch weitere rechtliche Instrumente den Boden entziehen, so gerät man auch in anderer Hinsicht in ein Dilemma. Denn jede neue Regelung, die das Vertrauen in die Integrität der Informationstechnik stärken soll, bedeutet ein Stück mehr „Bürokratie” — Gesetzesänderungen und – Ergänzungen, die ein verändertes Verfahren, zusätzliche Zuständigkeiten und Kooperationsbedarfe begründen — und es wäre nicht sicher, ob die Menschen gerade auf diese Sicherheitsvorkehrungen vertrauen würden. Dieses Problem träte nur dann nicht auf, wenn die Online-Infiltration ganz verboten würde. Durch die grundsätzliche Zulassung von Ausnahmen aber werden komplizierte und weitgehend intransparente Vorgehensweisen erforderlich, z.B. ein Zusammenwirken von Antrag stellenden Polizeibehörden und die Entscheidung treffenden Richtern.
Es ist aber nicht allein die Online-Durchsuchung, die das Misstrauen der Bürger hervorruft und vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden ist. Andere Verfahrensweisen der Sicherheitsbehörden wie die automatische Erfassung von Kfz-Kennzeichen[21], die Rasterung großer Datenbestände zu Fahndungszwecken[22] und die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten[23] sind ebenfalls als Eingriffe in das informationelle Selbstbestimmungsrecht angesehen worden, und in diesen Fällen fühlen sich die „Normalbürger” noch eher betroffen als bei den Vorkehrungen, die sich erkennbar ausschließlich gegen Schwerstkriminelle richten. Das heimliche Eindringen in private PC ist die eine Sache, aber eine ganz andere ist die Nutzung von Daten, die in den üblichen und notwendigen sozialen Kontakten erzeugt worden sind — bei Anmeldungen und Vertragsschlüssen, bei Anträgen an Behörden oder bei Zahlungsvorgängen aller Art — oder die sonst in alltäglichen Situationen anfallen — also beim Telefonieren und Faxen, beim Versenden von E-Mails und beim Surfen im Internet. Auf solche Daten müssen Staat und Wirtschaft ständig in größtem Umfang zurückgreifen, wenn sie ihre Aufgaben erfüllen wollen. Wenn auf diesen Feldern jeder jedem misstraut, stockt der Betrieb. Die Finanzkrise öffnet die Augen für die Einsicht, dass ein gewisses Grundvertrauen in die jeweils andere Seite nötig ist, wenn wirtschaftliche Vorgänge weitergehen sollen; für die Beziehungen der Bürger zum Staat gilt dasselbe: Durchgehendes Miss-trauen tötet jede Aktivität.

Das Bundesverfassungsgericht befasst sich — vermutlich auch aus solchen Überlegungen heraus — ebenfalls mit dem Schutz des Vertrauens der Menschen. Der Bürger soll jedenfalls darauf vertrauen dürfen, dass die Daten „nicht in unübersehbaren Zusammenhängen und insbesondere unautorisiert durch Dritte genutzt werden können[24]. Dementsprechend schreibt das Gericht denn auch, wenn zur Computer-Infiltration „bis-lang unbekannte Sicherheitslücken des Betriebssystems” genutzt würden, könne dies zu einem Zielkonflikt führen, nämlich einem Konflikt zwischen den öffentlichen Interessen „an einem erfolgreichen Zugriff und an einer möglichst großen Sicherheit informationstechnischer Systeme”. In der Folge bestehe „die Gefahr, dass die Ermittlungsbehörde es etwa unterlässt, gegenüber anderen Stellen Maßnahmen zur Schließung solcher Sicherheitslücken anzuregen, oder sie sogar aktiv darauf hinwirkt, dass die Lücken unerkannt bleiben”. Der Zielkonflikt könne daher „das Vertrauen der Bevölkerung beeinträchtigen, dass der Staat um eine möglichst hohe Sicherheit der Informationstechnologie bemüht ist [25].

Das ist vollkommen richtig — und doch gerät man ins Grübeln, wenn man sich vor-stellt, welche Vielzahl von Anlässen es geben kann, misstrauisch zu werden, und vor allem: welche Vorkehrungen der Staat gegen all diese möglichen Vertrauenslücken treffen soll. Müsste nicht folgerichtig auf die Erhebung oder Nutzung von Daten in der betreffenden Konstellation ganz verzichtet werden? Die Risiken, die abgewehrt werden sollen, resultieren allerdings zu einem Teil aus Handlungen, die ihrerseits bereits nach geltendem Recht rechtswidrig sind; in diesen Fällen bedarf es eigentlich keiner weiteren Rechtsnormen, sondern „nur” der konsequenten Durchsetzung der vorhandenen. Wenn neue Vorschriften gleichwohl vom Verfassungsgericht für erforderlich gehalten werden, können sie wohl nur als mehr oder weniger symbolische „vertrauensbildende Maßnahmen” gemeint sein. Auf jeden Fall stellt sich die Frage, welche gesetzlichen Regelungen oder administrativen Maßnahmen denn wirklich geeignet sind, die Vertraulichkeitserwartungen der Menschen zu befriedigen, wenn selbst strafrechtliche Sanktionsmöglichkeiten nicht hinreichend wirksam sind.

Dahinter steht die weitere, grundsätzliche Frage: Ist der Schutz des Vertrauens in die Funktionsfähigkeit des Rechts eine Aufgabe des Rechts selbst? Oder gehört diese Bemühung nicht zur Schaffung jener sozio-kulturellen Voraussetzungen, die der demokratische Rechtsstaat nach dem berühmten Wort von Ernst-Wolfgang Böckenförde[26] eben gerade nicht selbst garantieren kann, ohne seine Freiheitlichkeit in Frage zu stellen? Böckenförde meinte insbesondere die demokratischen Werthaltungen und Verhaltensmuster, jene grundlegende Schicht allgemeiner Übereinstimmung über das, was die Bürger und ihre Repräsentanten dem Gemeinwesen schulden. Vielleicht ist sein Ansatz zu pessimistisch, vielleicht kann der Staat doch mehr tun, um die sozialen und kulturellen Werte und Präferenzen der Menschen zu stärken, also „Demokratiepflege” zu betreiben.

Gewiss muss der Staat auch Anreize setzen, damit seine Verfassungsprinzipien zur Wirkung kommen. Bleiben solche Bemühungen erfolglos, werden auch die ausgefeiltesten Rechtsnormen nicht helfen, und hier liegt das Dilemma aller Versuche, den Datenschutz weiter in das Vorfeld auszudehnen, in den Bereich der Erwartungen und Hoffnungen der Menschen, die durch unmittelbar auf unerwünschte Handlungen bezogenes Recht nicht erfüllt werden. Will man allein durch Rechtsetzung Vertrauen produzieren, so schafft man Meta-Recht und gerät in eine sich immer höher schraubende Spirale der Rechtsetzung, deren Wirksamkeit immer fragwürdiger wird — von den möglichen Kollisionen mit entgegenstehenden Prinzipien und Interessen ganz abgesehen.

Fazit: Das Bundesverfassungsgericht tut seine Pflicht, wenn es Gefahren für die Freiheit des Einzelnen aufdeckt und den Gesetzgeber adäquat korrigiert; es gibt dabei bisher stets auch dem Staat, was er braucht, um Interessenkonflikte zu lösen und seine Gemeinwohlaufgaben zu erfüllen. Das heimliche Eindringen in private Computer ist dem Staat grundsätzlich verboten, aber im Ausnahmefall doch gestattet; denn auch das Recht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme gilt nicht absolut. Mit der Hervorhebung dieser neuen Form von Persönlichkeitsschutz ist das Ringen um die rechtliche Begrenzung der staatlichen Ermittlungsbefugnisse also noch lange nicht beendet.

[1] BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 27. Februar 2008, 1 BvR 370/07 und 1 BvR 595/07, Leitsatz 2 Satz 1, abgedruckt u.a. in NJW 2008, 822 und DVB12008, 582.
[2] Ebd. Satz 2.
[3] Ebd. Satz 3.
[4] Zitiert nach Thomas Böckenförde, JZ 2008, 925-939 (925) (Fundstellen und weitere Belege für die „nahezu euphorische” Kommentierung des Urteils dort in Anm. 8).
[5]So zur Klarstellung der Berichterstatter des Senats in jenem Verfahren, Wolfgang Hoffmann-Riem, JZ 2008, 1009-1022 (1014), S.a. Abs. 196 ff. des Urteils (FN 1).
[6] Vgl. u.a. Gabriele Britz, DÖV 2008, 411 ff; Michael Sachs/Thomas Krings, JuS 2008, 482 ff.; Martin Eifert, NVwZ 2008, 521 ff; Oliver Lepsius, in: Roggan (Hrsg.), Online-Durchsuchungen, 2008, S. 21 ff.; Thomas Hoeren, MMR 2008, 365 f.; Hans Peter Bull, in: Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2008/2009, 2009, S. 317 ff.. Erwiderung auf die Kritik: Hoffinann-Riem, JZ 2008, 1009-1022 (1015 ff.).
[7] Uwe Volkmann, Urteilsanmerkung in DVB1 2008, 590 (591).
[8] BVerfG, U.v.27.2.2008 (FN 1), Abs. 218.
[9] BVerfG ebd. Abs. 258 ff.
[10] Volkmann (FN 7), 5.593.
[11] Volkmann (FN 7), S. 593.
[12] BVerfGE 80, 367.
[13] BVerfGE 80, 367 (373).
[14] BVerfGE 80, 367 (376 f£; abw. Meinung der vier anderen Richter S. 380 ff.), Ähnlich auch die Entscheidung zum „Großen Lauschangriff‘, BVerfGE 109, 279 (319), die in der Online-Entscheidung zitiert wird.
[15] Urteil vom 15. Dezember 1983, abgedruckt in BVerfGE 65, 1-71.
[16] Nämlich den Melderegisterabgleich nach § 9 Abs .l  und die Weitergabe von Einzelangaben ohne Namen (!) an fachlich zuständige Behörden des Bundes und der Länder sowie u.a. für Zwecke der Planung und des Umweltschutzes an Kommunen (§ 9 Abs. 2 und 3).
[17] Allerdings hat das BVerfG den Beschwerdeführern vollständige Erstattung ihrer Auslagen zugebilligt, also auch soweit die Verfassungsbeschwerden erfolglos geblieben waren, weil diese nämlich „Anlass zur Gesamtüberprüfung des Gesetzes gegeben und zu wesentlichen Beanstandungen geführt” hätten (BVerfGE 65, 1 [711).
[18] BVerfGE 65, 1(47).
[19] BVerfGE 65, 1(52).
[20] Vgl. etwa die entsprechende Äußerung des langjährigen italienischen Botschafters in Bonn: Luigi
Vittorio Ferraris, Wenn schon, denn schon – An meine deutschen Freunde, München 1988, S. 54.
[21] Dazu das Urteil des BVerfG v.11,3.2008, DVB1 2008, 575.
[22] Vgl. BVerfGE 115, 320.
[23] Einstweilige Anordnung des BVerfG v. 11.3.2008, DVB1 2008, 569.
[24] Hoffmann-Riem (FN 5) 5.1017.
[25] U.v. 27.2.2008, Abs. 241.
[26] Ernst-Wolfgang Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, WDStRL 28 (1970), S. 33-88 (80), auch in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 253-317 (284), s.a. ders., Demokratie
als Verfassungsprinzip, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 289-405 (344 ff.).

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