Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 189: Der ungeliebte Liberalismus

Die FDP zwischen Neo- und Ordoli­be­ra­lismus

Aus: vorgänge Nr. 189, Heft 1/2010, S. 78-85

„Ungeliebter“ Liberalismus – ungeliebte FDP? Am 27. September 2009 haben immerhin 6.313.023 Bundesbürger der FDP ihre entscheidende zweite Stimme bei der Wahl zum Deutschen Bundestag gegeben. Das entsprach 14,6 Prozent der Wahlberechtigten. Umgekehrt heißt das allerdings auch, dass über 85 Prozent der Deutschen sich nicht für den Liberalismus entschieden haben, so wie ihn die FDP vertritt. Und bei der Sonntagsfrage errechnete „Forsa“ am 17. Februar 2010 nur noch 7 Prozent für die FDP. Dann ging es wieder bergauf.

Die FDP wieder in der Regierung

Was war geschehen? CDU, FDP und CSU hatten 2009 eine Koalition im Bund unter der Führung der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel gebildet. Die FDP war nach 11 Jahren wieder Regierungspartei, und ihr Vorsitzender Guido Westerwelle wurde Vizekanzler und Außenminister. In dieser Funktion trotzte er der Union ab, dass Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV) und Mitglied des CDU-Bundesvorstandes, nicht in die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ berufen wurde, so wie die polnische Politik es verlangt hatte. Die Unions-Anhänger unter den FDP-Wählern von 2009 waren davon wenig begeistert.

Dann kam das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai 2010 sollten keine Steuersenkungen verwirklicht werden, obwohl es die FDP im Bundestagswahlkampf versprochen hatte. Die Union zögerte, und offenbar wollte die FDP ihr „Liberales Sparbuch“ noch einmal durchsehen, bevor sie den eigentlich notwendigen Schritt vor den Steuersenkungen tun würde. Aber eine homöopathische Dosis sollte doch schon einmal ausgeteilt werden: So kam es gleich zu Anfang der neuen Regierungszeit zu Steuererleichterungen für die deutsche Hotellerie. Auch die CSU hatte daran Gefallen. Doch die Hotelpreise sanken nicht. Obendrein geriet das Timing außer Kontrolle. Es wurde bekannt, dass der 79-jährige August Baron von Finck seit Oktober 2008 über eine Düsseldorfer Firma 1,1 Millionen Euro an die FDP überwiesen hatte. Finck ist unter anderem im Hotelgewerbe aktiv. Der Flop wurde bei der FDP festgemacht.

Die „Partei des organisierten Liberalismus“ wollte jetzt Gas geben mit ihren „Reformen“. Doch da hatte schon Andreas Pinkwart, FDP-Vorsitzender in Nordrhein-Westfalen, zusammen mit seinem Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers von der CDU vorgeschlagen, das Wachstumsbeschleunigungsgesetz wieder zu kassieren, obwohl ihm beide im Bundesrat gerade noch zugestimmt hatten. Die FDP folgte Pinkwart nicht, hatte aber einen Sündenbock für den Fall, dass die Wahl in „NRW“ schief ging.

Die FDP-Minister in der neuen Bundesregierung machten allesamt einen schlechten Einruck. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die einstige „Lauschangriff-Heldin“, wirkte blass und nicht präsent; Rainer Brüderle hatte persönlich peinliche Auftritte in der Öffentlichkeit; Dirk Niebel wurde intern als „Versorgungsfall“ gehandelt, und Philipp Rösler kündigte gleich zu Anfang seiner Amtstätigkeit seinen Abgang für den Fall an, dass er im Gesundheitsbereich die „Kopfpauschale“ nicht durchsetzen würde, was ihm der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer versprach.

Was mit „Gas geben“ gemeint war, verdeutlichte der Parteivorsitzende Guido Westerwelle, nachdem das Bundesverfassungsgericht entschieden hatte, dass vor allem die Kinderbeträge bei „Hartz-IV“ anders als bislang berechnet werden sollten. Westerwelle nahm die Entscheidung zum Anlass, um von „geistigem Sozialismus“ und von „spätrömischer Dekadenz“ zu sprechen. Arbeit müsse sich lohnen und mehr einbringen als ein Leben von Sozialtransfers, und die Arbeitenden dürften nicht die „Deppen“ der Nation sein. Es war nicht der Inhalt, über den sich die Öffentlichkeit anschließend aufregte, sondern der Ton, in dem der neue Außenminister sich äußerte. So kann man seine Anhängerschar verunsichern.

Die Quellen des freide­mo­kra­ti­schen Libera­lismus

Dabei bewegt sich alles, was die FDP 2009 und 2010 tat, im Rahmen dessen, was man „Liberalismus“ nennt.

Auf der einen Seite steht Friedrich A. Hayek Pate. Sein Hauptwerk ist „Der Weg zur Knechtschaft“.[1] Hayek hält den Sozialismus für den Totengräber der Freiheit. Mit der Erstauflage seines Buches 1944 wollte er belegen, dass es sich beim Nationalsozialismus „um eine Fortentwicklung des Sozialismus handelte“[2]. Und eine Neuherausgabe seines Werkes rechtfertigte er 1971 damit, dass die Jugend jener Zeit „glaubt wieder der Freiheit zu dienen, indem sie eine Wirtschaftsordnung befürwortet, die tatsächlich die Freiheit des Einzelnen auf das engste beschränken würde“.[3] Hayek beschwor die goldene Zeit des Liberalismus im 19. Jahrhundert und sagte, die Enkelgeneration des 20. Jahrhunderts habe es nicht geschafft, daran anknüpfend „eine Welt freier Menschen“ zu schaffen. Aber es müsse ein neuer Anlauf genommen werden: „Der leitende Grundsatz, dass eine Politik der Freiheit für den Einzelmenschen die einzige echte Politik des Fortschritts ist, bleibt heute so wahr, wie er es im 19. Jahrhundert gewesen ist.“[4] Freiheit jedoch lasse sich nur erreichen, wenn der Staat aufs Umverteilen verzichte, denn er sei nicht in der Lage, irgendeine „Gerechtigkeit“ herzustellen.

Eine ähnliche Denkweise wie bei Hayek lässt sich bei Milton Friedman feststellen. Friedman war Berater führender Politiker in der ganzen Welt. Er war herausragender Repräsentant der „Chicagoer Schule des Monetarismus“. Die Lehre des Monetarismus lehnt antizyklische staatliche Konjunkturpolitik ab und setzt auf die Selbstheilungskraft der Wirtschaft. Entscheidend sei, dass die Zentralbanken die Geldmenge dem realen Sozialprodukt anpassten. So sei ein kontinuierlicher Wirtschaftsprozess gewährleistet. Politische Parolen wie die vom „schlanken Staat“ gehen auf den Monetarismus zurück. In seinem Hauptwerk, „Kapitalismus und Freiheit“ geht Friedman auf die Ungleichheit in industrialisierten Ländern ein, deren Ausdruck die „Armut“ sei: „Das außergewöhnliche wirtschaftliche Wachstum in den westlichen Ländern während der letzten zweihundert Jahre und die weite Steigerung der Vorzüge des freien Wettbewerbs führten zu einer erheblichen Verringerung der Armut im absoluten Sinn in den kapitalistischen Ländern des Westens. Armut ist jedoch zum Teil ein relativer Begriff, und selbst in diesen Ländern leben offensichtlich viele Menschen unter Bedingungen, die der Rest der Bevölkerung als Armut bezeichnet. Eine Abhilfe, und in vielerlei Hinsicht die wünschenswerteste, liegt in privater Wohltätigkeit.“[5] Staatliche Sozialsysteme würden zu einer Verringerung privaten Engagements und zu einem Gefühl der Ungerechtigkeit führen, wenn sich nicht jeder gleichmäßig am Transfer beteilige. Dies jedoch sei in der Praxis kaum zu erreichen.

Andererseits hat der Ordoliberalismus ebenfalls die FDP beeinflusst. Als Ordoliberalismus wird hauptsächlich der deutsche Neoliberalismus bezeichnet, wie er sich in Reaktion zum Nationalsozialismus entwickelt hatte. Sein Hauptvertreter war Walter Eucken.[6] Bei der nationalsozialistischen Wirtschaftsadministration fand er wenig Anklang – umso mehr in der Bundesrepublik, besonders bewirkt durch Ludwig Erhard. Das Konzept beinhaltete: Schutz der individuellen Freiheitssphäre und vollständige Konkurrenz wurden als Wettbewerbsleitbild gesehen mit einer klar definierten Stellung des Staates. Die staatliche Wirtschaftspolitik habe die Aufgabe, einen allgemeinen Wettbewerb bei vollständiger Konkurrenz zu schaffen. Der vollständige Wettbewerb erfordere atomistische Marktstruktur, Marktransparenz und -information. Es dürfe keine Marktzugangsbeschränkungen geben. Der Markt würde nur bei vollständiger Konkurrenz funktionieren. Die staatliche Wirtschaftspolitik sei „Ordnungspolitik“ und müsse unter anderem für die Garantie des Privateigentums, eine Offenhaltung der Märkte, Preisniveaustabilität, Vermeidung von ökonomischen Machtkonzentrationen (Kartellrecht) und Vertragsfreiheit sorgen. Dies würde erreicht durch eine „Prozesspolitik“, die aktive Monopole und Oligopole verhindere, eine progressive Einkommenssteuer durchsetze, eine „richtige“ Wirtschaftsrechnung mit externen Effekten wie den Umweltkosten aufstelle und staatlicherseits bei anormalem Angebotsverhalten (z. B. Mindestlohn) interveniere.[7]

Auch Wilhelm Röpke gehörte zu den liberalen Theoretikern. Er sah den Staat in sozialer Verantwortung. Eine späte Veröffentlichung gibt seine Position schon im Titel wieder: „Marktwirtschaft ist nicht genug“.[8] Zwar war Röpke ein Marktwirtschaftler, betonte aber zugleich deren soziale Verantwortung. Für Röpke galt: „Das Wirtschaftsleben spielt sich nicht in einem moralischen Vakuum ab. Es ist vielmehr dauernd in Gefahr, die ethische Mittellage zu verlieren, wenn es nicht von starken moralischen Stützen getragen wird, die vorhanden sein und fortgesetzt gesichert sein müssen. Andernfalls muss schließlich ein System freier Wirtschaft und mit ihm die freie Staats- und Gesellschaftsordnung zusammenbrechen.“[9] Es sei Aufgabe der Politik, auch in der Marktwirtschaft die Schwachen zu schützen. Für sein Konzept verwendete Röpke den Begriff „Dritter Weg“.

Die FDP und der Sozialstaat

Guido Westerwelle und die gegenwärtige FDP halten es eher mit dem Liberalismus Hayeks und Friedmans. Der Ordoliberalismus stieg in den fünfziger Jahren – auch mithilfe der anfangs zögerlichen FDP – zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland auf. Die soziale Sicherheit wurde zur Kehrseite des Wirtschaftswunders. Besonders die Union und die SPD rüttelten nicht an diesem Konzept. Das ging bis zur Jahrtausendwende. Die hinzu gekommenen Parteien Grüne und PDS stellten das nicht infrage, obwohl im neuen Jahrhundert die Finanzierbarkeit des Sozialstaates an ihre Grenzen geriet. Die CDU unter Angela Merkel stellte daraufhin ihren Wahlkampf 2005 ganz liberal auf eine marktwirtschaftliche Linie ein. Sie warb für Kürzungen im Sozialsystem und kündigte „Heulen und Zähneklappern“ an. Damit hätte die Union beinahe die Wahlen verloren. Seitdem ist sie zum alten ordoliberalen Konzept zurückgekehrt. Und die SPD büßte 2005 die Kanzlerschaft ein, weil sie mit den „Hartz-Gesetzen“ eine Wendung gegen den Ordoliberalismus vollzogen hatte. Seitdem ist diese Partei innerlich zerrissen und befindet sich bei der Gunst von Mitgliedern und Wählern im Sturzflug. Sie will diesen Trend stoppen, und dafür muss sie zum Grundkonsensus zurückkehren.

Hier erkannte die FDP 2009 ihre Marktlücke. Im Wahlkampf präsentierte sie sich als Anwältin der „Mitte“, versprach „mehr Netto vom Brutto“ und betonte, dass „Leistung sich wieder lohnen“ müsse. Den durch die Wirtschaftskrise 2008 ff. verunsicherten Wählern versprach sie Steuersenkungen. Dabei hatte sie es leicht, sich von der großen Koalition abzusetzen, denn diese ließ sich als Verursacher keynesianischer Rettungspakete und bürokratischer „Monster“ wie dem Gesundheitsfonds hinstellen. Die Kanzlerin wurde beschrieben als Prinzessin des Liberalismus, die von sozialistischen Sozialdemokraten und ihren heimlichen Verbündeten bei der Linkspartei zu einem Ausbau des Sozialstaates gezwungen wurde. Angela Merkel spielte mit, indem sie die FDP als ihren künftigen Wunschpartner bezeichnete.

Viele Anhänger der Union, denen ihre Partei mittlerweile zu „sozialdemokratisch“ geworden war, folgten dieser FDP. Andere waren verunsichert durch die teuren Konjunkturprogramme und sorgten sich, dass diese am Ende von ihnen als Steuerzahler zu begleichen wären. Sie retteten sich in die Arme derer, die Steuerleichterungen versprachen, wohl in der Hoffnung, dass mit denen wenigstens keine Steuererhöhungen beschlossen würden. Wieder andere, wie Hoteliers, Ärzte und Apotheker erwarteten Wahlgeschenke von der FDP.

So speiste sich der Strom der 14,6 Prozent aus verschiedenen Quellen. Die FDP hatte das beste Bundestagswahlergebnis ihrer Geschichte erzielt. Nie wieder wollte sie noch einmal Juniorpartner der Union sein wie unter Helmut Kohl. Denn die FDP hatte gewonnen, die Union aber verloren: 33,9 Prozent war nicht gerade ein Traumergebnis für die Partei Konrad Adenauers.

Eigentlich hatte es zuvor so ausgesehen, als würde sich die FDP wandeln. Selbst der Parteivorsitzende zeigte vorübergehend so etwas wie Lernwilligkeit: Er wollte keine „18“ mehr an den Schuhsohlen haben und nicht länger Kanzlerkandidat sein. Doch die 14,6 Prozent machen ihn und die anderen FDP-Führer trunken.

Sie vergaßen ihr „Liberales Sparbuch“. Sie stellten den solidesten ihrer Finanzpolitiker, Otto Solms, kalt und präsentierten dafür Rainer Brüderle, Weingenießer aus der Pfalz. Sie polemisierten gegen den Sozialstaat, ohne zu sagen, was sie konkret ändern wollten. Sie kündigten einen Umbau des Gesundheitssystems an, ohne genaue Details und mögliche Verbündete zu nennen.

Dem Publikum drängte sich der Verdacht auf, es ginge weniger um „Hartz-IV“ Sätze und um Krankenkassen als um eine Weichenstellung im Parteiensystem: Schon war die Rede davon, „Schwarz-Gelb“ sei eigentlich fünf Jahre zu spät gekommen. 2010 müssten die Probleme der Gesellschaft eher mit „schwarz-grünen“ Konzepten gelöst werden. Das war der Grund, warum der Bundesumweltminister Norbert Röttgen von der CDU mit seiner Zurückhaltung gegenüber der Atomkraft so viel Aufmerksam erzielt hatte. Wurde hier ein schwarz-grünes Projekt angefüttert? Vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai 2010 und nach der Bundestagswahl 2009 hatte „Schwarz-Gelb“ im Bundesrat eine Mehrheit: 37 der insgesamt 69 Stimmen kamen aus Ländern mit Koalitionen von Union und FDP. Das waren zwei Stimmen mehr als erforderlich. Würde aber die schwarz-gelbe Regierung in Düsseldorf durch eine schwarz-grüne ersetzt und würden dadurch 6 Stimmen „abwandern“, kämen die parteipolitischen Verhältnisse in Deutschland zum Tanzen. Die FDP könnte ihr Programm nicht mehr durchsetzen, und die Union wäre eindeutig führende politische Kraft in Deutschland. Die Zukunft läge bei den Grünen.

Daher polemisierte der FDP-Vorsitzende im Vorfeld der Wahlen an Rhein und Ruhr gegen den Sozialstaat, daher versprach der Gesundheitsminister eine Reform des unpopulären Gesundheitssystems, ohne Ziele und Mittel konkret zu benennen In Nordrhein-Westfalen sollte im Mai 2010 noch einmal eine große Wählerschar für die FDP mobilisiert werden ähnlich wie es im September 2009 im Bund geschehen war. Wichtiger als die Bundestags- wurde die Landtagswahl. Ginge letztere für die FDP verloren, würde der Erfolg im September 2009 ein Pyrrhussieg für den Liberalismus bleiben. Kann sich aber die FDP 2010 in Düsseldorf in der Regierung behaupten, bekäme der Liberalismus noch einmal eine Chance in Deutschland.

Das Ende des Wester­wel­le-­Li­be­ra­lismus

Der „Westerwelle-Liberalismus“ beruht – eigentlich unliberal – auf einem Glauben: Wenn man den Leistungsträgern viel Freiheit gibt und ihnen möglichst viele Steuerlasten nimmt, bringen sie die Wirtschaft in Gang und schaffen Arbeitsplätze auch für die Leistungsschwachen. Nirgendwo auf der Welt ist bewiesen worden, dass das klappt. Welcher Leistungsträger würde Minijobs schaffen, wo es doch Maschinen gibt, die einfache Arbeiten erledigen oder wo man doch auf diese Arbeiten gleich ganz verzichten kann? Es werden keine Schaffner, keine Pförtner, keine Wärter, keine „Hilfen“ irgendwelcher Art wiederauferstehen, nur weil es den Leistungsträgern gut geht.

Im Falle eines Bestandes der schwarz-gelben Regierung dürfte sich das herausstellen, und damit hätte sich die ungeliebte Variante des Liberalismus erledigt. Dann könnte an den alten Neoliberalismus, den Ordoliberalismus angeknüpft werden und man müsste – auch bei der FDP – wieder Eucken und Röpke lesen. Es ist schon richtig, dass in einem Sozialstaat Arbeit mehr wert sein muss als Sozialtransfer, dass Unterstützung nicht zu Faulheit animieren darf und dass Hilfe, Hilfe zur Selbsthilfe sein muss. Ebenso richtig ist es, dass der Gesundheitsfonds ein bürokratische Monster ist, das beseitigt werden muss. Aber weg davon kommen wird nur, wer zwar die Marktwirtschaft für die Menschen einspannen will, zugleich aber soziale Maßstäbe zu ihrer Regulierung anerkennt. Die Tarifautonomie ist nicht gottgegeben, also hat der Staat das Recht, Mindestlöhne zu verordnen. Wer sich in der Marktwirtschaft durchsetzt, tut gut, aber er darf andere damit nicht beschränken. Der Staat muss zuviel an privater Macht beschneiden. Das Eigentum ist ein Grundwert des Liberalismus: Es darf jedoch nicht immunisieren. Der Grundsatz „Eigentum verpflichtet“ muss gelten. Und Bildung für jedermann ist in der Tat die Basis für eine liberale Gesellschaft; Bildung befreit den Staat aber nicht von der Sorge um Arbeitsbeschaffung allenthalben.

Der Liberalismus der FDP, will er nicht ungeliebt bleiben, kann sich nicht um die soziale Verantwortung drücken. Er muss sich abgewöhnen, den Staat als Zumutung für die Bürger zu begreifen, und sollte in ihm ein Instrument zur Herstellung von Gerechtigkeit sehen. Bislang will er das Recht für die Starken, begnügt sich mit der Zustimmung einer Minderheit der Bevölkerung und meint, dem Rest sein Modell aufdrängen zu können. Das wird aber nicht funktionieren. So wird sich denn herausstellen, dass seine Prämissen nicht eine Spielart in einem „liberalen“ Spektrum erzeugen, sondern nur einen Glauben an das Recht des Stärkeren hervor bringen. Glaube hat mit Liberalismus nichts zu tun. Und deswegen ist der gegenwärtige FDP-Liberalismus ungeliebt, auch wenn er gelegentlich viele Wählerstimmen hinter sich scharen kann.

Aber der Liberalismus hat noch immer ein Chance: Er muss sich nur darauf besinnen, was liberale Theoretiker nach 1945 gedacht haben, wie man einen erneuten Kulturverfall verhindern kann. Damals nannte man die so entstandene sozial verantwortliche Philosophie „Neoliberalismus“. Es wird Zeit, dass diese ihren guten Klang zurück gewinnt. Dann würde der Liberalismus wieder gebraucht werden.

Für eine Fortent­wick­lung liberaler Theorie

Mittlerweile hat sich auch die liberale Theorie weiter entwickelt. John Rawls erkannte Prinzipien der Gerechtigkeit. Sein Hauptgedanke war die „Gerechtigkeit als Fairness, eine Gerechtigkeitstheorie, die die herkömmliche Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag verallgemeinert und auf eine höhere Abstraktionsebene hebt.“[10] Der Begriff der „Fairness“ ist in der allgemeinen Öffentlichkeit, auch in der liberalen und der sozialdemokratischen Parteipolitik, seitdem aufgenommen worden. Hierunter wird ein allgemeines Einverständnis mit den Regeln verstanden, unter denen eine gerechte Ordnung angestrebt wird. Die Hauptwerke von Rawls sind „Politischer Liberalismus“[11] und „Eine Theorie der Gerechtigkeit“.[12] Eines der Hauptwerke Otfried Höffes trägt den Titel „Politische Gerechtigkeit“.[13] Höffe bemüht sich um eine Verbindung zwischen modernem Liberalismus und Gerechtigkeit, wobei er konstatiert: „Gerechtigkeit liegt erst dort vor, wo auch die Regeln (im großen und ganzen) gerecht sind.“[14] Es käme auf die Kunst liberaler Politik an, solche allgemein anerkannten Regeln der Gerechtigkeit zu entwickeln und durchzusetzen. Schließlich wies Michael Walzer, der sogar über einen „gerechten Krieg“[15] gearbeitet hatte, darauf hin, dass es in modernen Gesellschaften durchgehende Gerechtigkeit gar nicht geben könne.[16] Er trat daher für die Annahme einer „komplexe(n) Gleichheit“ ein. Diese könne erreicht werden, wenn die Verteilung sich auf „Sphären“ bezöge, die voneinander unterschieden seien, so dass es nicht möglich sei, dass ein Mensch aufgrund starker Macht in einer Sphäre in einer anderen eine ähnliche Stellung „erwirbt“. Der Wert von Gütern werde von der Gemeinschaft definiert und sei nicht absolut.

Perspektive Bürger­ge­sell­schaft

So wird vieles darauf ankommen, ob der parteipolitische Liberalismus zu einer relevanten Form finden kann, indem er sich auf Theoretiker wie Rawls, Höffe oder Walzer stützt und den aktuellen Liberalismus der FDP überwindet. Auf Anerkennung und Relevanz kann der gegenwärtig weitgehend ungeliebte Liberalismus in Deutschland hoffen, wenn er eine faire Gerechtigkeit anstrebt, die weitreichend legitimiert ist, weil sie diverse und voneinander unabhängige Sphären der menschlichen Profilierung berücksichtigt. Der Liberalismus wird sich dem fragilen bürgerschaftlichen Sektor der Projekte und Initiativen nähern müssen, wenn er ein modernes „liberales Milieu“ für sich einnehmen will.[17] Diese Perspektive ist für traditionelle Parteiorganisationen zwar risikoreich, für den Liberalismus und seine Fortentwicklung lässt sie aber Erfolg und Aktualität erwarten.

Es könnte noch spannend werden.

[1 ]Friedrich A, Hayek 2007, Der Weg zur Kechtschaft, München.

[2 ]a. a. O., S, 15.

[3] a. a. O., S. 17.

[4] a. a. O., S. 295.

[5] Milton Friedman 2008, Kapitalismus und Freiheit, München Zürich, S. 227 (englisch: Milton Friedman, Capitalism and Freedom. Chicago and London 2002).

[6] Walter Eucken 1989, Die Grundlagen der Nationalökonomie, 9. Auflage, Berlin/Heidelberg/New York/London/Paris/Tokyo/Hong Kong.

[7] Ralf Ptak 2004, Vom Ordoliberalismus zur Sozialen Marktwirtschaft. Stationen des Neoliberalismus in Deutschland, Opladen.

[8] Wilhelm Röpke 2009, Marktwirtschaft ist nicht genug Gesammelte Aufsätze, Waltrop und Leipzig.

[9] a.a.O., S. 285.

[10] John Rawls 1975, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main, S. 19.

[11] John Rawls 1998, Politischer Liberalismus, Frankfurt am Main (englisch: Political Liberalism, New York 1993).

[12] John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, a. a. O.

(Erscheinen der englischen Originalausgabe A Theory of Justice, Harvard 1971).

[13] Otfried Höffe 1987, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M.

[14] a.a.O.,S.46.

[15] Michael Walzer 1982, Gibt es einen gerechten Krieg?, Stuttgart.

[16] ders. 2006, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gerechtigkeit, Frankfurt am Main.

[17] Es existieren auf diesem Gebiet bereits Institutionen wie z.B. das „Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE)“. „Das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) ist ein Zusammenschluss verschiedener Vereine, Verbände, Initiativen und Organisationen aus den gesellschaftlichen Sektoren Staat und Kommunen, Wirtschaft und Arbeitsleben und Bürgergesellschaft. Vertreterinnen und Vertreter dieser drei Sektoren arbeiten in Arbeitsgruppen zu unterschiedlichen Themen zusammen. Das BBE leistet einen Beitrag zur Debatte um die Neudefinition gesellschaftlicher Verantwortungsrollen der verschiedenen Akteure aus Staat, Wirtschaft und Bürgergesellschaft und wird durch die Gremien des BBE wie in den Vorjahren fachlich begleitet und betreut.“ S. http://www.engagement-macht-stark.de/index.php?option=com_content&task=view&id=14&Itemi d=119.

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