Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 189: Der ungeliebte Liberalismus

Kein Wahres im Falschen

Wolfgang Engler schreibt eine Geschichte des unaufrichtigen Ganges;

aus: vorgänge Nr. 189, Heft 1/2010, S. 116-118

„Der strukturelle Betrug des neoliberalen Systems hat tiefe Wurzeln im Habitus der Individuen geschlagen. Sie lügen und betrügen, weil sie ihr Wohnrecht im Lügengebäude höher schätzen als den Umgang mit ihresgleichen auf der Straße.“ (Engler 2009)

Die Beschäftigung mit einer „Soziologie der Lüge“ ist gerade in der fortgeschrittenen Moderne ein gewinnbringendes Unterfangen. Auch wenn seit Simmel (vgl. Simmel 1992) kaum ein ebenso allgemeiner wie systematisch-theoretischer Zugriff auf das Thema erarbeitet worden ist , lässt sich doch beispielsweise an der Sprache (vgl. Hettlage 2003, Meyer 2007), an der Werbung bzw. der Kulturindustrie oder aber an der Politik und ihren Akteuren eine Verquickung des modernen Lebens mit der Lüge aufzeigen.

Wolfgang Engler, Lüge als Prinzip, Aufrichtigkeit im Kapitalismus. Aufbau Verlag Berlin 2009, 213 S., 19,95 €.

Ziel einer so ausgerichteten Soziologie der Lüge müsste es sein, manipulative Herrschaftsstrukturen und verfestigte Formen von Lüge in Institutionen und Positionen aufzudecken und sie gleichzeitig mit der soziologischen Theorie zu verweben.

Bei Wolfgang Englers Buch „Lüge als Prinzip“ gilt es den Untertitel ernst zu nehmen. Der in der „scientific community“ gut bekannte Soziologe aus Berlin ist weniger an einer Aufdeckung von Lügen als dem Kapitalismus immanente Strukturen interessiert, als der Titel vermuten lässt. Vielmehr unternimmt Engler den Versuch einer Ontogense von Aufrichtigkeit, dem Gegenteil der Lüge, sowie deren Verhinderung durch die Konstitution einer funktional differenzierten Moderne. Das Interesse des Buches ist also auf die Genesis der bürgerlichen Gesellschaft, auf die Ablösung des Bürgertums aus den abhängigen Banden von Adel und Kirche gerichtet; doch rührt das Anliegen des Autors aus einem früheren Unterfangen.

Der ostdeutsche Soziologe Engler erhielt im Jahr 1987 eine Einladung nach Klagenfurt, wo er einen Vortrag über die „Aufrichtigkeit als verschollene diskursive Formation“ hielt. Der Blick von einem politischen und gesellschaftlichen System auf ein anderes erwies sich ihm als hilfreich, um mittels dieser Außenseiterposition Zusammenhänge zu erkennen, die von innen durch Selbstverständlichkeiten womöglich überdeckt wurden. Weder war das staatssozialistische System noch sein bundesrepublikanisches Gegenüber frei von Lüge.

Für die Gegenwartsgesellschaft stellt Engler nunmehr gut 20 Jahre später eine ernüchternde Diagnose: „Die Allgegenwart von Lüge und Verstellung schneidet das Leben von seiner sozialen Wurzel ab, dem mitmenschlichen Grundvertrauen, und gipfelt regelmäßig im Verrat.“ Diese Position ist durch einen soziologisch legitimen Pessimismus, aber auch durch die Uneinlösbarkeit eines Mutes zur Schwäche, gekennzeichnet. Jene Schwäche fordert die Aufrichtigkeit doch vom Subjekt erst ein. Gewiss kann Engler kaum den Anspruch erheben, der Aufrichtigkeit den Platz in der Gegenwartsgesellschaft einzuräumen, der ihr noch in der frühbürgerlichen Moderne gegeben war, doch gilt es zumindest zu fragen, woher sie kommt und wohin sie geht. Wer also heute von Lüge spricht, darf auch von ihrem Gegenteil, der Aufrichtigkeit, nicht schweigen. Denn aus soziologischer bzw. anthropologischer Perspektive gilt: „Aufrichtigkeit als Aufklärung für den sozialen Hausgebrauch befriedigt ein Bedürfnis, das unauslöslich in uns allen steckt“. Wieso ist aber in unserer heutigen Gesellschaft kaum mehr von Aufrichtigkeit die Rede?

Zur Beantwortung dieser Frage bemüht der Autor die Gesellschaftsgeschichte (bis ins frühe 16. Jahrhundert) und zeichnet die Genesis der modernen spätkapitalistischen Welt aus der frühen bürgerlichen nach. Seine Schrift lässt sich demnach einreihen in die jüngst wieder entdeckte historische Soziologie des Bürgertums, in welcher der Akteur seine Emanzipation als politische, ökonomische und kulturelle Strategie durchzusetzen versucht. „In doppelter Frontstellung zum Klerus und zur Aristokratie einerseits, zum bindungslosen Bourgeois andererseits konstituieren sich die Bürgerlichen als Gemeinde der Aufrichtigen, als Menschen sans phrase.“ Doch kann sich die Aufrichtigkeit ähnlich wie ihr sozialer Träger kaum unbeschadet in die Moderne retten.

Dafür gibt Engler mehrere Beispiele: Die Sprache, die, um aufrichtig zu sein, eine Kommunikation ohne Absichten hinsichtlich des Hörenden hegt, wird bereits früh als Utopie entlarvt und von unterschiedlichen philosophischen Strömungen kritisiert. Der pädagogische Diskurs, der die Schwächen des Einzelnen nicht verstecken, sondern offenbaren und sich ungeschützt äußern will, scheitert daran, dass er ein einseitiges Unterfangen beschreibt, das keinen gleichberechtigten Rollentausch zwischen Erzieher und Zögling vorsieht und somit der Täuschung verdächtig und anfechtbar ist. Und auch in ökonomischer Sicht unterliegt die Aufrichtigkeit; denn der siegreiche Marktliberalismus „lehnte die Vorstellung einer nach sozialen Gesichtspunkten gelenkte Wirtschaft rigoros ab.“

Engler verknüpft die Gesellschaftsgeschichte mit einer Theorie sozialen Differenzierung und mit Verweisen auf Foucaults Disziplinargesellschaft. Explizit richtet er sich gegen eine Theorie kommunikativen Handelns à la Habermas, denn: am „Schwall der begründeten Rede lässt sich nichts festmachen“, was Engler mit Luhmann gleich mehrmals betont.

In der marktförmigen, massenmedialen, funktional-differenzierten Moderne bleibt letztlich kein Platz für die Aufrichtigkeit, deren Vorbild in der bürgerlichen Intimität zu suchen ist. „Unter ihrem neuen Regisseur, dem Markt bewirkte die Aufrichtigkeit quer durch die Gesellschaft die Wahrnehmung sozialen Scheiterns als persönliches Versagen. (…) Das gilt bis heute.“

Doch verschwindet die Aufrichtigkeit nicht auf einen Schlag, sondern zerfällt, wie alle Bestandteile der bürgerlichen Kultur, in Fragmente, an die gelegentlich von verschiedenen Seiten appelliert werden kann, ohne dass ihre sozialen und historischen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden.

Die Frage drängt sich also auf, wie Aufrichtigkeit in einer funktional differenzierten Moderne eingelöst werden kann, in der bereits strukturelle Mechanismen der Unaufrichtigkeit herrschen. Engler betont: „Als Bürger unter Bürgern fährt man mit der Wahrheit besser – auf lange Sicht, kurzfristig mag die Lüge diesen oder jenen Vorteil bringen.“ Bleibt Aufrichtigkeit daher eher eine Angelegenheit für den kleinen, alltäglichen Bereich, eher ein Anliegen der Gemeinschaft, denn der Gesellschaft? Hier verharrt der Autor allerdings beim bloßen Plädoyer für Echtheit, Selbsterforschung und Selbstverwirklichung. Mit Bezug auf das Vorrücken der Arbeit in die Lebenswelt schreibt er: „Wir müssen lernen, den Bürger und den Menschen unabhängig vom Arbeiter, vom Lohnarbeit leistenden Individuum zu denken und ihre Rechte einzusetzen“.

Ein ehrenhafter Anspruch allemal, doch wie dieser umzusetzen ist bleibt ungeklärt. An anderer Stelle ist zu lesen: „Authentizität meint und bezweckt die Aufdeckung und Anerkennung des Fremden im Eigenen.“ Das klingt schlüssig, doch wie ist dies zu erreichen? Unberücksichtigt bleibt auch die damit verknüpfte Diskussion um die Möglichkeiten einer stabilen Identität in der Spätmoderne, die ein Anerkennen des Fremden im Eigenen erst erlaubt. Hier sind auch kritischere und weit weniger optimistische Einschätzungen denkbar. So lässt die Lektüre des Buches den Leser ein wenig verwirrt und unbefriedigt zurück.

Nicht zuletzt die Sprach- und Zitatverliebtheit Englers – man könnte dies auch Kreativität nennen – führt dazu, dass am Ende kaum mehr als einen knapper Abriss der Geschichte der Gegenwartsgesellschaft unter dem Vorzeichen der (mangelnden) Aufrichtigkeit übrig bleibt. Man vermisst zudem ein wenig die (soziologische) Systematik, welche die breit zusammengetragenen Erkenntnisse auf den Punkt bringt und mit anderen aktuellen Diskussion um die Lüge, aber auch z. B. um die Renaissance der bürgerlichen Identität verbindet. Englers Fragment bedient sich immerhin eindrucksvoll aus dem breiten Fundus bürgerlicher Literatur zu Aufrichtigkeit und gibt Anlass sich intensiver und aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Lüge und eben auch mit ihrem Gegenteil, der Aufrichtigkeit, in der Moderne zu beschäftigen.

Literatur

Hettlage, Robert (Hg.) 2003: Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen -Leben in der Lügengesellschaft. Konstanz.

Meyer, Claudia 2007: Lob der Lüge. Warum wir
ohne sie nicht leben können. München.

Simmel, Georg 1992: Zur Psychologie und Soziologie der Lüge. In: Heinz-Jürgen Dahme und David P. Frisby: Georg Simmel Gesamtausgabe in 24 Bänden, Band 5: Aufsätze und Abhandlungen 1894-1900. Frankfurt a. M..

Stiegnitz, Peter 2008: Lügen -aber richtig! Die
angewandte Theorie der Lüge. Wien.

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