Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 189: Der ungeliebte Liberalismus

Serious men?

Die Liberalen im Test;

aus: vorgänge Nr. 189, Heft 1/2010, S. 60-68

Derzeit hat die liberale Partei ein Problem mit ihrem Anführer: Je ernster er sich nimmt, desto weniger ernst nimmt ihn sein Publikum. So viel Courage, kritisiert man, kann nur zeigen, wer vor seiner Courage keine Angst haben muss: das Privileg der Opposition. Doch dieser Liberale regiert – und nimmt folglich den Mund zu voll.

Freilich ist auch er nur Sprecher – er sagt nicht, was ihm auf der Zunge liegt, sondern das, was ihm andere in den Mund gelegt haben. Diese Anderen sind die „geistigen Ahnen“, sie amtieren als Einsager und Vorbeter. Sämtliche Parolen, deren Marktwert gerade getestet wird, entstammen einem Fundus, der sich über lange Zeiträume hinweg angesammelt hat. Die eigentliche Frage lautet daher: Worin liegt das Seriositätsproblem des liberalen Standpunkts?

I. Biedermann oder Brand­stif­ter?

Was heißt es überhaupt, Liberalität ernst zu nehmen? Manchmal geht es um Menschenrechte oder Machtkontrollen. Doch häufig zielt die Frage – so wie auch jetzt – aufs Ökonomische. Liberale stehen in dem Ruf, konsequente Verteidiger marktwirtschaftlicher Verhältnisse zu sein. Was verteidigen sie da? Je nachdem, welche Zeugen und Ahnen zu Wort kommen, erhält man zwei sehr unterschiedliche Antworten, sprich: Beschreibungen von Wirtschaftswelten. Entweder steht die Ruhe (der Ordnung) oben an – oder alles dreht sich ums Risiko (der Freiheit).

In der einen Welt ist das Leben saturiert und sozialverträglich. Gefährliche Leidenschaften haben sich auf dem Markt beruhigt; aus rastlosen Trieben sind friedlichen Interessen geworden, deren gesellschaftlicher Abgleich auf wundersame Art („unsichtbare Hand“) eine dauerhafte Balance zum Wohle aller herstellt (A. O. Hirschman). Dagegen präsentiert sich die zweite Welt als Reich der „schöpferischen Zerstörung“ (Joseph Schumpeter). Sie wird andauernd durcheinander gewirbelt, Gleichgewichtszustände huschen rasch vorüber, und niemand sehnt sich nach ihnen. Das Leben ist Bewegung, voller Risiken, die nicht nur akzeptiert, sondern sogar gesucht werden: Wirtschaften als ebenso passioniertes wie rücksichtsloses Geschäft. Beide Lebensformen sind liberal, doch sind sie auch gleichwertig?

Nehmen wir, um der Sache etwas weiter auf den Grund zu gehen, Max Frischs Gottlieb Biedermann, seines Zeichens Chef einer Haarwasserfabrik. Er sieht tatenlos mit an, wie ihm drei ungebetene Gäste das Haus über dem Kopf abfackeln. Diese Brandstifter, sagt ihr Schöpfer, symbolisieren keine äußere Bedrohung durch fremde Mächte – sie sind innere „Dämonen“, Strafen für die „unwahrhaftige“ Lebensweise ihres Opfers. In welchem Sinne kann eine respektable Haarwasserfabrikanten-Existenz unwahrhaftig sein? Darauf gibt es offenbar nur diese Antwort: Biedermann hat das „gute“ Risiko um der „schlechten“ Ruhe willen verraten. Im Grunde fängt es schon damit an, dass er Geld nicht aus Geld, sondern aus Haarwasser macht. Diese Weichenstellung markiert sein weiteres Leben.

Biedermann hätte auch „Spekulant“ werden und mit (nicht-stinkendem) Geld handeln können: ein virtuoser Zahlenjongleur, der im Dunkel „der ausgeblendeten Wirklichkeit“ (Andreas Zielcke) virtuelle Transaktionen abwickelt. Doch er ist nun mal „Fabrikant“ geworden und führt deshalb eine „wirkliche“ Existenz: über Produkte an reale Weltausschnitte gekoppelt, als Produzent um allerlei Verträglichkeiten bemüht, durch Produktionsprozesse vielfältig geerdet. Sein Wirtschaftsleben ist „unrein“, grundsätzlich kompromittiert – und jene Dämonen sind Bälger dieses Kompromisses. Ihrer könnte sich Biedermann nur erledigen, wenn er selbst zum Brandstifter würde. Allgemeiner formuliert: Liberal (im eigentlichen Sinne) sein heißt, für das Risiko die Ruhe zu opfern.

II. Übermaß und Untergang

Dieses Opfer – wie jedes eher unwahrscheinlich – findet tatsächlich statt. Man erinnere sich an Adolf Merckle, die archetypische Unternehmergestalt aus dem Schwäbischen. Ehrbar alt und vermögend geworden, verlässt er über Nacht den Pfad rechtschaffener Ruhe, um voller Elan ins riskante Geschäft des zockenden Spekulantentums einzusteigen. Der Wahnsinn kostet ihn ein Vermögen.

Wer wagt, kann verlieren – final, keineswegs nur in Form von Tagesverlusten. Davon schweigen die meisten Sänger der Spekulation. Welcher Trost wird dem Glücklosen zuteil? Responsibility is what keeps our lives from being trivial (C. Murray). Bilderbuchliberale sind gute Verlierer und zahlen den Preis des Pechs: Verkauf der Yacht, Verzicht aufs Landhaus, Vertreibung aus feinen Kreisen, Verbringung ins Gefängnis etc. pp. Ob ihr Leben dadurch weniger trivial ist, sei dahin gestellt, weniger Komfort bietet es auf jeden Fall. Weshalb das liberale Fleisch nicht selten schwach wird, wenn der liberale Geist Verantwortung übernehmen soll.

Auch unser spekulierender Fabrikant kneift am Ende, auf seine Weise: „Adolf Merckle ist tot. Adolf Merckle hat für seine Familie und seine Firmen gelebt und gearbeitet. Die durch die Finanzkrise verursachte wirtschaftliche Notlage seine Firmen und damit verbundenen Unsicherheiten der letzten Wochen sowie die Ohnmacht, nicht mehr handeln zu können, haben den leidenschaftlichen Familienunternehmer gebrochen und er hat sein Leben beendet“ (FAZ). Selbstmord ist keine Verantwortung, sondern etwas ganz Anderes: „eine Frage der Ehre“ nämlich, damit die Antwort des abgestreiften Fabrikantengemüts, das sich im Tod zurückmeldet.

Entsprechend gequält gerät das pflichtschuldige Echo auf den peinvollen Suizid. Die Hinterbliebenen preisen den Akt nicht am Altar des Unternehmergeists, sondern hüllen ihn in verlegenes Schweigen. Finanzkrise, Notlage, Unsicherheiten, Ohnmacht: alles soll den Hasardeur psychisch demontiert haben, nur nicht sein letaler Ausflug ins riskante Zockerreich. Man ist eher peinlich berührt. Hat er nicht übertrieben? Weder das eine – Zocken – noch das andere – Sterben – hätte sein müssen! John Stuart Mill formuliert die Maxime der „limitativen“ Verlegenheit: Man soll nichts „auf die Spitze treiben“. Bis heute gibt es diesen viktorianischen Horror vor dem Extrem; er stuft überspitzt riskantes Verhalten als Hochmut ein, der mit Recht vor den Fall kommt, anstatt im Fall einen Beleg dafür zu sehen, dass jemand etwas gewagt hat (E. Freedgood).

Ruhe als Norm – eine Defensivmoral des schlechten Gewissens. Das keineswegs sein müsste, wie sich zeigt, sobald man dem Geheimnis spekulativer Erfolge auf die Schliche kommt.

III. Vom Haarwasser zum Hedgefonds

Wenn Haarwasserfabrikanten das unauthentische („unwahrhaftige“) Wirtschaftsmenschentum repräsentieren, dann stehen Hedgefonds-Manager für die Wahrhaftigkeit der „Brandstiftung“. Tatsächlich bevölkern den Finanzmarkt genügend Dämonen. Adolf Merckle hat diese Luft nur schnuppern dürfen, andere sind in ihr groß geworden. Etwa, zur selben Zeit für Pressemeldungen gut, Jérome Kerviel, genannt „Jérome allmächtig“, ein unauffälliger Aktienhändler, dessen riskanter Trading-Stil seiner Bank Verluste in Milliardenhöhe beschert (R. Jungbluth).

Kerviel und seinesgleichen bedienen die Angstphantasien ihrer biederen Umwelt. Vom Spekulationstrieb angefressen jonglieren solche Dämonen mit gigantischen Summen, vollkommen weltvergessen, ohne Sinn für soziale Risiken und den menschlichen Kosten des monetären Fanatismus gegenüber strukturell unsensibel. Allerdings sind sie auch geborene Verlierer, irgendwann geht die Glückssträhne zu Ende, und das Schicksal kehrt sich gegen sie. „Glückliche“ Spekulanten agieren anders. Der „erfolgreichste Wall Street-Unternehmer der letzten zehn Jahre, möglicherweise sogar seit dem Krieg“, wird berichtet, „ist ein Hedgefonds-Manager namens John Paulson.“ Seine bevorzugten Anlagegeschäfte zählen zu den sichersten Investitionsarten, getätigt nach dem Prinzip Watch the downside; the upside will take care of itself. „Watching“ bedeutet hier keineswegs nur, dass man etwas nicht aus den Augen verliert – es gilt, den höchstmöglichen Analyseaufwand zu treiben. Paulsons Leute „haben über Zahlenreihen gebrütet, mit Logarithmen und logistischen Funktionen herumexperimentiert und unterschiedlichste Szenarien durchgerechnet“, nachgerade obsessiv darauf bedacht, latente Risiken ausfindig zu machen. Handlungsleitend ist die Frage: How much can we lose on this trade? (M. Gladwell).

Das könnte auch aufs Haarwassergeschäft passen und klingt eher wie Buchhaltung als nach Spekulation. Die Paulsons unserer Tage deswegen in ein Accounting-Raster zu zwängen, wäre sicher falsch; aber noch weniger träfe es ihre Mentalität, würde sie mit der von Glücksrittern verglichen. Da wird genau gerechnet, vorsichtig abgewogen, strategisch geplant und stets abwartend reagiert – the daredevil enterpreneur dürfte ein liberaler Mythos sein, ohne Bodenhaftung ausgerechnet dort, wo er angeblich seine reinste Verkörperung erlebt. Zumal Paulson durchaus keine Ausnahme ist – seine Disposition kehrt bei vielen Brandstiftern, die es zu etwas gebracht haben, wieder: Ohne inneren Biedermann geht es nicht (Villette/Vuillermont).

Doch der Mythos hat vorderhand gesiegt. Biedermanns Rückkehr findet darum an Hintertüren statt. Das viktorianische Hochmut-kommt-vor-den-Fall-Geraune ist eine davon. Weitere folgen sogleich.

IV. Der Konfek­ti­onär im Tier

Paulsons Erfolgsgeschichte lässt ahnen: Am Werk ist, viel häufiger als man denkt, eine Ausgeburt des Kalküls, die keine Spontaneität verträgt, nichts dem Zufall überlässt, Ungewissheit verabscheut und darum das liberale Reich der Freiheit niemals erreichen wird. „Uncertainty makes us free“ – wenn interessierts? „The willingness to plunge into the unknown“? Undenkbar. Dafür bedarf es anderer Typen. Keynes hat sie animal spirits getauft.

Von diesem Esprit heißt es, dass ihn das Objekt seiner Begierde überhaupt nicht kümmere: er hantiere mit Haarwasser (oder Kokosnüssen oder Kokolores gleich welcher Art) genau so weltvergessen wie mit Hegdefonds (G. Gilder). Dafür gibt man uns ein sprechendes Beispiel: Um 1970 herum ließ sich eine libanesische Familie in Massachusetts nieder. „Ihr Startkapital waren ein paar lumpige Dollar und noch weniger englische Wörter. Sie investierten ihre Dollars in einen verfallenen Laden an einer Ausfallstraße und richteten dort ein Gemüsegeschäft ein.“ Alle „sechs Kinder beteiligten sich durch fleißige Mitarbeit an dieser Kapitalisierung. Der Laden war bis spät abends geöffnet und hatte bald einen festen Kundenstamm.“ Einige Zeit später erwarb der Libanese „das größte Bürogebäude“ seiner Heimatstadt. Dem sollten bald „ein Herrenmodengeschäft und ein kleines Einkaufzentrum“ folgen (Gilder). Alles passiert innerhalb weniger Jahre und ist vom Ruch des unerklärlichen Glücks dadurch befreit, dass in der Region zwei weitere Libanesen einen vergleichbaren Aufstieg erlebt haben.

Einwanderer sind offenkundig die besseren Liberalen.

Selbstredend stecken hinter staunenswerten Karrieren wie diesen mehrere Geheimnisse. Harte Arbeit und familiäres Engagement gehören dazu, aber auch Optimismus, Vorstellungskraft und der Glaube ans eigene Glück. Doch alle diese Ingredienzen befähigen eben nur zur Führung von Haarwasserfabriken. Ein Gottlieb Biedermann kommt mit ihrer Hilfe über die Runden, sie nähren seinen lauen Erfolgshunger, den behaglichen Ehrgeiz. Was fehlt, ist der grenzüberschreitende Kick des spekulativen Moments: the impulse to gamble and to risk (Gilder). Unser Parade-Unternehmer bleibt eben nicht auf dem Gemüsegeschäft sitzen, sondern erobert riskantes, fremdes Terrain, steigt ins Immobiliengeschäft ein und als Herrenausstatter auf. Egal was – Hauptsache, das ökonomische Abenteuer geht weiter.

Wirklich? Das biedere Ende kommt schnell: The Animal posiert stolz „im dreiteiligen Anzug auf den Fotos der Handelskammer“. Eine Bestie im Dreiteiler, arriviert statt animalisch. Der vitale Libanese wird zu Biedermanns Kompagnon im Geiste. Und es ist gut so, offenbar.

V. Gerani­en-­Li­be­ra­lismus

Wer nach „Vitaliät“ ruft, müsste zum politischen Sturm aufs geistige Biedermeier blasen, die wohl versorgte Liberalität anprangern und dem Risiko den liberalen Stammplatz sichern: Nicht Versorgungsstaat, sondern Vitalpolitik! Diese Parole hat Walter Rüstow ausgegeben, vor Zeiten ein renommierter Wortführer des liberalen Lagers. Wie kümmerlich das Feuer, dessen Glut man hier anfacht, in Wirklichkeit ist, zeigt sich daran, dass als Maß aller Dinge die „befriedigende Vitalsituation“ gilt. Lebendig und befriedigt? Es riecht nach Zoo, nicht wie Wildnis.

Der Lebenskräftiger verbindet die beiden Pole auf seine eigene Weise: „Wenn eine Familie“, schwärmt er, „ein Eigenheim auf dem Lande hat, mit Garten und so weiter, dann ist ihre Vitalsituation schon völlig anders als in der Mietwohnung einer großstädtischen Straßenschlucht. Wie viel besser es die Kinder auf dem Lande haben, das brauche ich nicht erst auseinander zusetzen, wenn sie Auslauf haben, wenn sie in der freien Natur leben, wenn tausend pädagogische Probleme, die in der Stadt nicht lösbar sind und zu immer neuen pädagogischen Explosionen und Katastrophen führen, gar nicht erst entstehen.“ Usw. usf. Im Ganzen herrscht eitel Freude, rundherum: „eine erfreuliche Kindheit, ein erfolgreiches Arbeitsleben mit erfreulichem Weekend und erfreulichen Ferien“ und natürlich auch „ein erfreuliches Alter“.

„Requiescat in pace“ möchte man dem toten Unternehmergeist hinterher rufen. Kein Risiko kommt bei Rüstow vor, es gibt kein Scheitern, kein Schwung ist spürbar, kein Ehrgeiz brennt, der den Markt übertölpeln will, und kein brandstiftendes Flämmchen leuchtet. Stattdessen eine zwergenhafte Idylle vom saubergefegten Eigenheim im blumengeschmückten Dorf, mit friedlich spielenden Kindern unter den fürsorglichen Augen rüstiger Rentner. Kreative Unruhestifter oder tierische Gewinnmargen sind dieser Welt genauso fremd wie städtische Straßenschluchten.

Walter Rüstow lag mit Friedrich August Hayek über Kreuz, dem prominentesten aller (Neo-) Liberalen. Nicht ohne (sachlichen) Grund, wie es scheint. Denn Hayek klassifiziert die beharrliche Freude an bescheidenen Bedürfnissen und kleinteiligen Verhältnissen als mentalen Defekt. Wer so denke, sei für „offene Gesellschaften“ weder „intellektuell noch moralisch hinreichend reif“. Seiner Meinung nach verrät das putzige Ideal primitives Denken. Dringend sei es daher, einer asozialen Abstraktheit (von Regeln) die notwendige Akzeptanz zu verschaffen

VI. Die Hochzeits­ge­sell­schaft

Abstrakte Regeln sind ergebnisoffen, der freie Markt ist (auch) Glückssache. In Hayeks Worten: The aim of policy in a free society cannot be a maximum of foreknown results. Wer die liberale Sache verrät und das spekulative Moment scheut, wird sich gegen diese Zumutung wehren: „Risiken sind mit dem Eintritt überraschender Veränderungen untrennbar verbunden. Wir können nur zwischen zwei Alternativen wählen: Entweder der unpersönliche Markt lädt das Risiko des Wandels den Individuen auf, die sich gegebenenfalls, um Einkommensverluste zu vermeiden, entsprechend neu orientieren müssen; oder Willkür und Macht entscheiden darüber, wer die Last tragen soll – die dann aber zwangsläufig größer ist, als wenn der Marktmechanismus zum Zuge gekommen wäre.“

Den Aufstieg der marktfeindlichen Primitivität gilt es rechtzeitig zu bremsen. Hayek macht dafür Kostengründe geltend, bei anderer Gelegenheit auch Freiheitsverluste. Herbert Spencer, sein viktorianischer Stammvater, macht deutlich, was eigentlich auf dem Spiel steht – und stehen muss, um den Markt, seiner zahllosen Gräuel zum Trotz, gesellschaftsfähig zu machen: Evolution, der Fortschritt des Menschengeschlechts. Spencers Grundgedanke ist es, die Massen durch einen länglichen Ausscheidungsprozess zu schicken, an dessen Ende nur noch (ökonomisch) vitale Exemplare übrig bleiben.

Die fatale Freiheit des Einzelnen bringt so das finale Glück für alle (Überlebenden): „the ultimate perfection“ (Spencer). Doch bis es soweit ist, fällt viel Leiden an. Noch lange werden Freiheit und Fiasko untrennbar zusammengehören – weder Schwache noch Kranke, weder Alte noch Arbeitslose haben per se ein Existenzrecht. Wenn man nun, wie Hayek, „sozialistische“ Marktkorrekturen für primitiv hält und mit aller Macht gegen sie ins Feld zieht: Was passiert dann mit den Überflüssigen? Schon Spencer hatte sich dieser Fragen zu stellen. Er ging, aus Erfahrung bereits damals resignativ geworden, davon aus, dass das Leid flächendeckend in Mitleid umschlagen und soziale Härte in ein liberales Hirngespinst verwandeln würde: „There are many very amiable people – people over whom in so far as their feelings are concerned we may fitly rejoice – who have not the nerve to look this matter fairly in the face.“ Zivilität blockiert Brutalität.

Wie will sich Hayek diesem Dilemma entziehen? Dadurch, dass er den wirtschaftlichen Existenzkampf in ein kollektives Gefühlsbad taucht. Menschen sollen einander nahe kommen (und bleiben), bevor der Markt sie entzweit. Was Hänschen fühlt, formt Hans. Konkret: Landesweit werden von Staats wegen Jungbürger-bzw. Jahrgangsgruppen eingerichtet; dafür, dass viele gerne mitmachen, sorgt (nach gut rotarischer Art) die Stimme der Natur: „Jahrgangsgruppen könnten sehr wohl“, phantasiert Hayek, „im Alter von 18 Jahren gebildet werden. Ihre Attraktivität ließe sich möglicherweise noch steigern, wenn junge Männer desselben Alters mit jungen Frauen zusammengebracht werden, die z. B. zwei Jahre jünger sind.“ Was macht die unsichtbare Hand da, ist man geneigt zu fragen.

Hayeks Kupplerlist: Die Heirat aller mit allen soll der liberalen Abstraktheit allgemeine Akzeptanz verschaffen. Es gibt keinen Markt ohne Heiratsmarkt. Vital? Vitaler als Rüstow?

VII. Leben im Giraf­fen­land

Das Risiko wird reflexiv, sprich: für sich selbst eines, wenn „espritlose“ Leute ihm ausweichen können. Hayek wie Spencer kannten diese Gefahr. Dass der Mensch die Freiheit mehr liebe als seine Sicherheit oder den Komfort – wer wüsste dafür hinreichend viele Beispiele, um seiner Sache wirklich sicher zu sein? Verwunderlich bleibt allerdings, warum immer nur jene dem risikofeindlichen Lager zugeschlagen werden, deren Schicksal sowieso schon am seidenen Faden hängt: Arme, Schwache, Mühselige, Beladene. Schließlich muss, wer mehr hat, auch fürchten, mehr zu verlieren. Wo ist diese Furcht geblieben? Spencers Publikum etwa, speziell seine amerikanische Fan-Gemeinde, war stinkreich und gleichwohl erpicht darauf zu hören, was ihm gesagt wurde.

Vielleicht lag es daran, dass diesen Profiteuren ein Subtext in den Ohren klang: Wahrlich, ich sage Euch, Ihr seid oben und die Evolution ist zu Ende. Zumindest den „Oberen“ droht kein weiteres Unheil. Weiter unten würde das Ausmerzgeschäft zwar weiterlaufen (müssen), doch Turbulenzen im Establishment sind davon nicht zu erwarten. Die Eliten haben auszirkuliert. Für sie ist Selektion kein unendlicher Prozess, Unsicherheit kein ständiger Begleiter, Freiheit keine permanente Drohung und das Leben keine ewige Strapaze. Man hat es geschafft. Punkt. Schließlich kehrt sogar beim unerbittlichen Darwin irgendwann Ruhe ein: „Einmal kommt der Wettlauf zum Stillstand. Dann nämlich, wenn ein Monopol erreicht ist. Der lange Hals der Giraffe ist ein Monopol, und zwar eines, das keiner Verteidigung mehr bedarf, sondern ‚konkurrenzlos‘ dasteht. … Im Zustande der verteilten Monopole – Giraffen haben ihren Lebensraum, Antilopen jenen und Schafe wieder einen anderen – kommt der Prozess der Konkurrenz, in dem die noch zu allen möglichen Variationen ‚Arten‘ einander variierend nachjagen, zur Ruhe“ (D. Sternberger). Oben die als Brandstifter drapierten Biedermänner, in ihrer privilegierten Stellung unbehelligt, drunter alle anderen, deren Glück auch gemacht sein darf, sofern es auf seinem Platz bleibt. Suum cuique.

Nichts zeugt deutlicher von dem elementaren Gefühl, verdientermaßen in Sicherheit zu sein, als die trotzigen Reaktionen auf den Beweis des Gegenteils. Unter seinesgleichen kennt man keine Versager, sondern ausschließlich Leistungsträger ohne Fortune oder richtige Männer an falschen Plätzen (Gladwell). Ein Talent-Kult hält Einzug, der für seine Günstlinge die Aussetzung der Natur reklamiert. Denn diese Giraffen „überleben“ den Existenzkampf nicht, sondern sind „noch einmal davon gekommen“ – und auch das nur, weil ihnen der verdammte Staat Artenschutz gewährt.

Dahinter steckt sogar eine gewisse Logik: Denn wo die Evolution zu Ende ist, kann der Staat nicht mehr schaden. Vielleicht lässt sich so erklären, dass man in diesen Kreisen kein Problem damit hat, das gnädige Schicksal als persönliche Leistung zu verbuchen: „Aus welchem Grund auch immer fühlen die Leute das Bedürfnis, sich zu belohnen, weil sie etwas Gutes tun – auch wenn damit nicht mehr gemeint ist als das eigene Überleben“, kommentiert eine Insiderin die post-traumatische Wall Street-Stimmung unserer Tage (L.M. Holson). Kindheitsträume haben Konjunktur, Segelyachten werden bestellt, Sommerresidenzen gekauft und Luxuskarossen angeschafft. Courage ist etwas für Verlierer, Gewinner glänzen durch Konsum.

VIII. Von Libanesen und Limousinen

Wäre jener Libanese, dessen unaufhaltsamer Aufstieg den Geist des liberalen Animalismus (from rags to riches) vorexerzieren soll, mit seiner Familie überhaupt ins Land und unter die Leute gekommen, hätten Menschen vom Schlage eines Rüstow oder Hayek ihre Heimat- und Heiratsphantasien ausleben dürfen?

Wieder einmal macht den neuen Liberalen ihre notorische Ambivalenz zu schaffen. Die „flammende“ Rhetorik und resolute Programmatik weist sie als Freunde einer permissiven Promiskuität aus: Märkte kennen weder ethnische noch kulturelle Grenzen – wer immer sich an die Spielregeln hält, soll mitspielen dürfen. Und wem es gelingt zu überleben, ist fit und also rechtens auf dieser Welt, egal ob er aus Beirut, Berlin oder Boston kommt. Soweit das Prinzip.

Doch dann kommen die Einschränkungen. Sie verwandeln den Marktplatz in eine Wagenburg und das Freiheitspathos in Biedersinn. Fremde sollen draußen bleiben: wenn sie kriminell schon einmal auffällig geworden und daher potentielle Störenfriede sind; weil sich zusammen mit ihnen Infektionskrankheiten (wie AIDS) ausbreiten; falls das Objekt ihrer Begierde der heimische Wohlfahrtstaat ist; wegen des ökologisch bedenklichen Kinderüberhangs; da sie, härter arbeitend oder weniger anspruchsvoll, einheimische Arbeitskräfte vom Markt verdrängen; kurz: weil unser Leben nicht mehr unser Leben sein wird, when the new immigrants become a majority (J. Hospers). Zwar ist alles irgendwie ungewiss – doch diese Ungewissheit macht Angst, nicht frei.

Liberal sein kann man so oder so: misstrauisch oder optimistisch, gezeichnet von der Furcht vor dem Verlust oder voller Hoffnung auf künftige Möglichkeiten (J. Shklar). Da scheint zugleich die Scheidelinie zwischen altem (ruhigem) und neuem (riskantem) Liberalismus zu liegen – jener baut Sicherungen ein, um Ruhe zu garantieren, dieser entsichert unternehmenslustig das Risiko. Eben: Biedermann vs. Brandstifter. Freilich hat sich ein ums andere Mal gezeigt, dass Brandstifterei kaum mehr ist als ein Schauspiel arrivierter Biedermänner. Sie scheuen am wenigsten jene Risiken, die hinter ihnen liegen. Ansonsten sind Ängste ihre ständigen Begleiter, momentan vor allem the fear of public scorn – weil andere merken könnten, wie wenig Courage und Courtage miteinander zu tun haben, wie schlecht sich also Reichtum mit Risiko legitimieren lässt. Da greifen „Limousinenliberale“ auf der Suche nach vier Rädern schon mal zum Bentley, weil ein Rolls Royce provozieren würde (Holson).

Literatur

Freedgood, Elaine 2006: Victorian Writing About Risk: Imagining a Safe England in Dangerous World. Cambridge

Gilder, George 1982: Wealth and Poverty. New York

Gladwell, Malcolm 2002: The Talent Myth. In: The New Yorker, 22.7.02, 28-33

Gladwell, Malcolm 2010: The Sure Thing. How Entrepreneurs Really Succeed. In: The New Yorker, 18.1.10, 24-29

Hayek, Friedrich A. 1982: Law, Legislation, and Liberty. Chicago-London

Hirschman, Albert O. 1987: Leidenschaften und Interessen. Frankfurt

Holson, Laura M. 2010: Ready to Spend, But Not Boast. In: New York Times, 24.1.10

Hospers, John 1998: A Libertarian Argument Against Open Borders. In: Journal of Libertarian Studies, 13, 153-165

Jungbluth, Rüdiger 2008: Jérome allmächtig. In: Die Zeit, 31.1.10

Mill, John St. 1988: Über die Freiheit. Stuttgart

Murray, Charles 1997: What It Means to Be a Libertarian. New York

O’Malley Pat 2009: „Uncertainty makes us free“. Liberalism, risk, and individual security. In: Behemoth, 3, 24-38

Rüstow, Walter 1958: Nicht Versorgungsstaat, sondern Vitalpolitik. In: Vorträge anlässlich der Internationalen Frühjahrstagung des Wirtschaftsrings e.V., Bonn. Aachen, 3-26

Shklar, Judith 1989: The Liberalism of Fear. In: Nancy L. Rosenblum (ed.), Liberalism and the Moral Life. Cambridge, Mass., 21-38

Sternberger, Dolf 1974: Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Frankfurt

Stewart, James B. 2008: The Omen. In: The New Yorker, 20.10.08, 54-65

Villette, Michel, Catherine Vuillermot 2009: From Predators to Icons: Exposing the Myth of the Business Hero. Ithaca

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