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Arbeits­lo­sig­keit oder Arbeit versichern?

Überlegungen zu einer Neuordnung des Arbeitsmarktes,

aus: vorgänge Nr. 191, Heft 3/2010, S. 62-70

Von der binären zur multiplen Arbeitswelt

Die moderne Arbeitswelt ist nicht mehr binär durch Arbeit oder Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Es gab zwar schon immer bezahlte und unbezahlte Arbeit, wenn unter Arbeit jede sozial verpflichtende Tätigkeit verstanden wird. Neu ist, dass auch bezahlte Arbeit, d.h. Beschäftigung nicht mehr binär strukturiert ist. Man ist nicht mehr nur beschäftigt oder nicht beschäftigt, sondern oft vieles dazwischen. Mittlerweile sind, nach einer engen Definition, nur noch etwa 40 Prozent aller Erwerbspersonen in einem Normalarbeitsverhältnis, bei Frauen sogar nur 29 Prozent, bei Männern knapp die Hälfte.[1]

Zwar führt „atypische Beschäftigung“ nicht von selbst in die prekäre Erwerbskarriere. Die Wahrscheinlichkeit, auf diese Schiene zu gelangen, ist jedoch eindeutig höher als für „normal Beschäftigte“.

Auch vom überschwänglich gefeierten Aufschwung hat der Arbeitsmarkt kaum profitiert. Dem weiteren Abbau von Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe konnte nicht Einhalt geboten werden. Der magere Beschäftigungszuwachs (0,7 Prozent von Mai 2009 bis Mai 2010) erfolgte vor allem in der Wachstumsbranche Gesundheit oder Soziales und überwiegend in Form von Teilzeit- oder Leiharbeit. Insgesamt ging die Arbeitslosigkeit zwar zurück, aber die Langzeitarbeitslosigkeit stieg im Juli 2010 gegenüber dem Vorjahr noch leicht auf einen Anteil von 32,4 Prozent. Fast eine Million Menschen sind länger als ein Jahr arbeitslos. Mit einer (saisonbereinigten) Arbeitslosenquote von 7 Prozent ist Deutschland noch weit von Vollbeschäftigung entfernt, was immer auch darunter zu verstehen ist.

Mit diesem Wandel der Arbeitswelt hat die Ordnung des Arbeitsmarkts noch längst nicht Schritt gefasst. Es fehlt ein aufeinander abgestimmtes Institutionengefüge (Arbeits-, Sozial- und Steuerrecht), das ausreichend Schutz gegenüber den neuen Risiken der wachsenden Zahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse gewährleistet. Insbesondere die Arbeitslosenversicherung entspricht noch der Vorstellungswelt einer binären Arbeitswelt. Von der großen Ausnahme Kurzarbeit abgesehen, sichert sie nur das Einkommen beim Risiko Arbeitslosigkeit, jedoch nicht die Einkommensrisiken, die mit riskanten Übergängen zwischen verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen verknüpft sind. Im Folgenden soll daher das Augenmerk auf dieses Element des Institutionengefüges sozialer Sicherheit gerichtet werden.

Das Trauma der deutschen Arbeits­lo­sen­ver­si­che­rung

Ein Blick zurück in die Geschichte ist dabei hilfreich. Dieser lehrt, dass das Risiko Arbeitslosigkeit das Ereignis im Lebenslauf war, das von allen anderen Risiken – Krankheit, Alter, Unfall – am ambivalentesten beurteilt wurde. Um keine Versicherung wurde so lange gerungen wie um die Arbeitslosenversicherung. Als sie schließlich 1927 gesetzlich verabschiedet wurde, war sie das letzte Glied der großen – von Bismarck begonnenen – Sozialreformen.

Einige Nachbarländer ließen sich zur Etablierung dieser ‚brandgefährlichen‘ Institution sogar noch länger Zeit. Frankreich rang sich erst 1967 und die Schweiz sogar erst 1976 dazu durch. Grund für diese Zögerlichkeit ist die nach wie vor umstrittene Wirkung des Arbeitslosengelds. Die andauernde Skepsis in Deutschland wird noch durch eine Besonderheit genährt. Kaum eingeführt, wurde die Arbeitslosenversicherung von der Weltwirtschaftskrise 1929 herausgefordert. Dieser Test geriet zum deutschen Trauma. Im Streit um die Rettung der jungen Arbeitslosenversicherung zerbrach die große bürgerliche Koalition der Weimarer Republik und öffnete den Weg zur Herrschaft der Nationalsozialisten. Drastischer Leistungsabbau und Beitragserhöhungen führten zu dem paradoxen Ergebnis, dass die Versicherungskasse auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise einen Beitragsüberschuss von fast 400 Millionen Reichsmark verzeichnete.

Hintergrund für diesen Widersinn war der tiefe Dissens über das Verständnis von Arbeitslosigkeit als Risiko. Gegen Sozialdemokraten und Gewerkschaften setzte sich damals die Sichtweise durch, Arbeitslosigkeit sei in erster Linie ein individuelles Risiko. Bei Massenarbeitslosigkeit müssten daher konsequent die Leistungen gekürzt werden, um die Ausnutzung der Versicherung unter Kontrolle zu bringen und die Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme zu erhöhen. Wird Arbeitslosigkeit jedoch vorwiegend als soziales Risiko betrachtet, dann treten andere Gesichtspunkte einer Versicherung in den Vordergrund. Neben der antizyklischen Erhaltung der Massenkaufkraft gilt der solidarische Schutz des persönlichen Einkommens als Voraussetzung für die individuelle Fähigkeit und Bereitschaft, gesellschaftliche Neuerungen und Veränderungen mitzutragen.

Die gegenwärtige Finanzkrise hat die alten Frontenstellungen wieder offengelegt. Schon die Debatte um die Verlängerung des Arbeitslosengeldbezugs im Boomjahr 2007 entfachte erneut die noch schwelende Glut des historischen Dissenses. Dieses Déjà vu betrifft vor allem die Tendenz, die Doppelfunktion einer Sozialversicherung aus dem Blick zu verlieren. Versicherungsleistungen haben immer zwei Seiten der Medaille: Das innovative und das moralische Verhaltensrisiko. Auf der einen Seite soll die soziale Sicherheit die Menschen zu kalkuliertem Risiko ermutigen. Diese Sicherheit wird durch solidarischen Schadensersatz im Risikofall (hier die Arbeitslosigkeit) gewährleistet. Zum kalkulierten Risiko gehört etwa der Mut, einen riskanten Beruf zu wählen oder den Arbeitsplatz zu wechseln. Die Bewahrung der Ruhe in riskanten Situationen ist darüber hinaus ein wichtiger Nebeneffekt, um (ansteckende) Panikreaktionen zu vermeiden. Auf der anderen Seite kann die soziale Sicherheit auch zur Sorglosigkeit verleiten, etwa zur Vernachlässigung der Weiterbildung, die zur Vorbeugung gegen Arbeitslosigkeit notwendig wäre. Sie kann sogar dazu verleiten, die Versicherung durch willentliche Herbeiführung des Risikos (Eigenkündigung) auszunutzen und zur Ablehnung zumutbarer Jobs oder zur mangelnden Bereitschaft intensiver Jobsuche führen. Aber auch Arbeitgeber können durch die Existenz der Arbeitslosenversicherung ihre Sorgepflicht um die Belegschaft vernachlässigen, sei es durch spekulative Finanzanlagen, fehlende Rücklagen oder mangelnde Investitionen in Weiterbildung. Die Balance zwischen diesem innovativem und moralischem Verhaltensrisiko zu halten, ist ein schwieriges Geschäft. Um beiden Seiten der Arbeitslosenversicherung bei den anstehenden grundlegenden Reformen gerecht zu werden, müssen daher zunächst die Prinzipien einer Neuordnung aufgedeckt werden.

Prinzipien einer Neuordnung des Arbeits­markts

Die Neuordnung des Arbeitsmarkts muss nicht nur Arbeit, sondern auch riskante Arbeitsübergänge belohnen: Etwa Übergänge zwischen Vollzeit und Teilzeit, abhängiger und selbständiger Beschäftigung, Bildung und Arbeit, bezahlter Arbeit und gesellschaftlich notwendiger, aber unbezahlbarer Erziehungs- oder Pflegearbeit.

Diese These beruht normativ auf drei allgemein hoch geschätzten Prinzipien der Gerechtigkeit: faire, solidarische und befähigende Gerechtigkeit. Faire Gerechtigkeit gleicht unverschuldete Benachteiligungen aus, solidarische Gerechtigkeit beachtet die ethische Pflicht der Verantwortungsteilung im Rahmen der eigenen Fähigkeiten, und befähigende Gerechtigkeit sorgt für die kognitiven und materiellen Voraussetzungen einer autonomen Lebensführung. Ohne diese Prinzipien hier ausführen zu können, lassen sich aus ihnen (und vor dem Hintergrund des angedeuteten Wandels der Erwerbsformen) vier grundlegende Strategien für eine Neuordnung des Arbeitsmarkts ableiten.

Erstens die Inklusion neuer Risiken in das System der sozialen Sicherung durch die Universalisierung des Prinzips der Sozialversicherung; zweitens die Mindestsicherung bei Einkommensrisiken durch einen effektiven Mindestlohn; drittens die Erweiterung des Zugangs zu Lebenschancen durch neue Beteiligungsrechte; viertens die nachhaltige Stärkung der Erwerbsfähigkeit im Lebenslauf vor allem durch eine zweite Bildungschance und lebenslanges Lernen. Im Folgenden werden die ersten drei Strategien kurz erläutert, während der vierten Strategie ein eigener Abschnitt gewidmet wird.

Die Notwendigkeit, erstens, einer Universalisierung des Sozialversicherungsprinzips soll kurz am Beispiel der neuen Selbständigen erläutert werden. Bei wirtschaftlich abhängigen Selbständigen – den so genannten Solo-Selbständigen – ist nicht so sehr die Entlohnung für die geleisteten Dienste das zentrale Problem, sondern die hinreichende Absicherung gegen die großen Lebensrisiken (Altersrente, Krankenversicherung, Berufs-, Invaliditäts- und Pflegeversicherung). In Deutschland hängen solche zwingenden Sicherungssysteme jedoch zumeist am Beschäftigtenstatus. Dieses korporatistische Prinzip stammt noch aus dem Mittelalter. Mit der Begrenzung der Pflichtversicherung auf wenige Sondergruppen unter den Selbständigen stellt Deutschland eine Besonderheit dar. In der Mehrzahl der europäischen Länder werden alle

Selbständigen durch die staatlichen Pflichtversicherungssysteme erfasst. Das sollte auch hierzulande die Stoßrichtung werden. Die jüngst angebotene Öffnung der Arbeitslosenversicherung für Selbständige ist ein Schritt in die richtige Richtung, wurde aber zu restriktiv ausgelegt.
Selbständige im Künstler- und Medienarbeitsmarkt lehren uns noch ein Weiteres. Wenn wir von einem modernen Risikobegriff ausgehen, müssen auch die mit neuen Dienstleistungen verbundenen Einkommensrisiken beachtet werden. Wo Arbeitsleistungen nicht unmittelbar bewertet werden können, weil der Wert der Leistung ungewiss ist und möglicherweise erst nach vielen Jahren entdeckt wird, muss der Lohn der Arbeit eben auch diese Risiken abdecken – sowohl im negativen (Gefahr, Verlust) als auch im positiven (Chance, Gewinn) Bedeutungssinn von Risiko.

Steigt also das Risiko unregelmäßiger Einkommen im Lebenslauf, muss die Grundsicherung im Alter teilweise von der Erwerbsbiografie abgekoppelt werden. Daraus folgt, die Vorsorge für das Alter staatlich zu unterstützen, wenn das laufende Erwerbseinkommen dafür nicht ausreicht, z.B. durch Beitragskredite für Geringverdiener und Arbeitslose. In Phasen des Lebenslaufs, wo gut verdient wird, könnten die Beitragssätze höher sein als in Phasen, wo wenig verdient wird. Steigt darüber hinaus die Chance zukünftiger Verwertbarkeit der Arbeitsleistungen, müssen z.B. die Autorenrechte gestärkt werden. Analog gilt dies auch für Arbeitnehmer, die Elemente selbständiger Verantwortung übernehmen und deshalb auch an zukünftigen Kapitalerträgen beteiligt werden sollten.

Zweitens, zur Mindestsicherung von Einkommensrisiken im Lebenslauf gehört die gesetzliche Verankerung eines effektiven Mindestlohns. Dafür sprechen an erster Stelle ethische Gesichtspunkte: Lohneinkommen für Vollzeitbeschäftigte, deren Erwerbsfähigkeit in keiner Weise eingeschränkt ist, dürfen nicht unter das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum fallen. Die Garantie eines Mindesteinkommens – etwa durch Kombilöhne – reicht nicht aus. Schlimmer noch, sie verleitet Unternehmen zum Lohndumping, das die Endlosschleife ruinöser Konkurrenz einleitet. Das Grundgesetz garantiert daher mehr als nur Fürsorge. Es garantiert das Recht zur autonomen Lebensführung frei von politischer Willkür und Zufällen des Marktes.

Deshalb ist an den Artikel 1 des Grundgesetzes zu erinnern: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das Grundprinzip guter Arbeit muss von dieser Würde ausgehen. Im tieferen Sinne ist deshalb auch die Rede vom Humankapital verfehlt. Denn „Kapital“ setzt die Möglichkeit voraus, alles – auch die menschliche Arbeit – messen zu können. Das verträgt sich nicht mit der Würde des Menschen. Auch aus ökonomischer Sicht sprechen mehrere Gründe für einen Mindestlohn, die hier als bekannt vorausgesetzt werden müssen.

Drittens weist das Prinzip der Befähigungsgerechtigkeit darauf hin, dass es – neben materiellem Eigentum – verstärkt Zugangsrechte sind, die über Lebenschancen und Freiheiten entscheiden. Die Gleichwertigkeit von Zugangsrechten zum Eigentum an Vermögen oder Geld hat das Bundesverfassungsgericht im Prinzip längst anerkannt, etwa die Eigentumsgarantie von Rentenanwartschaften. Ein juristisches Instrument für den Schutz von Zugangsrechten durch Eigentumsgarantie ist also längst vorhanden. Problematisch ist aber, dass die Eigentumsgarantie nur das bereits erworbene Recht schützt.

In der Ökonomie des vernetzten Arbeitsmarkts von wissensintensiven, für – und vorsorgenden Dienstleistungen hängt aber vieles von neuen Zugangsrechten ab: Etwa das Zugangsrecht zur öffentlichen Infrastruktur der Kinderbetreuung; das Zugangsrecht zur Hochschule auch für qualifizierte Menschen ohne Abitur und unabhängig vom Alter; das Zugangsrecht zu Institutionen der Weiterbildung. Letzteres hängt wiederum davon ab, ob die Bedarfe der Weiterbildung auch regelmäßig erfasst, diskutiert und in Weiterbildungspläne umgesetzt werden. Also wäre auch das Recht auf Weiterbildungsberatung ein solches wesentliches neues Zugangsrecht. Im Vergleich zu einigen Nachbarländern wie Österreich und Dänemark ist auch das Recht auf generöse Weiterbildungszeiten in Deutschland noch unterentwickelt. Wir sind mit Recht immer skeptisch im Bereich generöser Transferleistungen, weil die Gefahr des moralischen Verhaltensrisikos hier groß ist. Diese Skepsis ist im Bereich von Zugangsrechten zu aktiven Sozialleistungen nicht angebracht.

Schließlich gibt es eine Alternative zur atypischen Beschäftigung, nämlich die Förderung der Binnenbeweglichkeit des schon bestehenden Normalarbeitsverhältnisses. Ein neues, alle Arbeitsformen umfassendes Arbeitsvertragsrecht könnte hier segensreich wirken. Auf der einen Seite könnte – parallel zum Ausbau der individuellen Weiterbildungsrechte – auch die Weiterbildung des Arbeitnehmers zur Pflicht werden. Es darf – um ein anekdotisches Beispiel zu nennen – nicht sein, dass die Einrichtung einer interaktiven Tafel in der Schule daran scheitert, dass Lehrer nicht mit dieser Technologie umzugehen wissen.

Auf der anderen Seite könnte den Arbeitgebern die Pflicht zugemutet werden, angemessene und nachprüfbare Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit ihrer Belegschaft zu planen und umzusetzen. Betriebsbedingte Kündigungen wären unter solchen Bedingungen unwirksam, wenn der Arbeitnehmer nach Weiterbildungsmaßnahmen auf demselben oder einem anderen Arbeitsplatz weiter beschäftigt werden kann.

Auch die Vorschriften über die Änderung der Arbeitsbedingungen könnten zusammengefasst und erleichtert werden, ohne das gewünschte unbefristete Arbeitsverhältnis zu gefährden. Dabei wäre die Veränderungsbreite auf ein soziales Maß zu begrenzen. Zur Gewährleistung einer gerechten Umsetzung gehören die Verstärkung der Mitbestimmungsrechte und die Revitalisierung der Rolle der Betriebsräte. Die (bislang wenig erfolgreiche) Verknüpfung von Kurzarbeit und Qualifizierung zur Bewältigung von Wirtschafts- und Strukturkrisen könnte so künftig stärker genutzt werden, wenn Kurzarbeit nicht nur die Funktion der Abpufferung von Nachfrageschwankungen, sondern auch die Funktion der nachhaltigen Restrukturierung gewährleisten soll. Die Neuordnung des Arbeitsmarkts bedarf also auch einer verhandelten Flexibilität und einer verhandelten Sicherheit, die durch eine Modernisierung des Arbeits- und Sozialrechts abzustützen sind.

Wie könnte Arbeit statt nur Arbeits­lo­sig­keit versichert werden?

Zwei Annahmen gehen der vierten Strategie des oben angedeuteten Gerechtigkeitsdiskurses voraus: Erstens werden immer mehr Menschen im Verlauf des Lebens ihren Arbeitsplatz oder zumindest ihr Arbeitsverhältnis wechseln müssen. Darum liegt es nahe, nicht nur das Risiko des völligen Lohnausfalls bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit, sondern auch die Einkommensrisiken bei wechselnden Arbeitsverhältnissen abzudecken. Das gilt insbesondere für das Risiko der Minderung der Erwerbsfähigkeit im Verlauf des Lebens. Zweitens besteht der Inhalt der Arbeit zunehmend aus Dienstleistungen mit hohem Wissensgehalt. Wissen wird aber nicht so einfach ausgetauscht wie Waren. Beim Tausch von Wissen und Dienstleistungen spielen Kommunikation, Vertrauen in Professionalität, Zuverlässigkeit bis hin zu emotionalen Bindungen eine immer größere Rolle. Wissen ist ein öffentliches Gut. Menschen werden sich in einer reinen Marktökonomie und Konkurrenzgesellschaft hüten, ihr Wissen an Kolleginnen und Kollegen weiterzugeben, denn die Konkurrenten könnten sie ja morgen von ihrem Arbeitsplatz verdrängen. Deshalb müssen in den Arbeitsvertrag Regelungselemente eingeflochten werden, die aus dem bisherigen „Mietvertrag“ einen „Dienstleistungsvertrag“ mit wechselseitigen Mitbestimmungsrechten und -pflichten machen. Die Wissensgesellschaft braucht mehr Demokratie am Arbeitsplatz.

Aber warum soll der Gedanke der Sozialversicherung auf weitere Erwerbsrisiken ausgedehnt werden? Dagegen spricht, wie schon angedeutet, erst einmal das moralische Verhaltensrisiko: Wer versichert ist, neigt dazu, die Versicherung auszunutzen. Jede Versicherung fördert aber auf der anderen Seite auch vernünftig kalkulierte Risikobereitschaft. Und eine solche Bereitschaft ist nun mal für eine Wirtschaft mit hoher Innovationsdynamik und für einen entsprechend funktionsfähigen Arbeitsmarkt notwendig: Beispielsweise die Bereitschaft des Lernens in der Berufstätigkeit, die Bereitschaft des Arbeitsplatz- und Berufswechsels, die Bereitschaft des Statuswechsels von der Unselbständigkeit in die Selbständigkeit und umgekehrt, die Bereitschaft des Arbeitszeitwechsels, etwa von der Vollzeit zur Teilzeit in Kombination mit Bildung oder Pflege der Kinder oder kranken Eltern. Die Frage, wer beispielsweise die höheren Investitionen in lebenslanges Lernen finanzieren soll, kann daher auch in der Form gestellt werden: Wie kann das innovative Verhaltensrisiko der Weiterbildung gefördert werden?

Um zu lebenslangem Lernen zu ermuntern, könnte ein Teil des bisherigen Beitrags zur Arbeitslosenversicherung – zum Beispiel ein Prozentpunkt – als Weiterbildungsfonds angelegt werden. Dieser beitragsfinanzierte Fonds sollte aus allgemeinen Steuermitteln in einer Weise ergänzt werden, dass alle Beschäftigten unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit Ziehungsrechte im selben Umfang erhalten. Tarifverträge zur Aufstockung dieses Fonds könnten steuerlich begünstigt werden.

Die Beitragspflicht zum Weiterbildungsfonds gewährleistet die Umverteilung des eigenen Lebenseinkommens zugunsten der „rush-hour“ im Lebenslauf. Das heißt, das Ziehungsrecht aus diesem Fonds stellt den Menschen Geld zur Verfügung, wenn sie es am nötigsten haben. Der geregelte Steuerzuschuss gewährleistet in maßvoller Weise die Umverteilung von Einkommen zugunsten von Menschen, die gleichzeitig in der Erstausbildung benachteiligt und später hohen Erwerbsrisiken ausgesetzt sind.

Der Weiterbildungsfonds mit individuellen Ziehungsrechten würde Beschäftigte somit zu selbst bestimmten Investitionen befähigen, ohne dass der verabredete Umfang der Ziehungsrechte tatsächlich schon angespart ist. Im Gegensatz zu den individuellen Sparkonten derzeitiger Vorschläge zur Privatisierung der Arbeitslosenversicherung sind mit Ziehungsrechten aus dem Weiterbildungsfonds keine „Eigentumsrechte“ verbunden. Die Lottogewinner im Arbeitsleben, die ohne Arbeitslosigkeit oder größere berufliche Anpassung davon kommen, sollten die so gebundenen Beiträge nicht als Rentenaufschlag mitnehmen können. Werden die Ziehungsrechte in der Erwerbsphase nicht genutzt, verfallen sie am Ende des Erwerbslebens.

Der Beitragssatz von einem Prozentpunkt des Bruttolohns – anteilig von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden finanziert – erbrächte derzeit ein Volumen von gut acht Mrd. Euro für den Weiterbildungsfonds. Mit entsprechend ergänzten Steuermitteln könnte das Gesamtvolumen auf 16 Mrd. Euro aufgestockt werden. Das ergäbe umgerechnet auf (derzeit) 28 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigte und bei einer durchschnittlichen Arbeitslebensdauer von 40 Jahren ein Ziehungsrecht von etwa 23.000 Euro (Gegenwartswert). Die derzeitige Finanzkrise könnte als Gelegenheitsfenster genutzt werden, diese Mittel als Bestandteil einer nachhaltigen Bildungsoffensive zu mobilisieren, nicht zuletzt wegen des jetzt schon beklagten Fachkräftebedarfs. Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil könnten durch vergangene und laufende Beitragszahlungen angerechnet werden. Hinzu käme der aus Kreditmitteln, aus einer Sonderabgabe auf Vermögen oder aus einer Börsenumsatzsteuer zu finanzierende Staatsanteil von acht Mrd. Euro.

Das scheint eine gewaltige Summe zu sein. Aber im Vergleich zu den staatlichen Bürgschaften für marode Banken oder zu den Ausfallbürgschaften für Anleihen bankrott gefährdeter Staaten sind das nahezu Peanuts. Vieles, vor allem der zukünftige Fachkräftebedarf, spricht dafür, die ausgelaufene (und fragwürdige) Abwrackprämie durch eine Aufrüstungsprämie für Bildung zu ergänzen. Neue Jobs brauchen neue Qualifikationen. Wünschenswert wäre eine Ausweitung der Versicherungspflicht auf alle Erwerbstätigen, also auch auf Selbständige und geringfügig Beschäftigte. Entsprechend würden sich dann die hier angeführten Orientierungsdaten verändern.

Der Weiterbildungsfonds mit individuellen Ziehungsrechten wäre eine Ergänzung und kein Ersatz für den „aktiven“ Bestandteil bisheriger Arbeitsmarktpolitik. In arbeitsmarktpolitisch begründeten Fällen sollten Arbeitslose also nach wie vor mit vermittlungsfördernden Maßnahmen aus dem nur aus Beitragsmitteln finanzierten Teil der Arbeitslosenversicherung gefördert werden. Das Ziehungsrecht sollte der individuellen Entscheidung überlassen bleiben, aber an bestimmte Bedingungen geknüpft werden. Dazu gehören vor allem vorausgehende Beratungspflicht und Abstimmung mit der Betriebsleitung. Zur Umsetzung gehören darüber hinaus auch Rechte und Pflichten zur Weiterbildungsberatung, kollektive oder betriebliche Weiterbildungsvereinbarungen und eine Infrastruktur zugelassener Beratungsinstitutionen.

Ziehungsrechte aus einem solidarischen Weiterbildungsfonds hätten mehrere Vorteile: Sie würden zur Minderung des moralischen Risikos beitragen, denn der regelgebundene Steuerbeitrag zum Weiterbildungsfonds stärkt das Äquivalenzprinzip des rein beitragsfinanzierten Versicherungsanteils. Leistungen wie Finanzierung der Weiterbildung, die über das Versicherungsprinzip im engeren Sinne hinausgehen, werden im Modell der Arbeitsversicherung in stärkerem Maße als bisher durch allgemeine Steuermittel finanziert. Der wesentliche Anteil der Umverteilung zugunsten von gering Qualifizierten käme nicht aus Beitrags-, sondern aus Steuermitteln.

Solche Ziehungsrechte würden auch Freiheit und Autonomie stärken. Sie würden Beschäftigte in die Lage versetzen, den Unternehmensführungen auf Augenhöhe gegenüberzutreten und Maßnahmen zur Förderung der Beschäftigungsfähigkeit auszuhandeln. Darüber hinaus mindern sie auch das Ungerechtigkeitsgefühl, bei langen Beitragszahlungen „enteignet“ zu werden. Denn über einen Teil der in einem Erwerbsleben eingezahlten Beiträge kann jetzt – je nach Lebenslage und im Rahmen eines kalkulierbaren Regelsystems – selbst bestimmt werden.

Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, die aus den eigenen Ziehungsrechten mitfinanziert werden, werden vermutlich auch effizienter umgesetzt als ausschließlich fremdfinanzierte Maßnahmen. Denn neben dem Interesse, das ‚persönliche Konto‘ auszuschöpfen, ist zu erwarten, dass die Maßnahmen aus Eigeninteresse sorgfältig ausgewählt und hoch motiviert umgesetzt werden. Da die Ziehungsrechte an Personen und nicht an Arbeitsplätze gebunden sind, fördern sie schließlich auch die zwischenbetriebliche Mobilität. Ziehungsrechte erhöhen auch den Anreiz, aus dem informellen Sektor oder aus der Schwarzarbeit in den formellen Beschäftigungssektor zu wechseln.

Schließlich erweitert die Existenz eines solchen Fonds und darauf basierender individueller Ziehungsrechte den Erwartungs- und Planungshorizont der Betriebe. Der Eigenbeitrag in diesen Fonds gibt ihnen Anreize zu einer zukunftsgerichteten Personalpolitik. Auch der Handlungsspielraum kollektiver Vereinbarungen wird erweitert, da ihre konkrete Ausgestaltung und laufende Anpassung an die Umstände der Verhandlungen auf betrieblicher und sektoraler Ebene bedarf. Der Arbeitsverwaltung gäben solche Ziehungsrechte einen weiteren Schub, ihre Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zu modernisieren. Vor allem bildungsbedürftige Arbeitnehmende verfügen über nur sehr begrenzte Informationen für eine rationale Lebensplanung. Sie haben besonderen Beratungsbedarf. Das gilt auch auf der Nachfrageseite. Kleine und mittlere Unternehmen sind nun herausgefordert, eine Weiterbildungskultur in ihre Arbeitsorganisation einzubauen. Ihr Beratungsbedarf für Personalentwicklung wird steigen.

Die Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung hätte den entscheidenden Vorteil, nicht nur auf das so genannte „moralische Risiko“ sozialer Sicherungssysteme zu schielen, sondern auch die anderen Seite solidarischer Sicherungssysteme, nämlich das innovative Verhaltensrisiko wieder zur Entfaltung zu bringen. Die Bereitschaft von Arbeitnehmern wie Arbeitgebern würde steigen, in vernünftiger und kalkulierter Weise riskante Investitionsentscheidungen zu treffen. Nur unter der Bedingung neuer aktiver Sicherheiten kann die Flexibilität der Beschäftigung, also die Variation von Arbeitszeiten im Lebenslauf, die zwischenbetriebliche Mobilität und die Weiterbildung steigen.

Eine Arbeitsversicherung würde damit nicht nur die ökonomische Wohlfahrt steigern. Sie würde auch dem sozialpolitischen Ziel größerer individueller Autonomie und einer balancierten Gestaltung von Lebens- und Arbeitswelt näher kommen. Das Solidarprinzip würde durch eine Erweiterung der Pflichten – etwa zur Weiterbildung – auf beiden Seiten des Arbeitsvertrags gestärkt. Darüber hinaus bedürfte die effektive Umsetzung einer derartigen Neuordnung des Arbeitsmarkts einer institutionellen Stärkung der Mitbestimmungsrechte, d. h. einer Erweiterung der verhandelten Flexibilität und Sicherheit, kurz: einer Wiederbelebung des Gedankens der Wirtschaftsdemokratie.

[1] Nach dieser engen Definition schließt das Normalarbeitsverhältnis nur Erwerbstätige in abhängiger und unbefristeter Vollzeitarbeit ein; alle anderen Erwerbsbeteiligten (in Teilzeit, Befristung, Selbständigkeit, inklusive Arbeitslose oder Teilnehmer in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen) gehören somit der Kategorie „atypisch“ an (vgl. ausführlich dazu und im internationalen Vergleich Schmid/ Protsch 2009).

Literatur

Schmid, G. 2008a: Full Employment in Europe – Managing Labour Market Transitions and Risks, Cheltenham, UK and Northampton, MA, USA, Edward Elgar.

Schmid, G. 2008b: Von der Arbeitslosen-zur Beschäftigungsversicherung, Bonn, Friedrich-Ebert-Stiftung, http://library.fes.de/pdf-files/wiso/05295.pdf.

Schmid, G. und Protsch P. 2009: Wandel der Erwerbsformen in Deutschland und Europa, Discussion Paper SP I 2009-505, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, www.wzb.eu/bal/aam/discussion_papers.de.htm.

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